Literaturfest WortWärts 2014: Preisträger des 26. Literaturpreises der Nürnberger Kulturläden
Am 28. Mai 2014 wurde im Kulturladen Röthenbach zum 26. Mal der Literaturpreis der Nürnberger Kulturläden verliehen. Zwei der vier PreisträgerInnen, der 22-jährige Nürnberger Lukas Spranger (1. Platz) und die 21-jährige Erlangerin Katharina Robitzkat (3. Platz), haben ihre prämierten Texte vergangenen Sonntag auf der WortWärts-Lesebühne vorgestellt. Robitzkats Text handelt von der eigenwilligen Erlebniswelt eines Mitarbeiters in der Pathologie, Sprangers Geschichte vom Wiedertreffen zweier Schulfreunde an ihrer alten Schule und dem Nachspüren der mit den Jahren vergangenen und verlorenen Träume. Im aktuellen Jubiläumsband der Zeitschrift für Literatur in Franken Wortlaut sind ihre Gewinnertexte veröffentlicht. Das Literaturportal Bayern präsentiert daraus Auszüge. Mit freundlicher Genehmigung der AutorInnen und Veranstalter.
*
Lukas Spranger: In Zeiten des selbstkühlenden Biers oder Thermodynamik (Auszug)
Es war eine beschissene Idee, sich vor unsere alte Schule zu setzen. Nicht nur, weil in der Vergangenheit zu stochern leicht Wunden aufreißt, die man erfolgreich verdrängt hatte, sondern vor allem weil es Dezember ist. Der Asphaltplatz, an dessen Rand wir auf einem verwaisten Blumenbeet sitzen, ist in schneelose, trockene Kälte getaucht. Die Luft brennt beim Atmen und entweicht unseren Körpern als weißer Dampf. Die Haut an meinen Fingerknöcheln spannt, reißt auf. Blut sammelt sich in den Hautrissen und trocknet an der kalten Luft. Es war wirklich eine beschissene Idee. Doch jetzt sind wir schon mal da. Also versuchen wir, das Beste daraus zu machen.
Wenigstens bleibt das Bier länger kühl, sagst du.
Das hast du früher schon einmal gesagt. In dem Winter, als wir sechzehn waren. Erschreckend kurz ist das her. Wir schlenderten an der Saale entlang und betranken uns sinnlos. Und du sagtest diesen Satz. Wenigstens bleibt das Bier länger kühl. Wir lachten. Doch wir wussten damals schon, dass du wenigstens gesagt, aber trotzdem gedacht hattest. Trotzdem. Trotz alledem. Trotz alledem bleibt das Bier länger kühl.
Ich öffne die Flasche mit dem Feuerzeug, lasse den Kronkorken auf den Schulhof fallen und sage, das hast du früher schon einmal gesagt.
Du nickst. Dein Blick schweift über die Stadt, die als graue Pfütze unter uns liegt. Paris ist vom Eiffelturm aus gesehen ein weißer Ozean bis zum Horizont. Unsere Stadt würde es nicht einmal durch die Kläranlage schaffen.
Vermisst du das manchmal, fragst du. Vermisst du das, wenn du in Heidelberg bist?
Du nimmst mir das Feuerzeug aus der Hand. Ich sage nichts und du scheinst keine Antwort zu erwarten. Du hebelst dein Bier auf. Der Kronkorken fliegt ein paar Meter durch die Luft. Das konntest schon immer am besten.
