[Kroatien-Austausch]: Begegnung mit Werner Fritsch
Werner Fritsch lernte ich während der ersten bayrisch-kroatischen Literaturbegegnungen im Literaturhaus in München kennen. Jedem kroatischen Autor wurde ein deutscher Partner zugeteilt, und meine Übersetzerin kündigte mir an, dass Werner und ich wahrscheinlich das passendste Paar unter all diesen Kombinationen sein würden. „Auch ihn kann man nirgends zuordnen“, sagte sie. Sie meinte damit den Stil.
Einerseits war dieser Kommentar das größte Kompliment, dass man überhaupt einem Autor machen kann, denn der Autor, den man nirgendwo zuordnen kann, ist ein Schriftsteller, der sich außerhalb der erkennbaren stilistischen Modelle bewegt und der an den Themen für die Massenempathie vorbei schreibt, ein Schriftsteller, der Risiken eingeht und nicht nach dem Konsens mit dem Markt sucht. Die Wochenzeitung Der Spiegel brachte einmal einen Kommentar, demzufolge Werner Fritsch der mutigste deutsche Autor sei, und als ich Werner bat, mir diese Bezeichnung zu erläutern und mir zu erklären, was seiner Meinung nach heute den Mut eines Dichters oder Künstlers ausmache, antworte er nach kurzem Schweigen:
„Herz zeigen.“
Unsere erste Begegnung bestand aus einem Gespräch über das Reisen. Künstler zu sein, setzt voraus, Nomade zu sein, nach stillen Plätzen und nach freier Zeit zu suchen, in der man sich dem Luxus des Schreibens überlassen kann, um sich selbst zu begegnen und dann Abstand zum eigenen Leben zu gewinnen, damit man darüber überhaupt etwas zum Ausdruck bringen kann. Ein Künstler zu sein, der mit seinem Stil nirgendwo hin gehört, schließt eine andere Art der Suche ein, jene nach der eigenen Beharrlichkeit und natürlich nach dem Publikum, das man nicht mit durchdachten Werbemaßnahmen gewinnt, sondern durch eine andere Art der Hinwendung. Menschen, mit denen es möglich ist, das Abenteuer zu teilen. An jenem Abend erzählte mir Werner von seinen Kollegen vom Free Theatre in Christchurch/Neuseeland, wo er genau solche Menschen entdeckt hatte, für die das Theater eine Mission ist. In den folgenden Jahren haben sie einige seiner Stücke inszeniert. Ich habe ihm von meiner damaligen Gruppe BAD co. erzählt, darüber, wie wir in der unmöglichen Nachkriegszeit in Kroatien die Verantwortung dafür übernehmen mussten, einen Kontext zu schaffen, innerhalb dessen wir arbeiten konnten, da keiner der bestehenden unseren Ansprüchen entsprach. Wir mussten uns unser eigenes Publikum erschaffen, es aus der Lethargie einer politisierten Kultur herausreißen, in der es nur Platz für Ideologen gab, und ihm zeigen, dass die Kunst immer noch die Kraft hatte, das Unmögliche zu tun und trotz der Zeit zu wirken. In unseren Geschichten lag eine gewisse Ähnlichkeit.
Ich erinnere mich also, dass wir über das Reisen gesprochen haben. Ich über Australien und Werner über Neuseeland. Schon damals bemerkte ich anhand der Auswahl, die Werner bei den Impressionen der südlichen Hemisphäre getroffen hatte, anhand der Art, wie er sie in Szenen umsetzte, sie in Perspektiven vertiefte und mit Farben füllte, ein spezifisches Verhältnis zu der Erfahrung, das den Menschen eigen ist, die jenseits der Sprache, in Bildern denken. Einige Jahre später, als ich sein Faust Sonnengesang sah und den unmöglichen Auftrag bekam, dieses dreistündige Filmpoem während der nächsten Begegnung, die in Zagreb stattfinden sollte, vorzustellen, begriff ich, dass ich nicht wusste, wie ich meinen Gesprächspartner ansprechen sollte; als Schriststeller oder als Regisseur. Außerdem bot Faust Sonnengesang sowohl auf inhaltlicher wie auch auf formaler Ebene einen interpretatorischen Abgrund, über den man stundenlang sprechen konnte.
