Reflexionen zu Heinrich Manns Roman „Der Untertan“
Im März 1950 starb der Schriftsteller Heinrich Mann kurz vor seiner geplanten Rückkehr nach Deutschland, in seinem Exil in Santa Monica, Kalifornien. Anlässlich seines 75. Todesjahres erinnert sich die Autorin Andrea Heuser an ihre Lektüre von Heinrich Manns berühmtem Roman Der Untertan.
*
„Der Untertan dreht sich immer dorthin, wo der Wind weht, und zwar im Kreise.“
Nachdem ich den Untertan bis zum bitteren Ende gelesen hatte, wurde ich krank. Anders als Heinrich Manns Antiheld Diederich litt ich zwar nicht „viel an den Ohren“; dafür schlug mir seit jeher alles auf den Magen. Dieses Mal war es der übermäßige Konsum von Rumkugeln während der Lektüre – der Roman, der einem Opportunisten aus der Zeit Wilhelms II. von der Kindheit bis zur Blüte seiner skrupellosen Karriere als Papierfabrikant folgt, hat immerhin 478 teilweise schwer verdauliche Seiten. Aber vor allen Dingen war es das, was dieser Diederich Heßling, „ein weiches Kind, das am liebsten träumte und sich vor allem fürchtete“, aus sich und aus dem gemacht hatte, was man gemeinhin ‚das eigene Leben‘ nennt. Nämlich: die Hölle.
Wer das für übertrieben hält, der nehme den Roman beim Wort. Nicht umsonst erscheint Diederich ganz am Ende seinem sterbenden Gegenspieler, dem Alten Buck, als Leibhaftiger. Und tatsächlich stelle ich mir die Hölle seit meiner Kenntnis des Untertan ungefähr so vor: als einen herzenskalten, windigen Ort, an dem ständig Appell gestanden, exerziert und einem prügelnd noch der Rest der Menschlichkeit ausgetrieben wird. Doch der Boden der Hölle ist nicht etwa kochend heiß, was für ein Klischee auch, oder gar hart wie die preußische Militärdisziplin – man tritt dort vielmehr weich auf. Denn die Hölle, um einen Ausspruch des Heiligen Ägidius zu verwenden, ist gepolstert mit den Rücken der Weichlinge.
Mit all den ehemals weichen, verträumten, ängstlichen Diederichen also, die die Zartheit ihrer kindlichen Seelen zuungunsten jener anderen Form der Weichheit opferten oder gar verrieten, die man als Opportunismus, Profillosigkeit und Selbstaufgabe bezeichnet und auf deren buckelnden Rücken die Despoten und autoritären Mächte leichtes Spiel haben aufzusteigen. „Der Untertan“, so Heinrich Mann, „ist immer ein Knecht, immer jemand, der keinen eigenen Willen hat und keine Entscheidungen trifft.“
Ja, Verantwortung ist hart. Ganz sicher ist sie nichts für Feiglinge. So gesehen, beschließe ich soeben bei mir, können weder Mütter noch Väter, die ihre Kinder engagiert durch die Schule und durchs Leben begleiten, jemals wirkliche Weicheier sein. Sofort fühle ich mich mutiger und feiere innerlich all die taffen, alltagstapferen Familien unserer herausgeforderten Zivilgesellschaft.
Zurück zum Roman. Die Mahnung „Sei kein Untertan!“, wie ich sie aus diesem Werk herauslese, kann als eines der großen literarischen Vermächtnisse Heinrich Manns an uns gelten. Denn bis heute gilt Diederich Heßling als das Musterbeispiel eines obrigkeitshörigen Feiglings, der bar jeder Zivilcourage und aus skrupellosem Karrieredrang den Boden für Schlimmeres bereitet. Nach oben buckeln, nach unten treten – Dass eine Warnung vor diesem Typus und dem, was er, erst einmal in Positionen und zu Pöstchen gelangt, anzurichten imstande ist, dass dies nicht nur für die Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs galt, leuchtet jedem politisch wahrnehmungssensiblen Menschen unmittelbar ein.
