Ljuba Jakymchuks silbische Frakturen
Zum Abschluss der Reihe zur ukrainischen Gegenwartsliteratur im Literaturportal Bayern stellt Kerstin Preiwuß die Lyrikerin Ljuba Jakymchuk vor, deren Gedichte an die neuere lyrische Tradition in Europa – etwa Inger Christensens – anschließen und sie zugleich weiterentwickeln.
*
Ljuba Jakymchuks Langgedicht Die Aprikosen des Donbas, das 2015 in der Ukraine erschienen ist, setzt ein mit der Zeile: „Dort wo keine Aprikosen mehr wachsen, fängt Russland an.“
Was folgt, ist ein Langgedicht, das die territoriale Grenze ins Vegetative verschiebt und über die Festlegung des Wachstums wie auch der Wahrnehmung und Verarbeitung der Aprikosen das russische und das ukrainische Territorium in einer Konsequenz voneinander abgrenzt, die kein Eroberungsfeldzug wird aufheben können. Zwar ist das Gebiet, aus dem die Familie der im Donbass sesshaft gewesenen Dichterin Jakymchuk mit dessen Eroberung durch russische Milizen im Jahr 2014 vertrieben wurde, seitdem unter russischer Herrschaft, die durch das Wachstum der Aprikosenbäume wahrnehmbare Grenze bleibt weiterhin bestehen – Aprikosen wachsen unabhängig von jeglichem Eroberungswillen.
Es besteht eine augenscheinliche eigentümliche Anschlussfähigkeit dieses Langgedichts und seiner ersten Zeile zu einem anderen hochberühmten Gedicht der Weltliteratur. „Die Aprikosenbäume gibt es / die Aprikosenbäume“ – so setzt Inger Christensens epochales Langgedicht alfabet ein, an dessen Ende jedoch diese zeitlose Gewissheit infolge atomarer Aufrüstung brüchig wird.
Formalexperimente der dänischen Weltlyrikerin und die Wiederbelebung der ukrainischen Avantgardedichtung der Dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts mitsamt ihres Instrumentariums durch Jakymchuk sind sich womöglich ähnlicher als man zuerst denkt. Wo Christensen die Entwicklung von Natur und Kultur in Parallelformeln paart, die sich entlang der Fibonacchi-Formel bis zu ihrem Abbruch potenzieren, lässt Jakymchuk die Silben der Städte, die erobert und zerstört werden, auseinanderfallen. „Ich zerlege Wörter um den Zerfall der Städte und Dörfer zu beschreiben, den Zerfall der gesamten Donbasregion, meinem Heimatland“, sagt sie einmal in einem Interview. In dem Gedicht decomposition fallen Orte wie Luhansk, Donezk und ihre Heimatstadt Pervomaiks wortwörtlich auseinander. Durch die Zerlegung der Sprache in Silben und Laute treten andere Geräusche in den Vordergrund: die des Krieges, der die Städte zerfallen und Menschen zerbrechen lässt und die bestehende Sprache an ihre Grenzen führt, sie umbricht, bis der Zerfall am Ende auch die Person mit einbezieht: no longer Ljuba / just a ba:
ZERFALL
An der Ostfront nichts Neues
wie lang so noch?
Metall wird vor dem Tod heiß
und Menschen kalt
erzählt mir doch nichts von Luhansk
es heißt schon lange bloß Hansk
Lu wurde dem roten Teer gleichgemacht
meine Freunde tragen Handschellen
do ch nach Do nezk gelange ich nicht
um die Gefesselten aus den Gelassen, den Kesseln zu lassen
und ihr schriebt Verse, wie bestickte Blusen so hübsch
schreibt ideale, glatte Gedichte
goldene, hohe Dichtung
über Krieg lässt sich nichts dichten
Krieg ist Zerfall
bloße Lettern
sie alle bloß rrr
Perwomajsk wurde zu Perwo und Majsk zerbombt
per foriert im Mai sk andalös quälend
und wieder endete ein Krieg dort
aber Frieden kam keiner
und wo ist De balzewo?