Während ich mich auf das Gespräch über Werners Film vorbereitete, ließ ich mehrfach die DVD auf meinem Laptop laufen. Das Resultat war weit von dem entfernt, was ich erreichen wollte. Anstatt mit meinem hartnäckigen Sehen das Material zu erobern, das vor mir lag, es in ein analytisches Netz aus Motiven, Referenzen und formalen Verfahren einordnen, es in Schlussfolgerungen zusammenfassen zu können, verlängerte, vertiefte, weitete, öffnete und entzog sich mir der Film mit jedem erneuten Mal. Plötzlich sah ich etwas, was mir beim voran gegangenen Sehen nicht bewusst geworden war, ich hörte Musik, die ich zuvor nicht gehört hatte, ich verstand einen Vers, der mir bisher entgangen war, ich ordnete die Verhältnisse zwischen Bild und Text neu... Die Sequenzen zogen in völlig unvorhersehbarer Dramaturgie und den Interventionen des Regisseurs an mir vorbei; eine doppelte Exposition wechselte zu einer Totale, die furios-schnelle Montage verlangsamte sich plötzlich, der Kolorismus der Landschaft wurde zur Schwarz-Weiß-Aufnahme, die Perspektive konnte sich in jedem Moment wenden, genauso wie das Dokumentarmaterial sich in eine vom Regisseur geschaffene Szene verwandeln konnte. Text, Bild und Musik waren montiert bar jeder Garantie, dass die nächste Minute irgendeine narrative Kohärenz bestätigen würde. Das einzige, was sich mir als Durchlauf durch diese höllische Flut bot, bestand darin, die eigene Gewohnheit der Analyse aufzugeben und der Aussage des Autors zu vertrauen: DIE WELT DREHT SICH IM KALEIDOSKOP DIESES KOPFES.
Plötzlich wurde alles klar. Das Thema Reise kehrte wieder zurück, doch dieses Mal in einem monumentalen Sinn, als Reisen, das rückwärts gewandt ist, durch die Geschichte, durch Erinnerungen, durch jene Orte, die wir gesehen oder die wir nur geträumt haben, durch Gegenden, die sich uns in die Haut eingeprägt haben, als wären sie ein Teil von ihr, durch Horizonte, deren Grenzen den Raum unserer Welt markiert haben, durch Bilder ohne gemeinsamen Nenner, außer jenem, der uns die Lebenserfahrung bietet: Autobahnen, Flüsse, Abenddämmerungen, Theaterscheinwerfer, Vulkaneruptionen, die stille Erscheinung des Schnees auf der Oberfläche einer nackten Landschaft, Buchseiten, die im Feuer verschwinden... Die ultimative Reise durch das Universum des Bewusstseins hat in aller Konsequenz ihren rhizomartigen Charakter beschrieben, wobei sie sich einer symmetrischen Gliederung, formalen Beziehungen und jeder Übersichtlichkeit entzogen hat. Durch heterogene Verbindungen und das Wuchern der Zeichen wurde alles mit allem verbunden, die Zeit der Kindheit verschmolz mit der Zeit der Gegenwart, und die Gegenwart war bereits Geschichte, die von Gespenstern aufgesucht wird, in der Mythen und Rituale vorherrschen, die über die Nostalgie unwiderrufbarer Augenblicke verfügt sowie auch über die Bitterkeit derselben.