Ich trinke einen Schluck Bier. Dort, wo meine Hände die Bierflasche berühren, tauschen sich die Kälte des Glases und meine Körperwärme aus. Thermodynamisches Gleichgewicht. Das Bier hat die optimale Trinktemperatur. Ich lasse es einen Augenblick im Mund. Es wird wärmer. Der Geschmack entfaltet sich nach etwa zwei, drei Sekunden vollständig. Bier brauen können die hier, denke ich. Früher war uns das egal. Wir kauften einfach jeder zehn Billigbiere beim Discounter. Dann lungerten wir bei irgendwem rum oder saßen im Park und tranken sie lauwarm. Dabei sprachen wir von Kunst und Computerspielen, Lohnarbeit & Kapital, Kafka und Bukowski. Wir rauchten Wasserpfeife. Literweise schütteten wir Glycerin auf den Tabak, weil dann der Rauch dichter wurde und wir das unglaublich cool fanden. Wir pusteten den Rauch manchmal durch einen Seifenblasenring und schauten angetrunken selig lächelnd den wabernden grauen Sphären zu. Wenn man sie platzen lies, hing einen Moment noch eine Rauchkugel in der Luft. Dann zogen die Luftströme in in allen Richtungen an ihr und rissen sie auseinander. Du sagtest mir kürzlich in Skype, dieses Bild habe sich in dein Gehirn gebrannt wie kein zweites. Diese rauchige Metapher, von der es vielleicht noch irgendwo Fotos und Videos in fürchterlicher Qualität, von Handykameras gefilmt, gebe, sei so sinnbildlich für unsere Beziehung. Wir, ein eingeschworener Freundeskreis, der auf Partys die tanzende Masse verachtete und, an der Bar sich betrinkend, über eigene Gedichte und die Absurdität des Seins diskutierte. Und dann mit einem Mal zählte das alles nicht mehr und wir verteilten uns in alle Richtungen, als folgten auch wir stumpfsinnig den Gesetzen der Thermodynamik.
Ja. Manchmal vermisse ich das.
Eigentlich, sagst du und setzt dein Bier noch einmal am Mund an. Eigentlich sei es die schönste Zeit in deinem Leben gewesen.
Trotz allem, vervollständige ich in Gedanken deinen Satz. Du hältst mir eine Zigarettenschachtel hin. Ich greife rein und fingere eine Zigarette heraus. Du gibst mir Feuer, während ich mit meiner Atemluft an der Zigarette ziehe. Der Rauch ist erst dünn und schwach, dann wird er dichter, wird überhaupt erst etwas, das man als Rauch bezeichnen könnte. Ich sauge lange und stark an der Zigarette. Die Glut knistert leise. Ich behalte den Rauch in mir, bis er in meine Gliedmaßen gezogen ist, und stoße ihn wieder aus. Der Wind weht ihn fort, zerpflückt ihn. Und dann ist er schon in alle Richtungen verteilt wie ein paar Abiturienten nach dem Schulabschluss.
Wir zogen alle weg. Was sollte man in der grauen Pfütze auch tun? Wir wollten studieren. Irgendwo. Irgendwas. Wir drifteten auseinander wie Billiardkugeln, nach dem ersten Stoß und verschwanden alle in unserer eigenen Versenkung. Hin und wieder eine Nachricht auf Facebook. Wir gaben einander Musiktipps oder wiesen uns auf neue Filme hin. Jan erzählte so viele Frauengeschichten, dass er mit allen Studentinnen in Dresden geschlafen haben musste. Malte schrieb, er arbeite an einer Kurzprosasammlung mit dem Titel Kotzen ist auch eine Form der Revolte.
Gelegentlich verabreden wir uns in Skype zu flüchtigen Gesprächen. Wir sitzen unserer Webcam gegenüber. Jeder für sich. Der eine erzählt eine stumpfe Geschichte wie etwa: Weißt du noch, als wir von der Kneipe zurück zu dir nach Hause gingen, wo mein Auto stand? Und im Auto tranken wir weiter und hörten Dubstep, bis deine Nachbarn wach wurden. Und noch während er spricht, sieht er an einer Veränderung des Lichts auf dem Gesicht des Anderen, wie dieser zum Internetbrowser umblendet und auf irgendwelchen Seiten im Internet surft, milde lächelnd. Aber natürlich sagt man nichts. Man tut ja das Gleiche, wenn man fertig ist und der Andere seine Redezeit bekommt. Jeder spricht für sich. [...]
Katharina Robitzkat: Was bleibt (Auszug)
Guten Morgen allerseits, gut geschlafen? Sie schüttelten weder die Köpfe noch murmelten sie ein ja. Sie lagen still, wie immer. Gordon Mayer nickte trotzdem in die Runde.