Mein Debalze wo?
Da wird kein De Saussure mehr geboren
da wird überhaupt kein Mensch mehr geboren
der Horizont, der mich umrundet
ein einziges spitzes Dreieck
Sonnenblumen auf einem Feld mit hängenden Köpfen
schwarz und trocken geworden, wie ich
bin so schrecklich alt schon
und auch nicht mehr Ljuba
bloß ba
(übersetzt von Beatrix Kersten)
Beeinflusst vom futuristischen Inventar einer verloren gegangenen Generation der „Erschossenen Renaissance“ ukrainischer Kunst und Literatur, das sie in Teilen wieder (er)findet, erweckt Jakymchuk jedoch nicht nur sprachliche Experimente der ehemaligen ukrainischen Avantgarde wieder zum Leben, sondern holt auch deren Dichter in das kulturelle Gedächtnis zurück.
Sehen kann man das durch die Verfilmung von Budynik Slowo aus dem Jahr 2017, einer Dokumentation über das Leben der Generation ukrainischer Schriftsteller, die später als „Erschossene Renaissance“ in die Geschichte eingegangen sind und die sich während der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts sich in Charkiw, der damaligen Hauptstadt der Moderne und des Holodomors, in besagtem Schriftstellerhaus aufhielten, das architektonisch wie ein C gebaut war und seit den Bombardierungen der letzten Jahre nicht mehr existiert. Sowohl die Dokumentation als auch der Spielfilm Budynik Slovo. Neskinchenyi roman („Haus Slovo. Unvollendete Geschichte“) von Taras Tomenko aus dem Jahr 2021, für den sie das Drehbuch schrieb, erzählt nun erstmals die Geschichte jener Schriftsteller wie Mykola Khvylovy, Pavlo Tychyna, Volodymyr Sosiura, Mykhailo Semenko und Mike Johansen. Semenko, den Jakymchuk als Vorbild für sich selbst beschreibt, stammt aus Kybynci, dem Dorf, in das sich ihre Familie flüchtete und in dem sie zur besseren Bekanntheit Semenkos das Festival „Metro nach Kybynzi“ organisierte. Ihr Vortrag über Semenko anlässlich des jährlichen Treffens deutscher und ukrainischer Schriftsteller in Charkiw 2017 führte zu einer Diskussion unter den ukrainischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, wie man sich im Krieg zu verhalten habe, während derer die Luft zum Schneiden war und wir Deutschen nur zuhörten, ob man als Held nun sterben solle oder ob es sinnvoller sei zu überleben, wie es Jakymchuk immer betonte. Am Abend danach sagte sie zu mir, ihr müsst uns für Tiere halten.
„Historische Ereignisse“, schreibt sie im Vorwort der englischen Ausgabe Apricots of Donbas, „beeinflussen nicht nur die Art und Weise, wie Menschen darauf reagieren. Sie wirken sich auch auf den Sprachgebrauch aus.“ Dass gesplitterte Sprache nach Granaten klingen wird wie von Victoria Amelina in dem Gedicht Keine Lyrik beschrieben, ist das eine. Das andere ist, wohin die Splitter fliegen und wen sie erreichen. Im Gedicht ich habe eine Krise mit dir wird das Wort Krieg durch das psychoanalytisch und im westlichen Vokabular geläufigere Wort „Krise“ ersetzt, was die Realität des Krieges auf bizarre Weise abschwächt.
...