Ich kann mich nicht daran erinnern, Werner gefragt zu haben, ob er an Gott glaubt, doch diese Frage hatte ich in den Notizen für unser Gespräch aufgeschrieben. Ich konnte mich dem Gefühl nicht entziehen, dass der Film, der von den letzten Momenten des menschlichen Bewusstseins handelt, durch eine Art Heilserwartung motiviert worden sein musste, durch ein tiefes Vertrauen in die Kraft der Natur und der menschlichen Kontinuität, durch die Faszination von der Vielfalt der Welt, über die mit soviel Überzeugungskraft und soviel Leidenschaft kurz vor dem Tod nur jene reden können, die wahrhaftig an Gott glauben. Fausts der Sonne gewidmetes Gedicht wirkte wie eine Paraphrase des „Cantico del frate sole“ von Franz von Assisi, in dem die Liebe zum Leben in gleichem Maße sein Leiden und seine Schönheit feiert. In der Ankündigung des Films las ich, dass Werners Werk die Frage stellt: Was geschieht im Kopf eines Menschen, wenn er für immer die Augen schließt? Es scheint mir, dass die Antwort lauten könnte, dass auf dem Bildschirm hinter den Augenlidern erneut die Welt erschaffen wird, in all ihrer Unaussprechlichkeit.
Unsere Köpfe sind nicht imstande, die Welt zu deuten, schließt Werner in einem der Verse dieses Poems. Ich nehme diese Verse als Argument für die eigene Verteidigung.
Über Schönheit sprechen, wie auch über Liebe sprechen, ist eine Aufgabe, die über Worte hinausgeht. Genauso ist es eine Aufgabe, die die Kunst überflüssig machen kann, da sie regelmäßig erst dann auftaucht, wenn Schönheit und Liebe verbraucht sind, wenn ein Mangel entsteht und Leere klafft, die Raum für den Ausdruck hinterlassen. Angeregt genau durch diese Tatsache bat ich Werner, mir den Schlüssel zu seinem Film zu erklären, und ich deutete an, dass sich dieser in jenem Ausschnitt finden lassen könnte, den wir dem Publikum in Zagreb gezeigt hatten, dem Teil unter dem Namen „Alles brennt“, in dem die Stimme von Mephisto die Welt mit aller Gründlichkeit vernichtet und seine Arbeit mit der Aussage abschließt, in der metaphorisch auch das Feuer seine eigene Flamme entzündet: „Die Zunge, die das jetzt ausspricht, brennt“. Werner widersprach meinem Vorschlag und erklärte, dass der Teil des Films, den wir gesehen hatten, eigentlich sein Kontrapunkt sei, eben jene Vernichtung, der er sich widersetzen wolle, eben jene Bilder, die er durch die Szenen der Schönheit und der Schöpfung zu zerstören beabsichtige. Einen kurzen Moment lang wollte ich ihn provozieren, und zwar mit dem Kommentar, dass die Szenen der Schönheit sich gefährlich nahe am Rande des Kitsches, der Religiosität oder aber des einfachen Vergnügens am Anblick der Anmut des Sonnenuntergangs bewegten, aber dann – bewegt durch etwas im Ton seiner Antwort – wurde mir bewusst, dass über Schönheit zu sprechen ein viel größeres Risiko darstellt und viel mehr künstlerischen und menschlichen Mut verlangt, als über verschiedene Schrecken zu sprechen. Ich verstand vielmehr, dass die Tragödie ein Allgemeinplatz unserer Vision der Kunst ist, vielleicht deshalb – und es handelt sich um einen einfachen Grund -, weil wir nicht genügend Stil haben, um eine Art zu finden, etwas Gegenteiliges zum Ausdruck zu bringen. Diese Schlussfolgerung bestätigte Werners Intention.