Theo in Reihe zwei hatte sich vor dem Schlafengehen nicht richtig zugedeckt. Junge, deine Füße luken heraus! Behutsam, um Theo nicht aufzuwecken, hob Gordon die Decke an und wickelte sie um seine Füße. Theo war ein Morgenmuffel. Bei dem eklig kalten Novemberwetter kein Wunder. Gordon hustete. Wie kalt war es hier im Saal? Zehn Grad? Fünf? Seine Augen wanderten zu Berta, die es sich auf Theos linker Seite gemütlich gemacht hatte. Er deckte sie auf. Puh, dieser beißende Geruch. Sie sind fantastisch, aber sie riechen streng! Normalerweise nahm er den Geruch kaum wahr, seine Nase war oft verstopft, doch heute öffnete sie ihre Poren und sog die Welt um sich herum ein.
Berta. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er mochte sie alle, aber mit ihr verband ihn etwas Besonderes. Sie erinnerte ihn an jemanden, den er vor langer Zeit einmal gekannt hatte, aber der mit jedem Tag ein Stückchen mehr aus seinem Gedächtnis verschwand. Er ergriff ihre Hand und ließ seine Finger über ihren Handrücken gleiten. So rau, vom Alter runzlig geworden. Ihre Augen blickten ihn an. Blau waren sie, blau wie seine Lieblingshustenbonbons und blau wie die Ozeane. Ozeane, Urlaub. Wann Berta wohl zuletzt verreist war? Gordon strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Er zuckte zusammen. Nicht die kleinste Röte auf den Wangen, das kann nicht gesund sein. Wenn ich in die Berge fahre, werde ich dich mitnehmen. Die Luft dort wirkt Wunder. Behutsam deckte er sie wieder zu, passte auf, dass die Decke keine Falten warf. Eine Weile lang betrachtete er den Umriss ihres Körpers, die Hubbel, die sich dort hervor wölbten, wo sich ihre schmalen Arme und Beine befanden.
Irgendwann riss er sich los. Heute war jemand anderes an der Reihe. Ein Neuzugang. Im Raum war es dämmrig. Er könnte Licht anmachen, damit er besser sah, aber das war nicht nötig. Mit meinen Händen begriff er Dinge, die seinen Augen verborgen blieben. Wer bist du? Er griff nach der Mappe, die neben Theos und Bertas neuer Zimmerkameradin auf einem Beistelltischchen lag. Franny Hanssen, 37, Bürokauffrau, zwei Kinder. Eifersuchtsdrama?
Guten Tag, gestatten Sie, dass ich mich vorstelle? Gordon Mayer. Keine Angst, ich werde sie nur untersuchen, es tut nicht weh. Er blätterte in der Mappe und hielt bei einem Foto inne, das eine lachende Frau mit Sommersprossen zeigte. Sie sind ein Sonnenschein, das gefällt mir. Wissen Sie, die meisten Leute gehen durchs Leben ohne zu lachen. Ich tue es auch nicht häufig, aber ich habe es nicht verlernt. Sehen Sie...
Er lachte, auch wenn er sich anstrengen musste. Dann befreite er ihren Kopf, um zu sehen, wie sie reagierte. Frannys Mundwinkel wanderten nach oben. Na also, Lachen ist ansteckend. Gordons Blick wanderte zurück zum Foto und Frannys Strahlen sendete ein wohliges Kribbeln durch seinen Körper. Wann hatte er diese Wärme zuletzt verspürt? Sie war so anders als die Kälte, die hier im Saal herrschte. Denk nach, denk nach...
Er kniff die Augen zusammen. Nichts. Nur Leere. Er gab auf. Was war das? Er beugte sich über Franny. Mit meinen Händen begreife ich Dinge, die meinen Augen verborgen bleiben. Er schloss sie. Auch die Brille mit den dicken Gläsern half nicht viel. Dafür waren seine Augen im Laufe der Jahre zu müde geworden, hatten zu viel gesehen, das sie nicht hatten sehen wollen. Seine Hände dagegen lüfteten jedes Geheimnis und etwas stimmte mit Frannys Lächeln nicht. Er fuhr ihre Brauen mit dem Ringfinger nach. Der Gummi des Handschuhs lag eng an, er verschmolz mit seiner Hand. Hand auf Haut. Hand auf feinen Härchen. Frannys Augenbrauen waren buschig und stellten sich auf, wenn er in der Gegenrichtung über sie strich. Dann wanderte sein Finger ihre Wange hinab zu ihren Lippen. Schöne volle Lippen sind das, Franny. Du hast den Jungs auf dem Schulhof früher ordentlich den Kopf verdreht. Sie sind rissig, probier mal diese Norweger-Créme aus.