- unsere Liebe ist spurlos verschwunden, – erkläre ich einem Freund
sie verschwand bei einem der Kriege
die wir in unserer Küche führten
- ersetze das Wort „Krieg” durch „Krise”, sagt er
alle haben doch Krisen
- weißt du noch, als die zweite Weltkrise war?
entsprechend auch die erste Welt-
und die Bürgerkrise – jeder hatte seine eigene
ich vergaß die Kalte Krise
davon gab es angeblich auch zwei
und die Befreiungskrise ist auch zu erwähnen
wie gut klingt das –
die Nationale Befreiungskrise 1648-1657
nehmt es doch so in die Lehrbücher auf
eine Krise, die befreit,
die für immer erlöst
mein Urgroßvater starb an der zweiten Weltkrise
vielleicht von der Hand meines anderen Urgroßvaters
oder von seinem Gewehr
oder von seinem Panzer
denn es ist unklar
wie sie diese Krise miteinander führten
ob die Krise selbst sie tötete, wie eine Seuche
denn an einer Krise ist niemand schuld
sie ist unabwendbar wie der Tod
und wenn unser beider Hauskrieg
sich in eine Krise verwandelt wird es dann leichter?
tut es weniger weh?
als ob die Vögel aus dem Süden zu uns zurückkehren?
was haben wir denn für eine Sprache –
uns fehlen Worte, um unsere Gefühle zu äußern,
es bleiben nur Krise und Liebe
wie Antonyme
...
Die jüngste Publikation von Jakymchuks Gedichten in deutscher Sprache verzeichnet die aktuelle Ausgabe der horen. Davor konnte man schon auf der Frankfurter Buchmesse, im Lyrik Kabinett München oder im Haus für Poesie in Berlin hören. Folgt man ihrer Dichtung weltweit, so ist zu verzeichnen, dass ihr Gedichtband Aprikosen im Donbass, der bereits 2015 auf Ukrainisch erschien, bereits sowohl in französischer (hier sogar noch als Hörbuch, eingesprochen von Catherine Deneuve) als auch in englischer Übersetzung existiert und nicht nur in der Ukraine vielfach ausgezeichnet wurde, sondern mittlerweile auch den International Poetic Award der Kovalev Foundation (NYC, USA) erhalten hat. Weitere Übersetzungen der Aprikosen ins Polnische, Estnische und Schwedische sowie einzelner Gedichte in mehr als zwanzig Sprachen liegen vor.
Es gibt also verhältnismäßig viel Reichweite weltweit und demgegenüber wenige Übersetzungen ins Deutsche. Allenfalls Übersetzungen anlässlich eines Treffens von Eine Brücke aus Papier in Charkiw 2017 und weitere Übersetzungen in den horen und in den manuskripten sind vorhanden.
Zuhören konnte man Jakymchuk zudem bei der Grammy-Verleihung 2022, während der sie zusammen mit John Legend ihr Gedicht Gebet vortrug, sowie auf den CDs Ukrainian Songs of Love and Hate, Fokstroty – Ukrainian Poetry Disco und Ukrainian Dead Poets Disco: Lyrik der 1920er Jahre zu neuen Klängen, die sie zusammen mit Irena Karpa, Grigory Semenchuk, Ulrike Almut Sandig, Yuriy Gurzhy und Serhij Zhadan performt.
Lyuba Yakimchuk, die schon lange in Kijiw lebt und zuletzt Teilnehmerin des International Writing Programm Iowa war, erlebte als Kind eine tiefe ökonomische Krise der Region als Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion. In dieser Zeit sammelten die Leute in ihrer Stadt Aprikosen ein und verkauften sie an den Zügen zwischen Moskau und Kijiw. Es gäbe jenseits der russischen Grenze keine Aprikosenbäume, sagte sie. Obwohl es unter russischer Besatzung ist, existiert die Grenze weiterhin, und, wie sie in einem Essay darlegt: „selbst, wenn wir unser Zuhause an dem Platz, an dem wir es verließen, nicht mehr wiederfinden werden, werden wir ein anderes aus einem Aprikosenkern heraus bauen.“
Hier geht es zum Überblicksartikel „Ukrainische Gegenwartsliteratur“.