Werner Fritsch hat das Drama Faust Croma über Gustav Gründgens geschrieben, einem Schauspieler, der unter seiner eigenen Regie des Faust Mephisto spielte, wobei sich seine Theaterrolle mit seinem tatsächlichen Pakt mit dem Teufel deckte, nachdem Göring ihn zum Chef der Deutschen Staatstheater ernannt hatte. Der kroatische Dramatiker Slobodan Šnajder schrieb das Drama Der kroatische Faust, das auf der Biografie des kroatischen Schauspielers Vjeko Afrić beruht, der zu Beginn der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts während des Regimes des Unabhängigen Kroatiens, das von dem Nazi-Verbündeten Pavelić angeführt wurde, Faust in Goethes Stück interpretierte und danach in den Wald ging und sich der Widerstandsbewegung der Partisanen anschloss. Damit möchte ich zum Ausdruck bringen, dass auch hinter dem größten kulturologischen Narrativ, wie jenem, das den Namen Faust trägt, die Möglichkeit einer ganz unerwarteten Geschichte besteht und eines Entgleitens aus den Schemen, das es uns ermöglicht, nicht in fixierten Bedeutungen der Symbole zu verharren, in den Konventionen ordentlich aneinander gereihter Strukturen und präsize angeordneter Botschaften, sondern dass – wie es meine Übersetzerin sagen würde – wir einen Ort finden, den man nirgendwo zuordnen kann.
Aus dem Kroatischen von Alida Bremer
Ivana Sajko, 1975 in Zagreb geboren, ist Autorin, Dramatikerin und Regisseurin. Studium an der Akademie für Dramatische Kunst in Zagreb. Gründete 1996 die Theatergruppe The Project Buffalo und 2000 die Theaterorganisation BAD co. 1998 erschien ihr erster Theatertext Orange in den Wolken, für den sie den Kroatischen Staatspreis für Dramentexte erhielt. Spätestens seit dem Monolog Bombenfrau gilt Ivana Sajko als politische Autorin, deren vielschichtige Texte im Zusammenhang mit der jüngsten osteuropäischen Geschichte zu lesen sind. Ihre mit vielen Preisen ausgezeichneten Theaterstücke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und auf internationalen Bühnen aufgeführt. Ihr erster Roman Rio Bar, für den sie den höchsten kroatischen Literaturpreis erhielt, erschien 2008 in deutscher Übersetzung von Alida Bremer bei Matthes & Seitz. Ivana Sajko lebt in Zagreb und in Istrien.
[Kroatien-Austausch]: Begegnung mit Werner Fritsch>
Werner Fritsch lernte ich während der ersten bayrisch-kroatischen Literaturbegegnungen im Literaturhaus in München kennen. Jedem kroatischen Autor wurde ein deutscher Partner zugeteilt, und meine Übersetzerin kündigte mir an, dass Werner und ich wahrscheinlich das passendste Paar unter all diesen Kombinationen sein würden. „Auch ihn kann man nirgends zuordnen“, sagte sie. Sie meinte damit den Stil.
Einerseits war dieser Kommentar das größte Kompliment, dass man überhaupt einem Autor machen kann, denn der Autor, den man nirgendwo zuordnen kann, ist ein Schriftsteller, der sich außerhalb der erkennbaren stilistischen Modelle bewegt und der an den Themen für die Massenempathie vorbei schreibt, ein Schriftsteller, der Risiken eingeht und nicht nach dem Konsens mit dem Markt sucht. Die Wochenzeitung Der Spiegel brachte einmal einen Kommentar, demzufolge Werner Fritsch der mutigste deutsche Autor sei, und als ich Werner bat, mir diese Bezeichnung zu erläutern und mir zu erklären, was seiner Meinung nach heute den Mut eines Dichters oder Künstlers ausmache, antworte er nach kurzem Schweigen:
„Herz zeigen.“