Bereits Kurt Tucholsky brachte es 1927 für die damalige krisengebeutelte, demokratieschwache Weimarer Republik auf den Punkt: „Es spricht für den Weitblick des Künstlers […], dass nichts, aber auch nichts, was in diesem Buch steht, so übertrieben ist, wie seine Feinde es gern wahrhaben möchten. Es ist in Wahrheit schlimmer, es ist viel schlimmer.“
Wie viel schlimmer es kam und wie wirkungsmächtig all diejenigen waren, die wie der Untertan dem nationalistischen und nur wenig später dann dem nationalsozialistischen Gedankengut zur vollen Geltung verhalfen, diese Überlegung führt mich zu den real-existiert habenden Höllentoren zurück. Über einem von ihnen stand der menschenverachtendste, zynischste Spruch der Geschichte: „Arbeit macht frei“. Über meiner imaginierten Untertan-Hölle, in der all die ohnmächtigen Machthungrigen sich ihre Seelen verstümmeln, würde der folgende Satz aus dem Untertan stehen:
„Um Macht zu erlangen, muss man den Sinn für Moral und Menschlichkeit verlieren.“
Was eine autoritäre, auf Drill, Militarismus und gewaltsame Disziplinierung setzende Gesellschaft, als welche Heinrich Mann das deutsche Kaiserreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs erzählerisch-satirisch zeichnet, was so eine Gesellschaft mit dem Individuum macht – eindringlicher kann man es laut Forschungsmeinung, in einem Roman kaum erzählt finden. Hier allerdings regt sich mein Widerstand. Und das ist gut, denn auch anlässlich eines Todesjahrsjubiläums mag ich mich nicht allzu lang in der Nähe der Unterwelt aufhalten, und sei es auch nur imaginär. Mein Widerstand besteht zunächst erst einmal darin, dass ich leider finde: sooo viel musste die böse Gesellschaft beim „Diederich Heßling“ – bezeichnenderweise stellen sich beim Klang dieses Namens die Assoziationen „Theoderich“ und „Hässlich“ ein, der hässliche Teutone –, viel musste der Makrokosmos also gar nicht mehr dazu tun.
Denn Heinrich Mann hat dem Jungen bereits auf den ersten Seiten alles in den frühkindlichen Charakter und damit ins Wesen hineingeschrieben, was dieser Antiheld braucht, um so richtig verabscheuenswürdig feige, schadenfroh und unterwerfungssüchtig zu sein: „Jede nicht herausgekommene Untat mischte in Diederichs Ergebenheit und Vertrauen einen Zweifel. Als der Vater einmal mit seinem invaliden Bein die Treppe herunterfiel, klatschte der Sohn wie toll in die Hände – worauf er weglief.“
Bereits als kleiner Junge schaut er abwertend auf die Arbeiter in der väterlichen Werkstatt herab, um sich selbst zu erhöhen: „Ich habe Prügel bekommen, aber von meinem Papa. Ihr wäret froh, wenn ihr auch Prügel von ihm bekommen könntet. Aber dafür seid ihr viel zuwenig.“
Und wer hier als allzu ‚weicheiiger‘ Leser oder Leserin auf den Ausgleich durch die zärtliche Mutter hofft, der wird auf psychologisch tiefsinnige Weise sogleich eines Besseren belehrt; denn: „… [er] freute sich irgendwo hinter einer Mauer, daß sie [die Mutter] nun Angst hatte. Ihre zärtlichen Stunden nützte er aus; aber er fühlte keine Achtung vor seiner Mutter. Ihre Ähnlichkeit mit ihm selbst verbot es ihm. Denn er achtete sich selbst nicht, dafür ging er mit einem zu schlechten Gewissen durch sein Leben, das vor den Augen des Herrn nicht hätte bestehen können.“
„Heinrich! Mir graut vor dir“, will man mit Fausts Gretchen da gern rufen. Sicherlich weniger erschüttert oder so verzweifelt wie diese, aber doch entrüstet. Denn als eine Autorin, die wie Dostojewski findet, dass man all seine Geschöpfe, seine Figuren lieben sollte, also auch die Bösen und die Verlorenen – tut mir der Diederich da fast schon wieder leid. Was hat er denn überhaupt für eine Chance in so einer Satire? Und so will ich heute, anlässlich des Gedenkens an seinen Schöpfer, auch dessen Antihelden einmal „danke“ sagen: Danke, lieber Diederich Heßling, dass du dich so überaus eindringlich hast hässlich machen lassen, damit wir etwas kapieren. Du hast preußisch-gewissenhaft deine Pflicht erfüllt.