Ljuba Jakymchuks silbische Frakturen>
Zum Abschluss der Reihe zur ukrainischen Gegenwartsliteratur im Literaturportal Bayern stellt Kerstin Preiwuß die Lyrikerin Ljuba Jakymchuk vor, deren Gedichte an die neuere lyrische Tradition in Europa – etwa Inger Christensens – anschließen und sie zugleich weiterentwickeln.
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Ljuba Jakymchuks Langgedicht Die Aprikosen des Donbas, das 2015 in der Ukraine erschienen ist, setzt ein mit der Zeile: „Dort wo keine Aprikosen mehr wachsen, fängt Russland an.“
Was folgt, ist ein Langgedicht, das die territoriale Grenze ins Vegetative verschiebt und über die Festlegung des Wachstums wie auch der Wahrnehmung und Verarbeitung der Aprikosen das russische und das ukrainische Territorium in einer Konsequenz voneinander abgrenzt, die kein Eroberungsfeldzug wird aufheben können. Zwar ist das Gebiet, aus dem die Familie der im Donbass sesshaft gewesenen Dichterin Jakymchuk mit dessen Eroberung durch russische Milizen im Jahr 2014 vertrieben wurde, seitdem unter russischer Herrschaft, die durch das Wachstum der Aprikosenbäume wahrnehmbare Grenze bleibt weiterhin bestehen – Aprikosen wachsen unabhängig von jeglichem Eroberungswillen.
Es besteht eine augenscheinliche eigentümliche Anschlussfähigkeit dieses Langgedichts und seiner ersten Zeile zu einem anderen hochberühmten Gedicht der Weltliteratur. „Die Aprikosenbäume gibt es / die Aprikosenbäume“ – so setzt Inger Christensens epochales Langgedicht alfabet ein, an dessen Ende jedoch diese zeitlose Gewissheit infolge atomarer Aufrüstung brüchig wird.
Formalexperimente der dänischen Weltlyrikerin und die Wiederbelebung der ukrainischen Avantgardedichtung der Dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts mitsamt ihres Instrumentariums durch Jakymchuk sind sich womöglich ähnlicher als man zuerst denkt. Wo Christensen die Entwicklung von Natur und Kultur in Parallelformeln paart, die sich entlang der Fibonacchi-Formel bis zu ihrem Abbruch potenzieren, lässt Jakymchuk die Silben der Städte, die erobert und zerstört werden, auseinanderfallen. „Ich zerlege Wörter um den Zerfall der Städte und Dörfer zu beschreiben, den Zerfall der gesamten Donbasregion, meinem Heimatland“, sagt sie einmal in einem Interview. In dem Gedicht decomposition fallen Orte wie Luhansk, Donezk und ihre Heimatstadt Pervomaiks wortwörtlich auseinander. Durch die Zerlegung der Sprache in Silben und Laute treten andere Geräusche in den Vordergrund: die des Krieges, der die Städte zerfallen und Menschen zerbrechen lässt und die bestehende Sprache an ihre Grenzen führt, sie umbricht, bis der Zerfall am Ende auch die Person mit einbezieht: no longer Ljuba / just a ba:
ZERFALL
An der Ostfront nichts Neues
wie lang so noch?
Metall wird vor dem Tod heiß
und Menschen kalt
erzählt mir doch nichts von Luhansk
es heißt schon lange bloß Hansk
Lu wurde dem roten Teer gleichgemacht
meine Freunde tragen Handschellen
do ch nach Do nezk gelange ich nicht
um die Gefesselten aus den Gelassen, den Kesseln zu lassen
und ihr schriebt Verse, wie bestickte Blusen so hübsch
schreibt ideale, glatte Gedichte
goldene, hohe Dichtung
über Krieg lässt sich nichts dichten
Krieg ist Zerfall
bloße Lettern
sie alle bloß rrr
Perwomajsk wurde zu Perwo und Majsk zerbombt
per foriert im Mai sk andalös quälend
und wieder endete ein Krieg dort
aber Frieden kam keiner
und wo ist De balzewo?