Unsere erste Begegnung bestand aus einem Gespräch über das Reisen. Künstler zu sein, setzt voraus, Nomade zu sein, nach stillen Plätzen und nach freier Zeit zu suchen, in der man sich dem Luxus des Schreibens überlassen kann, um sich selbst zu begegnen und dann Abstand zum eigenen Leben zu gewinnen, damit man darüber überhaupt etwas zum Ausdruck bringen kann. Ein Künstler zu sein, der mit seinem Stil nirgendwo hin gehört, schließt eine andere Art der Suche ein, jene nach der eigenen Beharrlichkeit und natürlich nach dem Publikum, das man nicht mit durchdachten Werbemaßnahmen gewinnt, sondern durch eine andere Art der Hinwendung. Menschen, mit denen es möglich ist, das Abenteuer zu teilen. An jenem Abend erzählte mir Werner von seinen Kollegen vom Free Theatre in Christchurch/Neuseeland, wo er genau solche Menschen entdeckt hatte, für die das Theater eine Mission ist. In den folgenden Jahren haben sie einige seiner Stücke inszeniert. Ich habe ihm von meiner damaligen Gruppe BAD co. erzählt, darüber, wie wir in der unmöglichen Nachkriegszeit in Kroatien die Verantwortung dafür übernehmen mussten, einen Kontext zu schaffen, innerhalb dessen wir arbeiten konnten, da keiner der bestehenden unseren Ansprüchen entsprach. Wir mussten uns unser eigenes Publikum erschaffen, es aus der Lethargie einer politisierten Kultur herausreißen, in der es nur Platz für Ideologen gab, und ihm zeigen, dass die Kunst immer noch die Kraft hatte, das Unmögliche zu tun und trotz der Zeit zu wirken. In unseren Geschichten lag eine gewisse Ähnlichkeit.
Ich erinnere mich also, dass wir über das Reisen gesprochen haben. Ich über Australien und Werner über Neuseeland. Schon damals bemerkte ich anhand der Auswahl, die Werner bei den Impressionen der südlichen Hemisphäre getroffen hatte, anhand der Art, wie er sie in Szenen umsetzte, sie in Perspektiven vertiefte und mit Farben füllte, ein spezifisches Verhältnis zu der Erfahrung, das den Menschen eigen ist, die jenseits der Sprache, in Bildern denken. Einige Jahre später, als ich sein Faust Sonnengesang sah und den unmöglichen Auftrag bekam, dieses dreistündige Filmpoem während der nächsten Begegnung, die in Zagreb stattfinden sollte, vorzustellen, begriff ich, dass ich nicht wusste, wie ich meinen Gesprächspartner ansprechen sollte; als Schriststeller oder als Regisseur. Außerdem bot Faust Sonnengesang sowohl auf inhaltlicher wie auch auf formaler Ebene einen interpretatorischen Abgrund, über den man stundenlang sprechen konnte.
Während ich mich auf das Gespräch über Werners Film vorbereitete, ließ ich mehrfach die DVD auf meinem Laptop laufen. Das Resultat war weit von dem entfernt, was ich erreichen wollte. Anstatt mit meinem hartnäckigen Sehen das Material zu erobern, das vor mir lag, es in ein analytisches Netz aus Motiven, Referenzen und formalen Verfahren einordnen, es in Schlussfolgerungen zusammenfassen zu können, verlängerte, vertiefte, weitete, öffnete und entzog sich mir der Film mit jedem erneuten Mal. Plötzlich sah ich etwas, was mir beim voran gegangenen Sehen nicht bewusst geworden war, ich hörte Musik, die ich zuvor nicht gehört hatte, ich verstand einen Vers, der mir bisher entgangen war, ich ordnete die Verhältnisse zwischen Bild und Text neu... Die Sequenzen zogen in völlig unvorhersehbarer Dramaturgie und den Interventionen des Regisseurs an mir vorbei; eine doppelte Exposition wechselte zu einer Totale, die furios-schnelle Montage verlangsamte sich plötzlich, der Kolorismus der Landschaft wurde zur Schwarz-Weiß-Aufnahme, die Perspektive konnte sich in jedem Moment wenden, genauso wie das Dokumentarmaterial sich in eine vom Regisseur geschaffene Szene verwandeln konnte. Text, Bild und Musik waren montiert bar jeder Garantie, dass die nächste Minute irgendeine narrative Kohärenz bestätigen würde. Das einzige, was sich mir als Durchlauf durch diese höllische Flut bot, bestand darin, die eigene Gewohnheit der Analyse aufzugeben und der Aussage des Autors zu vertrauen: DIE WELT DREHT SICH IM KALEIDOSKOP DIESES KOPFES.