Überhaupt, die Verlorenen... Kommen wir zu meinem nächsten Einspruch: Wenn einem der Diederich schon – kurz! – mal leid tut, was ist dann mit denen, die im Roman wirklich verlieren?
Und das sind ja, hochaktuell, die Liberalisten. Und warum, zum Donald-Trump-noch-eins, lässt Heinrich Mann den Alten Buck und seinen Traum von der Demokratie, überhaupt die Demokratie, dort im fiktiven Neizig, so gnadenlos untergehen und sterben? Weil es sonst nicht satirisch überspitzt genug wäre? Damit wir in den Widerstand gehen?
Am Sterbebett des Alten Buck entdeckt Diederich Neid in den Augen des trauernden Sohns. Doch der Neid gebührt nicht ihm, seinem siegreichen Widersacher, sondern dem Alten Buck. Denn Wolfgang Buck beneidet seinen Vater, dass er es „hinter sich hat“, während er selbst noch ausharren und weitermachen muss in dieser zerbrechlichen Einrichtung der Welt, die einem den Diederich als Leibhaftigen am Totenbett beschert. Kein schönes Ende. Man möchte sofort mit dem Umschreiben beginnen. Und den Fragen.
Die Untertänigkeit der Öffentlichen Seele. Woraus speist sie sich?
Geschichte der Öffentlichen Seele unter Wilhelm II. – Heinrich Mann wählte diesen schönen, inspirierenden Untertitel für den Untertan, den er 1914, einen Monat vor Beginn des Ersten Weltkriegs, fertigstellte und der nach Ende des Krieges 1918 dann erstmals in Buchform erschien. Über hundert Jahre sind seither vergangen; aber das Nachdenken über die Öffentliche Seele ist weiterhin akut. Die richtigen Fragen zu finden und sie möglichst furchtlos gemeinschaftlich-demokratisch zu stellen, wäre ein Anfang: Wie steht es um die Öffentliche Seele hierzulande? Gibt es sie überhaupt? Brauchen wir sie? Und wenn, dann möchte zumindest ich ihr, in Gedenken an Heinrich Mann, zurufen: Sei kein Untertan!
„Es ist ein weiter Weg zurück ins Paradies, Liebling. Also hör auf, dich über Kleinigkeiten aufzuregen.“
Diesen pfiffigen Satz lässt der amerikanische Bestsellerautor Stephen King seine Heldinnen gerne sagen. Recht hat er. Und wenn man sich in dessen Heimatland gerade so umhört, dann leidet man wie Diederich, das Kind, doch recht „viel an den Ohren“. Ach, daher weht der Wind …
Stöbert man im Internet nach Hausarbeiten und Analysen zum Untertan entdeckt man Bemerkenswertes. Die vier Elemente etwa, die da unter anderem als „Diederichs politisches Kalkül“ beschrieben werden, lesen sich wie die strategische To-do-Liste gewisser Großmacht-Egomanen: 1. Verbreite Gerüchte über die Gegner. 2. Schließe Bündnisse mit politischen Rivalen. 3. Manipuliere Informationen, um einen Vorteil zu erringen. 4. Verleumde und demütige andere, um die eigene Stellung zu festigen.
Die Stellung festigen – standfest sein. Heinrich Mann jedenfalls war alles andere als ein Weichei. Er blieb sich treu und ging ins Exil. Und das Wilhelminische Kaiserreich mag lange vorbei sein; die Mahnung „Sei kein Untertan“, die wir aus seinem Werk herauslesen, bleibt uns, zusammen mit seiner Erzählkunst, lebendig.
Und wer jetzt immer noch nicht genug von Aktualitätsbezügen literarischer Klassiker, von Weicheiern, Teufeln, den Mann-Brüdern und vor allem: von guter Literatur hat, der kann sich bereits jetzt auf den Roman Teufels Bruder von Matthias Lohre freuen. Die Autorin Sophia Merwald hat Lohres Roman über die denkwürdige gemeinsame Italienreise von Heinrich und Thomas Mann für uns rezensiert. Am 11. April wird sie hier im Literaturportal zu lesen sein.