Mein Debalze wo?
Da wird kein De Saussure mehr geboren
da wird überhaupt kein Mensch mehr geboren
der Horizont, der mich umrundet
ein einziges spitzes Dreieck
Sonnenblumen auf einem Feld mit hängenden Köpfen
schwarz und trocken geworden, wie ich
bin so schrecklich alt schon
und auch nicht mehr Ljuba
bloß ba
(übersetzt von Beatrix Kersten)
Beeinflusst vom futuristischen Inventar einer verloren gegangenen Generation der „Erschossenen Renaissance“ ukrainischer Kunst und Literatur, das sie in Teilen wieder (er)findet, erweckt Jakymchuk jedoch nicht nur sprachliche Experimente der ehemaligen ukrainischen Avantgarde wieder zum Leben, sondern holt auch deren Dichter in das kulturelle Gedächtnis zurück.
Sehen kann man das durch die Verfilmung von Budynik Slowo aus dem Jahr 2017, einer Dokumentation über das Leben der Generation ukrainischer Schriftsteller, die später als „Erschossene Renaissance“ in die Geschichte eingegangen sind und die sich während der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts sich in Charkiw, der damaligen Hauptstadt der Moderne und des Holodomors, in besagtem Schriftstellerhaus aufhielten, das architektonisch wie ein C gebaut war und seit den Bombardierungen der letzten Jahre nicht mehr existiert. Sowohl die Dokumentation als auch der Spielfilm Budynik Slovo. Neskinchenyi roman („Haus Slovo. Unvollendete Geschichte“) von Taras Tomenko aus dem Jahr 2021, für den sie das Drehbuch schrieb, erzählt nun erstmals die Geschichte jener Schriftsteller wie Mykola Khvylovy, Pavlo Tychyna, Volodymyr Sosiura, Mykhailo Semenko und Mike Johansen. Semenko, den Jakymchuk als Vorbild für sich selbst beschreibt, stammt aus Kybynci, dem Dorf, in das sich ihre Familie flüchtete und in dem sie zur besseren Bekanntheit Semenkos das Festival „Metro nach Kybynzi“ organisierte. Ihr Vortrag über Semenko anlässlich des jährlichen Treffens deutscher und ukrainischer Schriftsteller in Charkiw 2017 führte zu einer Diskussion unter den ukrainischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, wie man sich im Krieg zu verhalten habe, während derer die Luft zum Schneiden war und wir Deutschen nur zuhörten, ob man als Held nun sterben solle oder ob es sinnvoller sei zu überleben, wie es Jakymchuk immer betonte. Am Abend danach sagte sie zu mir, ihr müsst uns für Tiere halten.
„Historische Ereignisse“, schreibt sie im Vorwort der englischen Ausgabe Apricots of Donbas, „beeinflussen nicht nur die Art und Weise, wie Menschen darauf reagieren. Sie wirken sich auch auf den Sprachgebrauch aus.“ Dass gesplitterte Sprache nach Granaten klingen wird wie von Victoria Amelina in dem Gedicht Keine Lyrik beschrieben, ist das eine. Das andere ist, wohin die Splitter fliegen und wen sie erreichen. Im Gedicht ich habe eine Krise mit dir wird das Wort Krieg durch das psychoanalytisch und im westlichen Vokabular geläufigere Wort „Krise“ ersetzt, was die Realität des Krieges auf bizarre Weise abschwächt.
...