Ihre Mundwinkel. Zeigten sie wirklich nach oben? Er drang in die Furchen, folgte ihrem Verlauf. Etwas stimmte nicht. Sie verzerrten sich, verwandelten Fröhlichkeit in Schmerz. Er zuckte zurück. Franny lachte nicht. Man spürte es, wenn man die Fassade niederriss. Man hat dir dein Lachen genommen. Seine Hände näherten sich abermals, suchten in ihrem Gesicht nach etwas, das echt war. Nicht wir selbst bleiben zu dürfen...
Erst jetzt nahm er die Stiche in ihrem Brustkorb wahr. Eifersuchtsdrama. Aber er hatte die Wunden nicht sehen wollen, nicht als Erstes zumindest. Das Leben bringt uns Jahre voller Hass, aber auch Liebe und Humor. Ich kann das nicht. Die Menschen, die so viel erlebt haben, auf das Schlechte zu reduzieren, das ihnen widerfahren ist. Seufzend zählte und begutachtete er die Stiche. Es waren viele und sie waren tief. Zugestochen, um zu zerstören. Dieser Kerl wollte den Menschen, zu dem du dich entwickelt hast, mit all seiner Fröhlichkeit und seinen Macken, verschwinden lassen. Aber er hat es nicht geschafft. Jetzt lebst du bei mir. In Sicherheit. Du wirst dich bald eingewöhnen. Er kritzelte einige Notizen in seinen Bericht und klappte die Mappe zu. Dann ließ er sich auf einen Hocker sinken.
Drip, drop... Regentropfen klatschten gegen die Fensterscheibe und zerflossen in breiten Schlieren auf dem Glas. Regentropfen sein, das wär‘s. Drip, drop. Wohin, woher, keiner weiß es. Sie lassen sich einfach treiben. Drip drop. Er deckte Franny zu. [...]
Erschienen in: Wortlaut 20. Zeitschrift für Literatur in Franken, Jubiläumsausgabe 2014, ca. 137 Seiten, 4,00 €
Literaturfest WortWärts 2014: Preisträger des 26. Literaturpreises der Nürnberger Kulturläden>
Am 28. Mai 2014 wurde im Kulturladen Röthenbach zum 26. Mal der Literaturpreis der Nürnberger Kulturläden verliehen. Zwei der vier PreisträgerInnen, der 22-jährige Nürnberger Lukas Spranger (1. Platz) und die 21-jährige Erlangerin Katharina Robitzkat (3. Platz), haben ihre prämierten Texte vergangenen Sonntag auf der WortWärts-Lesebühne vorgestellt. Robitzkats Text handelt von der eigenwilligen Erlebniswelt eines Mitarbeiters in der Pathologie, Sprangers Geschichte vom Wiedertreffen zweier Schulfreunde an ihrer alten Schule und dem Nachspüren der mit den Jahren vergangenen und verlorenen Träume. Im aktuellen Jubiläumsband der Zeitschrift für Literatur in Franken Wortlaut sind ihre Gewinnertexte veröffentlicht. Das Literaturportal Bayern präsentiert daraus Auszüge. Mit freundlicher Genehmigung der AutorInnen und Veranstalter.
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Lukas Spranger: In Zeiten des selbstkühlenden Biers oder Thermodynamik (Auszug)
Es war eine beschissene Idee, sich vor unsere alte Schule zu setzen. Nicht nur, weil in der Vergangenheit zu stochern leicht Wunden aufreißt, die man erfolgreich verdrängt hatte, sondern vor allem weil es Dezember ist. Der Asphaltplatz, an dessen Rand wir auf einem verwaisten Blumenbeet sitzen, ist in schneelose, trockene Kälte getaucht. Die Luft brennt beim Atmen und entweicht unseren Körpern als weißer Dampf. Die Haut an meinen Fingerknöcheln spannt, reißt auf. Blut sammelt sich in den Hautrissen und trocknet an der kalten Luft. Es war wirklich eine beschissene Idee. Doch jetzt sind wir schon mal da. Also versuchen wir, das Beste daraus zu machen.
Wenigstens bleibt das Bier länger kühl, sagst du.