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Im März 1950 starb der Schriftsteller Heinrich Mann kurz vor seiner geplanten Rückkehr nach Deutschland, in seinem Exil in Santa Monica, Kalifornien. Anlässlich seines 75. Todesjahres erinnert sich die Autorin Andrea Heuser an ihre Lektüre von Heinrich Manns berühmtem Roman Der Untertan.
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„Der Untertan dreht sich immer dorthin, wo der Wind weht, und zwar im Kreise.“
Nachdem ich den Untertan bis zum bitteren Ende gelesen hatte, wurde ich krank. Anders als Heinrich Manns Antiheld Diederich litt ich zwar nicht „viel an den Ohren“; dafür schlug mir seit jeher alles auf den Magen. Dieses Mal war es der übermäßige Konsum von Rumkugeln während der Lektüre – der Roman, der einem Opportunisten aus der Zeit Wilhelms II. von der Kindheit bis zur Blüte seiner skrupellosen Karriere als Papierfabrikant folgt, hat immerhin 478 teilweise schwer verdauliche Seiten. Aber vor allen Dingen war es das, was dieser Diederich Heßling, „ein weiches Kind, das am liebsten träumte und sich vor allem fürchtete“, aus sich und aus dem gemacht hatte, was man gemeinhin ‚das eigene Leben‘ nennt. Nämlich: die Hölle.
Wer das für übertrieben hält, der nehme den Roman beim Wort. Nicht umsonst erscheint Diederich ganz am Ende seinem sterbenden Gegenspieler, dem Alten Buck, als Leibhaftiger. Und tatsächlich stelle ich mir die Hölle seit meiner Kenntnis des Untertan ungefähr so vor: als einen herzenskalten, windigen Ort, an dem ständig Appell gestanden, exerziert und einem prügelnd noch der Rest der Menschlichkeit ausgetrieben wird. Doch der Boden der Hölle ist nicht etwa kochend heiß, was für ein Klischee auch, oder gar hart wie die preußische Militärdisziplin – man tritt dort vielmehr weich auf. Denn die Hölle, um einen Ausspruch des Heiligen Ägidius zu verwenden, ist gepolstert mit den Rücken der Weichlinge.
Mit all den ehemals weichen, verträumten, ängstlichen Diederichen also, die die Zartheit ihrer kindlichen Seelen zuungunsten jener anderen Form der Weichheit opferten oder gar verrieten, die man als Opportunismus, Profillosigkeit und Selbstaufgabe bezeichnet und auf deren buckelnden Rücken die Despoten und autoritären Mächte leichtes Spiel haben aufzusteigen. „Der Untertan“, so Heinrich Mann, „ist immer ein Knecht, immer jemand, der keinen eigenen Willen hat und keine Entscheidungen trifft.“
Ja, Verantwortung ist hart. Ganz sicher ist sie nichts für Feiglinge. So gesehen, beschließe ich soeben bei mir, können weder Mütter noch Väter, die ihre Kinder engagiert durch die Schule und durchs Leben begleiten, jemals wirkliche Weicheier sein. Sofort fühle ich mich mutiger und feiere innerlich all die taffen, alltagstapferen Familien unserer herausgeforderten Zivilgesellschaft.
Zurück zum Roman. Die Mahnung „Sei kein Untertan!“, wie ich sie aus diesem Werk herauslese, kann als eines der großen literarischen Vermächtnisse Heinrich Manns an uns gelten. Denn bis heute gilt Diederich Heßling als das Musterbeispiel eines obrigkeitshörigen Feiglings, der bar jeder Zivilcourage und aus skrupellosem Karrieredrang den Boden für Schlimmeres bereitet. Nach oben buckeln, nach unten treten – Dass eine Warnung vor diesem Typus und dem, was er, erst einmal in Positionen und zu Pöstchen gelangt, anzurichten imstande ist, dass dies nicht nur für die Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs galt, leuchtet jedem politisch wahrnehmungssensiblen Menschen unmittelbar ein.