- unsere Liebe ist spurlos verschwunden, – erkläre ich einem Freund
sie verschwand bei einem der Kriege
die wir in unserer Küche führten
- ersetze das Wort „Krieg” durch „Krise”, sagt er
alle haben doch Krisen
- weißt du noch, als die zweite Weltkrise war?
entsprechend auch die erste Welt-
und die Bürgerkrise – jeder hatte seine eigene
ich vergaß die Kalte Krise
davon gab es angeblich auch zwei
und die Befreiungskrise ist auch zu erwähnen
wie gut klingt das –
die Nationale Befreiungskrise 1648-1657
nehmt es doch so in die Lehrbücher auf
eine Krise, die befreit,
die für immer erlöst
mein Urgroßvater starb an der zweiten Weltkrise
vielleicht von der Hand meines anderen Urgroßvaters
oder von seinem Gewehr
oder von seinem Panzer
denn es ist unklar
wie sie diese Krise miteinander führten
ob die Krise selbst sie tötete, wie eine Seuche
denn an einer Krise ist niemand schuld
sie ist unabwendbar wie der Tod
und wenn unser beider Hauskrieg
sich in eine Krise verwandelt wird es dann leichter?
tut es weniger weh?
als ob die Vögel aus dem Süden zu uns zurückkehren?
was haben wir denn für eine Sprache –
uns fehlen Worte, um unsere Gefühle zu äußern,
es bleiben nur Krise und Liebe
wie Antonyme
...
Die jüngste Publikation von Jakymchuks Gedichten in deutscher Sprache verzeichnet die aktuelle Ausgabe der horen. Davor konnte man schon auf der Frankfurter Buchmesse, im Lyrik Kabinett München oder im Haus für Poesie in Berlin hören. Folgt man ihrer Dichtung weltweit, so ist zu verzeichnen, dass ihr Gedichtband Aprikosen im Donbass, der bereits 2015 auf Ukrainisch erschien, bereits sowohl in französischer (hier sogar noch als Hörbuch, eingesprochen von Catherine Deneuve) als auch in englischer Übersetzung existiert und nicht nur in der Ukraine vielfach ausgezeichnet wurde, sondern mittlerweile auch den International Poetic Award der Kovalev Foundation (NYC, USA) erhalten hat. Weitere Übersetzungen der Aprikosen ins Polnische, Estnische und Schwedische sowie einzelner Gedichte in mehr als zwanzig Sprachen liegen vor.
Es gibt also verhältnismäßig viel Reichweite weltweit und demgegenüber wenige Übersetzungen ins Deutsche. Allenfalls Übersetzungen anlässlich eines Treffens von Eine Brücke aus Papier in Charkiw 2017 und weitere Übersetzungen in den horen und in den manuskripten sind vorhanden.
Zuhören konnte man Jakymchuk zudem bei der Grammy-Verleihung 2022, während der sie zusammen mit John Legend ihr Gedicht Gebet vortrug, sowie auf den CDs Ukrainian Songs of Love and Hate, Fokstroty – Ukrainian Poetry Disco und Ukrainian Dead Poets Disco: Lyrik der 1920er Jahre zu neuen Klängen, die sie zusammen mit Irena Karpa, Grigory Semenchuk, Ulrike Almut Sandig, Yuriy Gurzhy und Serhij Zhadan performt.
Lyuba Yakimchuk, die schon lange in Kijiw lebt und zuletzt Teilnehmerin des International Writing Programm Iowa war, erlebte als Kind eine tiefe ökonomische Krise der Region als Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion. In dieser Zeit sammelten die Leute in ihrer Stadt Aprikosen ein und verkauften sie an den Zügen zwischen Moskau und Kijiw. Es gäbe jenseits der russischen Grenze keine Aprikosenbäume, sagte sie. Obwohl es unter russischer Besatzung ist, existiert die Grenze weiterhin, und, wie sie in einem Essay darlegt: „selbst, wenn wir unser Zuhause an dem Platz, an dem wir es verließen, nicht mehr wiederfinden werden, werden wir ein anderes aus einem Aprikosenkern heraus bauen.“
Hier geht es zum Überblicksartikel „Ukrainische Gegenwartsliteratur“.