Das hast du früher schon einmal gesagt. In dem Winter, als wir sechzehn waren. Erschreckend kurz ist das her. Wir schlenderten an der Saale entlang und betranken uns sinnlos. Und du sagtest diesen Satz. Wenigstens bleibt das Bier länger kühl. Wir lachten. Doch wir wussten damals schon, dass du wenigstens gesagt, aber trotzdem gedacht hattest. Trotzdem. Trotz alledem. Trotz alledem bleibt das Bier länger kühl.
Ich öffne die Flasche mit dem Feuerzeug, lasse den Kronkorken auf den Schulhof fallen und sage, das hast du früher schon einmal gesagt.
Du nickst. Dein Blick schweift über die Stadt, die als graue Pfütze unter uns liegt. Paris ist vom Eiffelturm aus gesehen ein weißer Ozean bis zum Horizont. Unsere Stadt würde es nicht einmal durch die Kläranlage schaffen.
Vermisst du das manchmal, fragst du. Vermisst du das, wenn du in Heidelberg bist?
Du nimmst mir das Feuerzeug aus der Hand. Ich sage nichts und du scheinst keine Antwort zu erwarten. Du hebelst dein Bier auf. Der Kronkorken fliegt ein paar Meter durch die Luft. Das konntest schon immer am besten.
Ich trinke einen Schluck Bier. Dort, wo meine Hände die Bierflasche berühren, tauschen sich die Kälte des Glases und meine Körperwärme aus. Thermodynamisches Gleichgewicht. Das Bier hat die optimale Trinktemperatur. Ich lasse es einen Augenblick im Mund. Es wird wärmer. Der Geschmack entfaltet sich nach etwa zwei, drei Sekunden vollständig. Bier brauen können die hier, denke ich. Früher war uns das egal. Wir kauften einfach jeder zehn Billigbiere beim Discounter. Dann lungerten wir bei irgendwem rum oder saßen im Park und tranken sie lauwarm. Dabei sprachen wir von Kunst und Computerspielen, Lohnarbeit & Kapital, Kafka und Bukowski. Wir rauchten Wasserpfeife. Literweise schütteten wir Glycerin auf den Tabak, weil dann der Rauch dichter wurde und wir das unglaublich cool fanden. Wir pusteten den Rauch manchmal durch einen Seifenblasenring und schauten angetrunken selig lächelnd den wabernden grauen Sphären zu. Wenn man sie platzen lies, hing einen Moment noch eine Rauchkugel in der Luft. Dann zogen die Luftströme in in allen Richtungen an ihr und rissen sie auseinander. Du sagtest mir kürzlich in Skype, dieses Bild habe sich in dein Gehirn gebrannt wie kein zweites. Diese rauchige Metapher, von der es vielleicht noch irgendwo Fotos und Videos in fürchterlicher Qualität, von Handykameras gefilmt, gebe, sei so sinnbildlich für unsere Beziehung. Wir, ein eingeschworener Freundeskreis, der auf Partys die tanzende Masse verachtete und, an der Bar sich betrinkend, über eigene Gedichte und die Absurdität des Seins diskutierte. Und dann mit einem Mal zählte das alles nicht mehr und wir verteilten uns in alle Richtungen, als folgten auch wir stumpfsinnig den Gesetzen der Thermodynamik.
Ja. Manchmal vermisse ich das.
Eigentlich, sagst du und setzt dein Bier noch einmal am Mund an. Eigentlich sei es die schönste Zeit in deinem Leben gewesen.
Trotz allem, vervollständige ich in Gedanken deinen Satz. Du hältst mir eine Zigarettenschachtel hin. Ich greife rein und fingere eine Zigarette heraus. Du gibst mir Feuer, während ich mit meiner Atemluft an der Zigarette ziehe. Der Rauch ist erst dünn und schwach, dann wird er dichter, wird überhaupt erst etwas, das man als Rauch bezeichnen könnte. Ich sauge lange und stark an der Zigarette. Die Glut knistert leise. Ich behalte den Rauch in mir, bis er in meine Gliedmaßen gezogen ist, und stoße ihn wieder aus. Der Wind weht ihn fort, zerpflückt ihn. Und dann ist er schon in alle Richtungen verteilt wie ein paar Abiturienten nach dem Schulabschluss.