Bereits Kurt Tucholsky brachte es 1927 für die damalige krisengebeutelte, demokratieschwache Weimarer Republik auf den Punkt: „Es spricht für den Weitblick des Künstlers […], dass nichts, aber auch nichts, was in diesem Buch steht, so übertrieben ist, wie seine Feinde es gern wahrhaben möchten. Es ist in Wahrheit schlimmer, es ist viel schlimmer.“
Wie viel schlimmer es kam und wie wirkungsmächtig all diejenigen waren, die wie der Untertan dem nationalistischen und nur wenig später dann dem nationalsozialistischen Gedankengut zur vollen Geltung verhalfen, diese Überlegung führt mich zu den real-existiert habenden Höllentoren zurück. Über einem von ihnen stand der menschenverachtendste, zynischste Spruch der Geschichte: „Arbeit macht frei“. Über meiner imaginierten Untertan-Hölle, in der all die ohnmächtigen Machthungrigen sich ihre Seelen verstümmeln, würde der folgende Satz aus dem Untertan stehen:
„Um Macht zu erlangen, muss man den Sinn für Moral und Menschlichkeit verlieren.“
Was eine autoritäre, auf Drill, Militarismus und gewaltsame Disziplinierung setzende Gesellschaft, als welche Heinrich Mann das deutsche Kaiserreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs erzählerisch-satirisch zeichnet, was so eine Gesellschaft mit dem Individuum macht – eindringlicher kann man es laut Forschungsmeinung, in einem Roman kaum erzählt finden. Hier allerdings regt sich mein Widerstand. Und das ist gut, denn auch anlässlich eines Todesjahrsjubiläums mag ich mich nicht allzu lang in der Nähe der Unterwelt aufhalten, und sei es auch nur imaginär. Mein Widerstand besteht zunächst erst einmal darin, dass ich leider finde: sooo viel musste die böse Gesellschaft beim „Diederich Heßling“ – bezeichnenderweise stellen sich beim Klang dieses Namens die Assoziationen „Theoderich“ und „Hässlich“ ein, der hässliche Teutone –, viel musste der Makrokosmos also gar nicht mehr dazu tun.
Denn Heinrich Mann hat dem Jungen bereits auf den ersten Seiten alles in den frühkindlichen Charakter und damit ins Wesen hineingeschrieben, was dieser Antiheld braucht, um so richtig verabscheuenswürdig feige, schadenfroh und unterwerfungssüchtig zu sein: „Jede nicht herausgekommene Untat mischte in Diederichs Ergebenheit und Vertrauen einen Zweifel. Als der Vater einmal mit seinem invaliden Bein die Treppe herunterfiel, klatschte der Sohn wie toll in die Hände – worauf er weglief.“
Bereits als kleiner Junge schaut er abwertend auf die Arbeiter in der väterlichen Werkstatt herab, um sich selbst zu erhöhen: „Ich habe Prügel bekommen, aber von meinem Papa. Ihr wäret froh, wenn ihr auch Prügel von ihm bekommen könntet. Aber dafür seid ihr viel zuwenig.“
Und wer hier als allzu ‚weicheiiger‘ Leser oder Leserin auf den Ausgleich durch die zärtliche Mutter hofft, der wird auf psychologisch tiefsinnige Weise sogleich eines Besseren belehrt; denn: „… [er] freute sich irgendwo hinter einer Mauer, daß sie [die Mutter] nun Angst hatte. Ihre zärtlichen Stunden nützte er aus; aber er fühlte keine Achtung vor seiner Mutter. Ihre Ähnlichkeit mit ihm selbst verbot es ihm. Denn er achtete sich selbst nicht, dafür ging er mit einem zu schlechten Gewissen durch sein Leben, das vor den Augen des Herrn nicht hätte bestehen können.“
„Heinrich! Mir graut vor dir“, will man mit Fausts Gretchen da gern rufen. Sicherlich weniger erschüttert oder so verzweifelt wie diese, aber doch entrüstet. Denn als eine Autorin, die wie Dostojewski findet, dass man all seine Geschöpfe, seine Figuren lieben sollte, also auch die Bösen und die Verlorenen – tut mir der Diederich da fast schon wieder leid. Was hat er denn überhaupt für eine Chance in so einer Satire? Und so will ich heute, anlässlich des Gedenkens an seinen Schöpfer, auch dessen Antihelden einmal „danke“ sagen: Danke, lieber Diederich Heßling, dass du dich so überaus eindringlich hast hässlich machen lassen, damit wir etwas kapieren. Du hast preußisch-gewissenhaft deine Pflicht erfüllt.
