Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 8: Helene Böhlau, Der Rangierbahnhof (1896)
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
*
Helene Böhlau ist ein heute beinahe vergessener Name, sieht man vom wohl nur noch lokalen Nachruhm ihrer Ratsmädelgeschichten einmal ab. In den letzten zwanzig Jahren hat sich ihrer vor allem eine feministisch orientierte Literaturwissenschaft angenommen. Neben Gabriele Reuter, Hedwig Dohm und Franziska zu Reventlow wird sie als eine Hauptvertreterin der am Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden „neuen Frauenliteratur“ in Deutschland bezeichnet.
Helene Böhlau wird am 22. November 1856 in Weimar geboren. Sie ist die älteste von drei Töchtern des Verlegers Hermann Böhlau, der 1853 die „privilegierte Hofbuchdruckerei“ erworben hat und zu den angesehensten Bürgern der Stadt zählt. Die Schule erscheint Helene Böhlau noch im Rückblick als quälend und bedrückend, zumal ihre Talente unbeachtet bleiben und keinerlei Förderung erhalten. Als sie einen Aufsatz über „Die Vorzüge der Menschen vor dem Tiere“ schreiben soll, entschließt sie sich, darin genau das Gegenteil unter Beweis zu stellen. Der originelle Aufsatz wird zwar als vortrefflich bezeichnet, aber zugleich – wie danach auch andere Arbeiten – als nicht von ihr selbst verfasst diffamiert. In ihrer „Blaustrumpf“-Autobiografie bezeichnet sie diesen Text als ihre Geburtsstunde als Schriftstellerin.
Die Eltern, die Helenes „einseitige belletristische Neigungen“ ablehnen, fürchten, dass aus der so verschlossenen, zudem als schwierig und intellektuell geltenden Tochter eine alte Jungfer, ein „Blaustrumpf“, werden könnte. Böhlau setzt ihre Schreibversuche trotzdem fort. In ihren literarischen Arbeiten vermag sie sich eine weibliche Identität zu konstruieren, die ihr in der Realität zunächst noch versagt bleibt. Wie fremdartig und außergewöhnlich sie auf ihre Umgebung gewirkt haben muss, beweist die Äußerung Gabriele Reuters in ihren Erinnerungen an die in den 1870ern bis 1880ern in Weimar verbrachten Jugendjahre: „Helene wurde eine unserer eigenartigsten Schriftstellerinnen – damals galt sie nur für eine exzentrische kleine Pflanze. Das Ringen einer jungen Seele um die eigene Gestaltung wird von ihrer nächsten Umgebung selten mit Liebe und Verständnis begleitet.“
1881 erscheinen in der Deutschen Rundschau ihre in düsterem Ton gehaltenen ersten Novellen: „Im Banne des Todes“ und „Salin Kaliske“. Eine Neigung zu Selbstzweifeln und Depressionen begleitet Böhlau offenbar ein Leben lang. In rascher Folge erscheinen nun weitere Romane, Erzählungen und Skizzen, die Ende des 19. Jahrhunderts ihren Ruhm als eine der führenden deutschen Erzählerinnen begründen. Das Interesse am Werk der Autorin wird wohl auch durch ihre turbulente Lebensgeschichte befördert. Noch in Weimar hat Helene ein Verhältnis mit dem verheirateten Friedrich Arnd, einem leitenden Mitarbeiter im Kartografischen Institut, was für reichlich Aufsehen sorgt. Im April 1886 reisen Helene und Friedrich nach Konstantinopel. Nachdem Friedrich dort zum Islam übergetreten ist, nimmt er den Namen Omar al Raschid Bey an. Nun kann er sich von seiner Ehefrau trennen und Helene Böhlau heiraten. Nach der Rückkehr wählt das Ehepaar die weltoffene und von vielen Künstlern bevölkerte Großstadt München als Wohnort.
Häufige Krankheiten und Geldsorgen erschweren dem Ehepaar die ersten Jahre in München. Erst mit den 1888 erschienenen Ratsmädelgeschichten, die ziemlich erfolgreich sind, beruhigt sich ihre Situation. Trotzdem empfindet Helene die Lebensumstände im Wilhelminischen Kaiserreich als bedrückend, die verlogene Moral der gutbürgerlichen Kreise hat für manchen Klatsch und üble Nachrede gesorgt.