Wir zogen alle weg. Was sollte man in der grauen Pfütze auch tun? Wir wollten studieren. Irgendwo. Irgendwas. Wir drifteten auseinander wie Billiardkugeln, nach dem ersten Stoß und verschwanden alle in unserer eigenen Versenkung. Hin und wieder eine Nachricht auf Facebook. Wir gaben einander Musiktipps oder wiesen uns auf neue Filme hin. Jan erzählte so viele Frauengeschichten, dass er mit allen Studentinnen in Dresden geschlafen haben musste. Malte schrieb, er arbeite an einer Kurzprosasammlung mit dem Titel Kotzen ist auch eine Form der Revolte.
Gelegentlich verabreden wir uns in Skype zu flüchtigen Gesprächen. Wir sitzen unserer Webcam gegenüber. Jeder für sich. Der eine erzählt eine stumpfe Geschichte wie etwa: Weißt du noch, als wir von der Kneipe zurück zu dir nach Hause gingen, wo mein Auto stand? Und im Auto tranken wir weiter und hörten Dubstep, bis deine Nachbarn wach wurden. Und noch während er spricht, sieht er an einer Veränderung des Lichts auf dem Gesicht des Anderen, wie dieser zum Internetbrowser umblendet und auf irgendwelchen Seiten im Internet surft, milde lächelnd. Aber natürlich sagt man nichts. Man tut ja das Gleiche, wenn man fertig ist und der Andere seine Redezeit bekommt. Jeder spricht für sich. [...]
Katharina Robitzkat: Was bleibt (Auszug)
Guten Morgen allerseits, gut geschlafen? Sie schüttelten weder die Köpfe noch murmelten sie ein ja. Sie lagen still, wie immer. Gordon Mayer nickte trotzdem in die Runde.
Theo in Reihe zwei hatte sich vor dem Schlafengehen nicht richtig zugedeckt. Junge, deine Füße luken heraus! Behutsam, um Theo nicht aufzuwecken, hob Gordon die Decke an und wickelte sie um seine Füße. Theo war ein Morgenmuffel. Bei dem eklig kalten Novemberwetter kein Wunder. Gordon hustete. Wie kalt war es hier im Saal? Zehn Grad? Fünf? Seine Augen wanderten zu Berta, die es sich auf Theos linker Seite gemütlich gemacht hatte. Er deckte sie auf. Puh, dieser beißende Geruch. Sie sind fantastisch, aber sie riechen streng! Normalerweise nahm er den Geruch kaum wahr, seine Nase war oft verstopft, doch heute öffnete sie ihre Poren und sog die Welt um sich herum ein.
Berta. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er mochte sie alle, aber mit ihr verband ihn etwas Besonderes. Sie erinnerte ihn an jemanden, den er vor langer Zeit einmal gekannt hatte, aber der mit jedem Tag ein Stückchen mehr aus seinem Gedächtnis verschwand. Er ergriff ihre Hand und ließ seine Finger über ihren Handrücken gleiten. So rau, vom Alter runzlig geworden. Ihre Augen blickten ihn an. Blau waren sie, blau wie seine Lieblingshustenbonbons und blau wie die Ozeane. Ozeane, Urlaub. Wann Berta wohl zuletzt verreist war? Gordon strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Er zuckte zusammen. Nicht die kleinste Röte auf den Wangen, das kann nicht gesund sein. Wenn ich in die Berge fahre, werde ich dich mitnehmen. Die Luft dort wirkt Wunder. Behutsam deckte er sie wieder zu, passte auf, dass die Decke keine Falten warf. Eine Weile lang betrachtete er den Umriss ihres Körpers, die Hubbel, die sich dort hervor wölbten, wo sich ihre schmalen Arme und Beine befanden.
Irgendwann riss er sich los. Heute war jemand anderes an der Reihe. Ein Neuzugang. Im Raum war es dämmrig. Er könnte Licht anmachen, damit er besser sah, aber das war nicht nötig. Mit meinen Händen begriff er Dinge, die seinen Augen verborgen blieben. Wer bist du? Er griff nach der Mappe, die neben Theos und Bertas neuer Zimmerkameradin auf einem Beistelltischchen lag. Franny Hanssen, 37, Bürokauffrau, zwei Kinder. Eifersuchtsdrama?