Überhaupt, die Verlorenen... Kommen wir zu meinem nächsten Einspruch: Wenn einem der Diederich schon – kurz! – mal leid tut, was ist dann mit denen, die im Roman wirklich verlieren?
Und das sind ja, hochaktuell, die Liberalisten. Und warum, zum Donald-Trump-noch-eins, lässt Heinrich Mann den Alten Buck und seinen Traum von der Demokratie, überhaupt die Demokratie, dort im fiktiven Neizig, so gnadenlos untergehen und sterben? Weil es sonst nicht satirisch überspitzt genug wäre? Damit wir in den Widerstand gehen?
Am Sterbebett des Alten Buck entdeckt Diederich Neid in den Augen des trauernden Sohns. Doch der Neid gebührt nicht ihm, seinem siegreichen Widersacher, sondern dem Alten Buck. Denn Wolfgang Buck beneidet seinen Vater, dass er es „hinter sich hat“, während er selbst noch ausharren und weitermachen muss in dieser zerbrechlichen Einrichtung der Welt, die einem den Diederich als Leibhaftigen am Totenbett beschert. Kein schönes Ende. Man möchte sofort mit dem Umschreiben beginnen. Und den Fragen.
Die Untertänigkeit der Öffentlichen Seele. Woraus speist sie sich?
Geschichte der Öffentlichen Seele unter Wilhelm II. – Heinrich Mann wählte diesen schönen, inspirierenden Untertitel für den Untertan, den er 1914, einen Monat vor Beginn des Ersten Weltkriegs, fertigstellte und der nach Ende des Krieges 1918 dann erstmals in Buchform erschien. Über hundert Jahre sind seither vergangen; aber das Nachdenken über die Öffentliche Seele ist weiterhin akut. Die richtigen Fragen zu finden und sie möglichst furchtlos gemeinschaftlich-demokratisch zu stellen, wäre ein Anfang: Wie steht es um die Öffentliche Seele hierzulande? Gibt es sie überhaupt? Brauchen wir sie? Und wenn, dann möchte zumindest ich ihr, in Gedenken an Heinrich Mann, zurufen: Sei kein Untertan!
„Es ist ein weiter Weg zurück ins Paradies, Liebling. Also hör auf, dich über Kleinigkeiten aufzuregen.“
Diesen pfiffigen Satz lässt der amerikanische Bestsellerautor Stephen King seine Heldinnen gerne sagen. Recht hat er. Und wenn man sich in dessen Heimatland gerade so umhört, dann leidet man wie Diederich, das Kind, doch recht „viel an den Ohren“. Ach, daher weht der Wind …
Stöbert man im Internet nach Hausarbeiten und Analysen zum Untertan entdeckt man Bemerkenswertes. Die vier Elemente etwa, die da unter anderem als „Diederichs politisches Kalkül“ beschrieben werden, lesen sich wie die strategische To-do-Liste gewisser Großmacht-Egomanen: 1. Verbreite Gerüchte über die Gegner. 2. Schließe Bündnisse mit politischen Rivalen. 3. Manipuliere Informationen, um einen Vorteil zu erringen. 4. Verleumde und demütige andere, um die eigene Stellung zu festigen.
Die Stellung festigen – standfest sein. Heinrich Mann jedenfalls war alles andere als ein Weichei. Er blieb sich treu und ging ins Exil. Und das Wilhelminische Kaiserreich mag lange vorbei sein; die Mahnung „Sei kein Untertan“, die wir aus seinem Werk herauslesen, bleibt uns, zusammen mit seiner Erzählkunst, lebendig.
Und wer jetzt immer noch nicht genug von Aktualitätsbezügen literarischer Klassiker, von Weicheiern, Teufeln, den Mann-Brüdern und vor allem: von guter Literatur hat, der kann sich bereits jetzt auf den Roman Teufels Bruder von Matthias Lohre freuen. Die Autorin Sophia Merwald hat Lohres Roman über die denkwürdige gemeinsame Italienreise von Heinrich und Thomas Mann für uns rezensiert. Am 11. April wird sie hier im Literaturportal zu lesen sein.