1899 erscheint ihr Roman Halbtier und sorgt für großes Aufsehen. Der später als Antisemit und völkischer Schriftsteller bekannt gewordene Literaturkritiker Adolf Bartels feiert das Buch als „das wichtigste literarische Ereignis des Sommers“, merkt aber zugleich an, dass die Autorin seiner Ansicht nach „außer Rand und Band geraten“ sei. Halbtier, so Bartels, sei „ein wüstes Buch, das den gesunden Mann und die gesunde Frau gleichmäßig abstoßen muss; keine Zeitkrankheit, die man an ihm nicht studieren könnte …“
Helene Böhlau fühlt sich stärker dem naturalistischen Duktus mit Dialekt, Soziolekt und sozialkritischen Milieuschilderungen verpflichtet als einem explizit weiblichen Schreiben. Auch finden sich frühexpressionistische und vitalistische Elemente in ihren Texten. Dabei wählt sie – wie in Halbtier als auch in Der Rangierbahnhof – vorzugsweise die Perspektive von Töchtern und Müttern auf Väter und Ehemänner. Um die Jahrhundertwende herum werden traditionelle Geschlechter- und Familienkonzepte in Frage gestellt. Das schlägt sich auch in den Romanen Helene Böhlaus nieder.
Der Rangierbahnhof thematisiert die Ehe der jungen Malerin Olly mit dem ebenfalls malenden Gastelmeier. Der erste Teil konzentriert sich auf Friedel Gastelmeier, einen jungen Mann von 28 Jahren, der – obwohl er sich als starker Mann empfindet – vom gesellschaftlichen Diskurs ausgeschlossen ist: „Der junge Mann saß schweigend und ruhig um sich schauend in den Schlitten zurückgelehnt.“ Situationen, in denen er sich nicht äußern kann, kehren immer wieder. Nicht nur durch seine Sprachlosigkeit, auch durch seine Leibesfülle erscheint er als Außenseiter. Immer wieder wird Gastelmeier von Frauen ausgelacht, etwa, als er nach der ersten Nacht in der viel zu lauten neuen Wohnung ausziehen möchte, „aber da lachten meine Hauswirtin und ihre Tochter“. Gastelmeier antizipiert seine eigene Lächerlichkeit sogar schon. So erzählt er Anna einmal davon, dass er wütend war, und fügt hinzu: „Wie Du gelacht haben würdest, wenn Du mich hättest sehen können!“ Auch die Erzählerstimme amüsiert sich über die Figur, nennt ihn den „kleinen Gastelmeier“ oder „Speckmeier“ oder bezeichnet eine banale Äußerung Gastelmeiers ironisch als „tiefsinnige Bemerkung“. Während Böhlau die Männerfiguren in einer entlarvenden Art und Weise gestaltet und mit Tante Zänglein und ihrem jugendlichen Liebhaber („Mein Gott, so ein alt’s Weiberl muß halt nehmen, was sich bietet. Und was Junges muß es sein. Wissen Sie, Altes hab’ ich selbst genug“), eine erfrischend unkonventionelle Liebe gezeigt wird, bleibt ihre Heldin ambivalent. Olly verkörpert den um 1900 populären Typus der schwindsüchtigen Frau oder femme fragile: „Blütenjung, zierlich, fast schmächtig, ein feines blasses Gesicht, dunkles lockiges Haar, das nachlässig in einen Knoten geschlungen war, und dunkle, heiße lebhafte Augen, sie erinnerten ihn ein wenig an die Mutter.“ Olly geht dann auch den für die femme fragile obligaten Weg in den Tod, während ihr Mann am Leben bleibt und in seine Heimat zurückkehrt. Olly selbst wird nicht zur Mutter, sie erleidet eine Fehlgeburt – und ist erleichtert darüber. Auf ihre Arbeit verzichten möchte sie nicht. Damit bildet sie, wie Cornelia Mechler im Nachwort schreibt, „einen Gegenpol zur Mütterlichkeitsideologie der Zeit“.
Helene Böhlau: Der Rangierbahnhof. Herausgegeben von Carsten Dürkob. Igel Verlag, Hamburg 2011
Lesen Sie nächste Woche über den Gesellschaftsroman von Georg Herrmann, der Anfang des 20. Jahrhunderts als „die jüdischen Buddenbrooks“ gefeiert wird.
Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 8: Helene Böhlau, Der Rangierbahnhof (1896)>
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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Helene Böhlau ist ein heute beinahe vergessener Name, sieht man vom wohl nur noch lokalen Nachruhm ihrer Ratsmädelgeschichten einmal ab. In den letzten zwanzig Jahren hat sich ihrer vor allem eine feministisch orientierte Literaturwissenschaft angenommen. Neben Gabriele Reuter, Hedwig Dohm und Franziska zu Reventlow wird sie als eine Hauptvertreterin der am Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden „neuen Frauenliteratur“ in Deutschland bezeichnet.
Helene Böhlau wird am 22. November 1856 in Weimar geboren. Sie ist die älteste von drei Töchtern des Verlegers Hermann Böhlau, der 1853 die „privilegierte Hofbuchdruckerei“ erworben hat und zu den angesehensten Bürgern der Stadt zählt. Die Schule erscheint Helene Böhlau noch im Rückblick als quälend und bedrückend, zumal ihre Talente unbeachtet bleiben und keinerlei Förderung erhalten. Als sie einen Aufsatz über „Die Vorzüge der Menschen vor dem Tiere“ schreiben soll, entschließt sie sich, darin genau das Gegenteil unter Beweis zu stellen. Der originelle Aufsatz wird zwar als vortrefflich bezeichnet, aber zugleich – wie danach auch andere Arbeiten – als nicht von ihr selbst verfasst diffamiert. In ihrer „Blaustrumpf“-Autobiografie bezeichnet sie diesen Text als ihre Geburtsstunde als Schriftstellerin.
Die Eltern, die Helenes „einseitige belletristische Neigungen“ ablehnen, fürchten, dass aus der so verschlossenen, zudem als schwierig und intellektuell geltenden Tochter eine alte Jungfer, ein „Blaustrumpf“, werden könnte. Böhlau setzt ihre Schreibversuche trotzdem fort. In ihren literarischen Arbeiten vermag sie sich eine weibliche Identität zu konstruieren, die ihr in der Realität zunächst noch versagt bleibt. Wie fremdartig und außergewöhnlich sie auf ihre Umgebung gewirkt haben muss, beweist die Äußerung Gabriele Reuters in ihren Erinnerungen an die in den 1870ern bis 1880ern in Weimar verbrachten Jugendjahre: „Helene wurde eine unserer eigenartigsten Schriftstellerinnen – damals galt sie nur für eine exzentrische kleine Pflanze. Das Ringen einer jungen Seele um die eigene Gestaltung wird von ihrer nächsten Umgebung selten mit Liebe und Verständnis begleitet.“
1881 erscheinen in der Deutschen Rundschau ihre in düsterem Ton gehaltenen ersten Novellen: „Im Banne des Todes“ und „Salin Kaliske“. Eine Neigung zu Selbstzweifeln und Depressionen begleitet Böhlau offenbar ein Leben lang. In rascher Folge erscheinen nun weitere Romane, Erzählungen und Skizzen, die Ende des 19. Jahrhunderts ihren Ruhm als eine der führenden deutschen Erzählerinnen begründen. Das Interesse am Werk der Autorin wird wohl auch durch ihre turbulente Lebensgeschichte befördert. Noch in Weimar hat Helene ein Verhältnis mit dem verheirateten Friedrich Arnd, einem leitenden Mitarbeiter im Kartografischen Institut, was für reichlich Aufsehen sorgt. Im April 1886 reisen Helene und Friedrich nach Konstantinopel. Nachdem Friedrich dort zum Islam übergetreten ist, nimmt er den Namen Omar al Raschid Bey an. Nun kann er sich von seiner Ehefrau trennen und Helene Böhlau heiraten. Nach der Rückkehr wählt das Ehepaar die weltoffene und von vielen Künstlern bevölkerte Großstadt München als Wohnort.
Häufige Krankheiten und Geldsorgen erschweren dem Ehepaar die ersten Jahre in München. Erst mit den 1888 erschienenen Ratsmädelgeschichten, die ziemlich erfolgreich sind, beruhigt sich ihre Situation. Trotzdem empfindet Helene die Lebensumstände im Wilhelminischen Kaiserreich als bedrückend, die verlogene Moral der gutbürgerlichen Kreise hat für manchen Klatsch und üble Nachrede gesorgt.