Guten Tag, gestatten Sie, dass ich mich vorstelle? Gordon Mayer. Keine Angst, ich werde sie nur untersuchen, es tut nicht weh. Er blätterte in der Mappe und hielt bei einem Foto inne, das eine lachende Frau mit Sommersprossen zeigte. Sie sind ein Sonnenschein, das gefällt mir. Wissen Sie, die meisten Leute gehen durchs Leben ohne zu lachen. Ich tue es auch nicht häufig, aber ich habe es nicht verlernt. Sehen Sie...
Er lachte, auch wenn er sich anstrengen musste. Dann befreite er ihren Kopf, um zu sehen, wie sie reagierte. Frannys Mundwinkel wanderten nach oben. Na also, Lachen ist ansteckend. Gordons Blick wanderte zurück zum Foto und Frannys Strahlen sendete ein wohliges Kribbeln durch seinen Körper. Wann hatte er diese Wärme zuletzt verspürt? Sie war so anders als die Kälte, die hier im Saal herrschte. Denk nach, denk nach...
Er kniff die Augen zusammen. Nichts. Nur Leere. Er gab auf. Was war das? Er beugte sich über Franny. Mit meinen Händen begreife ich Dinge, die meinen Augen verborgen bleiben. Er schloss sie. Auch die Brille mit den dicken Gläsern half nicht viel. Dafür waren seine Augen im Laufe der Jahre zu müde geworden, hatten zu viel gesehen, das sie nicht hatten sehen wollen. Seine Hände dagegen lüfteten jedes Geheimnis und etwas stimmte mit Frannys Lächeln nicht. Er fuhr ihre Brauen mit dem Ringfinger nach. Der Gummi des Handschuhs lag eng an, er verschmolz mit seiner Hand. Hand auf Haut. Hand auf feinen Härchen. Frannys Augenbrauen waren buschig und stellten sich auf, wenn er in der Gegenrichtung über sie strich. Dann wanderte sein Finger ihre Wange hinab zu ihren Lippen. Schöne volle Lippen sind das, Franny. Du hast den Jungs auf dem Schulhof früher ordentlich den Kopf verdreht. Sie sind rissig, probier mal diese Norweger-Créme aus.
Ihre Mundwinkel. Zeigten sie wirklich nach oben? Er drang in die Furchen, folgte ihrem Verlauf. Etwas stimmte nicht. Sie verzerrten sich, verwandelten Fröhlichkeit in Schmerz. Er zuckte zurück. Franny lachte nicht. Man spürte es, wenn man die Fassade niederriss. Man hat dir dein Lachen genommen. Seine Hände näherten sich abermals, suchten in ihrem Gesicht nach etwas, das echt war. Nicht wir selbst bleiben zu dürfen...
Erst jetzt nahm er die Stiche in ihrem Brustkorb wahr. Eifersuchtsdrama. Aber er hatte die Wunden nicht sehen wollen, nicht als Erstes zumindest. Das Leben bringt uns Jahre voller Hass, aber auch Liebe und Humor. Ich kann das nicht. Die Menschen, die so viel erlebt haben, auf das Schlechte zu reduzieren, das ihnen widerfahren ist. Seufzend zählte und begutachtete er die Stiche. Es waren viele und sie waren tief. Zugestochen, um zu zerstören. Dieser Kerl wollte den Menschen, zu dem du dich entwickelt hast, mit all seiner Fröhlichkeit und seinen Macken, verschwinden lassen. Aber er hat es nicht geschafft. Jetzt lebst du bei mir. In Sicherheit. Du wirst dich bald eingewöhnen. Er kritzelte einige Notizen in seinen Bericht und klappte die Mappe zu. Dann ließ er sich auf einen Hocker sinken.
Drip, drop... Regentropfen klatschten gegen die Fensterscheibe und zerflossen in breiten Schlieren auf dem Glas. Regentropfen sein, das wär‘s. Drip, drop. Wohin, woher, keiner weiß es. Sie lassen sich einfach treiben. Drip drop. Er deckte Franny zu. [...]
Erschienen in: Wortlaut 20. Zeitschrift für Literatur in Franken, Jubiläumsausgabe 2014, ca. 137 Seiten, 4,00 €