Plötzlich wurde alles klar. Das Thema Reise kehrte wieder zurück, doch dieses Mal in einem monumentalen Sinn, als Reisen, das rückwärts gewandt ist, durch die Geschichte, durch Erinnerungen, durch jene Orte, die wir gesehen oder die wir nur geträumt haben, durch Gegenden, die sich uns in die Haut eingeprägt haben, als wären sie ein Teil von ihr, durch Horizonte, deren Grenzen den Raum unserer Welt markiert haben, durch Bilder ohne gemeinsamen Nenner, außer jenem, der uns die Lebenserfahrung bietet: Autobahnen, Flüsse, Abenddämmerungen, Theaterscheinwerfer, Vulkaneruptionen, die stille Erscheinung des Schnees auf der Oberfläche einer nackten Landschaft, Buchseiten, die im Feuer verschwinden... Die ultimative Reise durch das Universum des Bewusstseins hat in aller Konsequenz ihren rhizomartigen Charakter beschrieben, wobei sie sich einer symmetrischen Gliederung, formalen Beziehungen und jeder Übersichtlichkeit entzogen hat. Durch heterogene Verbindungen und das Wuchern der Zeichen wurde alles mit allem verbunden, die Zeit der Kindheit verschmolz mit der Zeit der Gegenwart, und die Gegenwart war bereits Geschichte, die von Gespenstern aufgesucht wird, in der Mythen und Rituale vorherrschen, die über die Nostalgie unwiderrufbarer Augenblicke verfügt sowie auch über die Bitterkeit derselben.
Ich kann mich nicht daran erinnern, Werner gefragt zu haben, ob er an Gott glaubt, doch diese Frage hatte ich in den Notizen für unser Gespräch aufgeschrieben. Ich konnte mich dem Gefühl nicht entziehen, dass der Film, der von den letzten Momenten des menschlichen Bewusstseins handelt, durch eine Art Heilserwartung motiviert worden sein musste, durch ein tiefes Vertrauen in die Kraft der Natur und der menschlichen Kontinuität, durch die Faszination von der Vielfalt der Welt, über die mit soviel Überzeugungskraft und soviel Leidenschaft kurz vor dem Tod nur jene reden können, die wahrhaftig an Gott glauben. Fausts der Sonne gewidmetes Gedicht wirkte wie eine Paraphrase des „Cantico del frate sole“ von Franz von Assisi, in dem die Liebe zum Leben in gleichem Maße sein Leiden und seine Schönheit feiert. In der Ankündigung des Films las ich, dass Werners Werk die Frage stellt: Was geschieht im Kopf eines Menschen, wenn er für immer die Augen schließt? Es scheint mir, dass die Antwort lauten könnte, dass auf dem Bildschirm hinter den Augenlidern erneut die Welt erschaffen wird, in all ihrer Unaussprechlichkeit.
Unsere Köpfe sind nicht imstande, die Welt zu deuten, schließt Werner in einem der Verse dieses Poems. Ich nehme diese Verse als Argument für die eigene Verteidigung.
