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09.06.2010, 12:31 Uhr
Peter Czoik
Text & Debatte

Rainer Werner Fassbinder als Dramatiker [2]: Neues Volksstück

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Rainer Werner Fassbinder bei einer Talkshow 1975 (Bayerische Staatsbibliothek/Timpe)

Als Vorbild für Fassbinders Stücke wird immer wieder die Volkstheatertradition herangezogen, nicht zuletzt wegen seines sozialen Realismus'. Dabei überwiegt jedoch die Unsicherheit, Fassbinder mit dem Begriff des „Volksstücks“ in Verbindung zu bringen.

Tatsache ist, dass er die Dramen Marieluise Fleißers rezipierte und ihr Volksstück Pioniere in Ingolstadt „in einem Akt der schlitzohrigen Aneignung“ (Carl-Ludwig Reichert) unter dem neuen Titel Zum Beispiel Ingolstadt 1968 aufführte. „Ich hätte nicht zu schreiben angefangen, wenn ich nicht die Pioniere gesehen hätte“, bekannte er drei Jahre später. Umgekehrt hat Fleißer einmal Fassbinder neben Martin Sperr und Franz Xaver Kroetz als einen ihrer „Söhne“ bezeichnet, wobei Fassbinder schneller als die anderen zum „Sorgenkind“ ‚avancierte‘.

 

Von Katzelmacher bis Wildwechsel

Während der Einfluss von Horváth und Fleißer bei Kroetz und Sperr spürbar ist, dienen die gattungstypischen Merkmale des Volksstücks Fassbinder nur als Collage-Partikel. Zwar verwendet er wie Fleißer eine Mischsprache aus bayerischem Dialekt und Hochsprache, um Leere und Formelhaftigkeit der Redeweisen seiner Personen und die damit verbundene Unfähigkeit zur Kommunikation zu demonstrieren. Auch behält Fassbinder die Rahmenhandlung aus den Pionieren bei: den Eintritt eines Fremden in die verkrustete Struktur einer Gemeinschaft und seine Folgen, zum Beispiel in Katzelmacher. Allein seine Darstellungsweise unterscheidet sich in einem Punkt deutlich von den anderen Stücken dieser Gattung:

während darin die Unruhestifter entweder beseitigt werden – der Homosexuelle Abram wird in Sperrs Jagdszenen aus Niederbayern verhaftet, das Baby, Störenfried in Kroetz' Heimarbeit, wird ermordet – oder zumindest aus den Augen geschafft werden [...] ergeben sich am Ende von Katzelmacher Anzeichen für eine Integration des Außenseiters Jorgos in die Dorfgemeinschaft.[1]

Der griechische Gastarbeiter ist dabei keineswegs bloßes Opfer. Sobald Jorgos auch nur ein wenig Deutsch sprechen kann, adaptiert er die sprachlichen Klischees der Dorfjugend und meint bezüglich des neuen aus der Türkei kommenden Arbeitskollegen noch: „Turkisch nix [gut]. Jorgos und Turkisch nix zusammenarbeit. Jorgos gehen andere Stadt.“ Dadurch zeigt er sich genauso rassistisch und chauvinistisch wie die übrigen Dorfbewohner. 

Überhaupt verfährt Fassbinder in seiner Darstellung von Unterdrückern und Unterdrückten niemals so, als ob es eine natürliche Solidarität mit den Unterdrückten gäbe, was ihm im Falle der in Frankfurt spielenden Szenenfolge Der Müll, die Stadt und der Tod (1976) heftige Kritik und den Vorwurf eines „linken Antisemitismus“ einbrachte. Er selbst verwahrte sich dagegen mit der Bemerkung, dass gerade in der Spiegelung des Verhaltens des Unterdrückten – „oder wie er lernt, sich dem Unterdrücker gegenüber zu behaupten“ – über das gesellschaftliche Verhalten einer Majorität mehr ausgesagt werden kann, als durch simple Sympathie mit einem einzelnen Außenseiter.

Im Zusammenhang mit dem neuen Volksstück seien noch die Stücke Bremer Freiheit und Blut am Hals der Katze (1971) erwähnt. Während sich Katzelmacher aufgrund einiger Hauptkriterien als solches zu erkennen gibt – niedere Herkunft der Figuren, geringer Bildungsstand, Sprachunfähigkeit etc. –, ist es bei diesen Stücken vordergründiger. Was sie volksstückhaft macht, ist das Problem der Sprache bzw. Sprachlosigkeit sowie die Repräsentation des Volkes im Sinne Horváths in und durch die Sprache. Häufig fällt auch die 1969 aufgeführte „Groteske“ Anarchie in Bayern unter dieses Raster, wobei die Thematisierung Bayerns – die fast kabarettistische Vorstellung einer gelungenen Räterevolution – besonders im Fokus der Handlung steht.

Die filmische Adaption von Kroetz' Volksstück Wildwechsel (1972) wiederum ist eine Rückkehr zur Welt von Katzelmacher und der darin vorkommenden Geschichte von Menschen, die unfähig sind, ihre Gefühle auch nur ansatzweise zu artikulieren und sie statt dessen unter hohlen Phrasen bzw. hinter Gewalttätigkeit begraben. Da Fassbinder sehr autonom mit der Vorlage umging, indem er die unterschwellige und offene Sexualität nach außen kehrte, sind die soziologischen und mitunter sentimentalen Züge des Stücks über die Enge eines Milieus und die Heuchelei einer Gemeinschaft scheinbar aufgehoben. Aus dem süßen Mädchen Hanni wird eine femme fatale im Stile einer Barbara Stanwyck.[2]

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[1] Bügner, Torsten (1986): Annäherungen an die Wirklichkeit. Gattung und Autoren des neuen Volksstücks. Frankfurt/M., S. 119.

[2] Kroetz war über die Verfilmung bekanntlich wenig angetan. Sein Protest richtete sich gegen die „klischeehafte Denunziation“ und „pornographische Travestie“ seines Stücks (Münchener Abendzeitung vom 8. März 1973), gegen die er eine einstweilige Verfügung erwirkte. Kurioserweise revidierte er seine Meinung 1984 in einem Interview mit „Der Film hat eindeutige Qualitäten“, wohingegen Fassbinder seinen Wildwechsel in die Rubrik der ekelhaftesten Filme einreihte.