1899 erscheint ihr Roman Halbtier und sorgt für großes Aufsehen. Der später als Antisemit und völkischer Schriftsteller bekannt gewordene Literaturkritiker Adolf Bartels feiert das Buch als „das wichtigste literarische Ereignis des Sommers“, merkt aber zugleich an, dass die Autorin seiner Ansicht nach „außer Rand und Band geraten“ sei. Halbtier, so Bartels, sei „ein wüstes Buch, das den gesunden Mann und die gesunde Frau gleichmäßig abstoßen muss; keine Zeitkrankheit, die man an ihm nicht studieren könnte …“
Helene Böhlau fühlt sich stärker dem naturalistischen Duktus mit Dialekt, Soziolekt und sozialkritischen Milieuschilderungen verpflichtet als einem explizit weiblichen Schreiben. Auch finden sich frühexpressionistische und vitalistische Elemente in ihren Texten. Dabei wählt sie – wie in Halbtier als auch in Der Rangierbahnhof – vorzugsweise die Perspektive von Töchtern und Müttern auf Väter und Ehemänner. Um die Jahrhundertwende herum werden traditionelle Geschlechter- und Familienkonzepte in Frage gestellt. Das schlägt sich auch in den Romanen Helene Böhlaus nieder.
Der Rangierbahnhof thematisiert die Ehe der jungen Malerin Olly mit dem ebenfalls malenden Gastelmeier. Der erste Teil konzentriert sich auf Friedel Gastelmeier, einen jungen Mann von 28 Jahren, der – obwohl er sich als starker Mann empfindet – vom gesellschaftlichen Diskurs ausgeschlossen ist: „Der junge Mann saß schweigend und ruhig um sich schauend in den Schlitten zurückgelehnt.“ Situationen, in denen er sich nicht äußern kann, kehren immer wieder. Nicht nur durch seine Sprachlosigkeit, auch durch seine Leibesfülle erscheint er als Außenseiter. Immer wieder wird Gastelmeier von Frauen ausgelacht, etwa, als er nach der ersten Nacht in der viel zu lauten neuen Wohnung ausziehen möchte, „aber da lachten meine Hauswirtin und ihre Tochter“. Gastelmeier antizipiert seine eigene Lächerlichkeit sogar schon. So erzählt er Anna einmal davon, dass er wütend war, und fügt hinzu: „Wie Du gelacht haben würdest, wenn Du mich hättest sehen können!“ Auch die Erzählerstimme amüsiert sich über die Figur, nennt ihn den „kleinen Gastelmeier“ oder „Speckmeier“ oder bezeichnet eine banale Äußerung Gastelmeiers ironisch als „tiefsinnige Bemerkung“. Während Böhlau die Männerfiguren in einer entlarvenden Art und Weise gestaltet und mit Tante Zänglein und ihrem jugendlichen Liebhaber („Mein Gott, so ein alt’s Weiberl muß halt nehmen, was sich bietet. Und was Junges muß es sein. Wissen Sie, Altes hab’ ich selbst genug“), eine erfrischend unkonventionelle Liebe gezeigt wird, bleibt ihre Heldin ambivalent. Olly verkörpert den um 1900 populären Typus der schwindsüchtigen Frau oder femme fragile: „Blütenjung, zierlich, fast schmächtig, ein feines blasses Gesicht, dunkles lockiges Haar, das nachlässig in einen Knoten geschlungen war, und dunkle, heiße lebhafte Augen, sie erinnerten ihn ein wenig an die Mutter.“ Olly geht dann auch den für die femme fragile obligaten Weg in den Tod, während ihr Mann am Leben bleibt und in seine Heimat zurückkehrt. Olly selbst wird nicht zur Mutter, sie erleidet eine Fehlgeburt – und ist erleichtert darüber. Auf ihre Arbeit verzichten möchte sie nicht. Damit bildet sie, wie Cornelia Mechler im Nachwort schreibt, „einen Gegenpol zur Mütterlichkeitsideologie der Zeit“.
Helene Böhlau: Der Rangierbahnhof. Herausgegeben von Carsten Dürkob. Igel Verlag, Hamburg 2011
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