Über Schönheit sprechen, wie auch über Liebe sprechen, ist eine Aufgabe, die über Worte hinausgeht. Genauso ist es eine Aufgabe, die die Kunst überflüssig machen kann, da sie regelmäßig erst dann auftaucht, wenn Schönheit und Liebe verbraucht sind, wenn ein Mangel entsteht und Leere klafft, die Raum für den Ausdruck hinterlassen. Angeregt genau durch diese Tatsache bat ich Werner, mir den Schlüssel zu seinem Film zu erklären, und ich deutete an, dass sich dieser in jenem Ausschnitt finden lassen könnte, den wir dem Publikum in Zagreb gezeigt hatten, dem Teil unter dem Namen „Alles brennt“, in dem die Stimme von Mephisto die Welt mit aller Gründlichkeit vernichtet und seine Arbeit mit der Aussage abschließt, in der metaphorisch auch das Feuer seine eigene Flamme entzündet: „Die Zunge, die das jetzt ausspricht, brennt“. Werner widersprach meinem Vorschlag und erklärte, dass der Teil des Films, den wir gesehen hatten, eigentlich sein Kontrapunkt sei, eben jene Vernichtung, der er sich widersetzen wolle, eben jene Bilder, die er durch die Szenen der Schönheit und der Schöpfung zu zerstören beabsichtige. Einen kurzen Moment lang wollte ich ihn provozieren, und zwar mit dem Kommentar, dass die Szenen der Schönheit sich gefährlich nahe am Rande des Kitsches, der Religiosität oder aber des einfachen Vergnügens am Anblick der Anmut des Sonnenuntergangs bewegten, aber dann – bewegt durch etwas im Ton seiner Antwort – wurde mir bewusst, dass über Schönheit zu sprechen ein viel größeres Risiko darstellt und viel mehr künstlerischen und menschlichen Mut verlangt, als über verschiedene Schrecken zu sprechen. Ich verstand vielmehr, dass die Tragödie ein Allgemeinplatz unserer Vision der Kunst ist, vielleicht deshalb – und es handelt sich um einen einfachen Grund -, weil wir nicht genügend Stil haben, um eine Art zu finden, etwas Gegenteiliges zum Ausdruck zu bringen. Diese Schlussfolgerung bestätigte Werners Intention.
Werner Fritsch hat das Drama Faust Croma über Gustav Gründgens geschrieben, einem Schauspieler, der unter seiner eigenen Regie des Faust Mephisto spielte, wobei sich seine Theaterrolle mit seinem tatsächlichen Pakt mit dem Teufel deckte, nachdem Göring ihn zum Chef der Deutschen Staatstheater ernannt hatte. Der kroatische Dramatiker Slobodan Šnajder schrieb das Drama Der kroatische Faust, das auf der Biografie des kroatischen Schauspielers Vjeko Afrić beruht, der zu Beginn der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts während des Regimes des Unabhängigen Kroatiens, das von dem Nazi-Verbündeten Pavelić angeführt wurde, Faust in Goethes Stück interpretierte und danach in den Wald ging und sich der Widerstandsbewegung der Partisanen anschloss. Damit möchte ich zum Ausdruck bringen, dass auch hinter dem größten kulturologischen Narrativ, wie jenem, das den Namen Faust trägt, die Möglichkeit einer ganz unerwarteten Geschichte besteht und eines Entgleitens aus den Schemen, das es uns ermöglicht, nicht in fixierten Bedeutungen der Symbole zu verharren, in den Konventionen ordentlich aneinander gereihter Strukturen und präsize angeordneter Botschaften, sondern dass – wie es meine Übersetzerin sagen würde – wir einen Ort finden, den man nirgendwo zuordnen kann.
Aus dem Kroatischen von Alida Bremer
Ivana Sajko, 1975 in Zagreb geboren, ist Autorin, Dramatikerin und Regisseurin. Studium an der Akademie für Dramatische Kunst in Zagreb. Gründete 1996 die Theatergruppe The Project Buffalo und 2000 die Theaterorganisation BAD co. 1998 erschien ihr erster Theatertext Orange in den Wolken, für den sie den Kroatischen Staatspreis für Dramentexte erhielt. Spätestens seit dem Monolog Bombenfrau gilt Ivana Sajko als politische Autorin, deren vielschichtige Texte im Zusammenhang mit der jüngsten osteuropäischen Geschichte zu lesen sind. Ihre mit vielen Preisen ausgezeichneten Theaterstücke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und auf internationalen Bühnen aufgeführt. Ihr erster Roman Rio Bar, für den sie den höchsten kroatischen Literaturpreis erhielt, erschien 2008 in deutscher Übersetzung von Alida Bremer bei Matthes & Seitz. Ivana Sajko lebt in Zagreb und in Istrien.