Info
12.03.2025, 09:44 Uhr
Irena Karpa
Text & Debatte

Über den Schriftsteller und Herausgeber Jurij Isdryk

Schriftsteller, Lyriker, Performer, Zeichner – all das steckt in dem 1962 geborenen Schriftsteller und Herausgeber Jurij Isdryk, der 2025 den Schewtschenko-Preis, die höchste literarische Auszeichnung der Ukraine erhalten hat. Inzwischen schweigt der Autor gern oder erzählt seine Geschichten nur mündlich. Eine Hommage.

*

„Du kann einen ja richtig auf die Folter spannen, echt Stephen King! Ich warte schon seit einer Woche!“, sagt er, als wir uns endlich telefonisch erwischt haben. „Warum dieser Nervenkitzel? Damit der Alte dahockt und Vitamine frisst?“

Das mit dem Nervenkitzel ist absolut korrekt: Wenn du weißt, dass dein Lieblingsautor seit 2019 keine Interviews oder Ähnliches von sich gegeben hat, dann belastet das irgendwie, und man schiebt den Anruf vor sich her. Und die Sache mit dem Alten – naja, Jurko Isdryk hat bereits Enkelkinder. Das passiert früher oder später mit den Sexsymbolen unserer Jugend.

Vielleicht wäre es jetzt angebracht, ganz traditionell die Fakten seiner Biografie abzuspulen: Ingenieursstudium an einer Fachhochschule (Polytechnikum), professioneller Cellospieler, Einsatz als Liquidator bzw. Aufräumer in Tschernobyl nach dem GAU, Gründer der Zeitschrift Chetver („Donnerstag“). Ich könnte noch die antisowjetische Einstellung seiner Familie und besonders seines Großvaters, eines ins sibirische Workuta verbannten Priesters, erwähnen, nach dem heute eine Straße in einem Dorf in der Nähe von Lwiw benannt ist, wo er nach der Verbannung den Rest seines Lebens verbrachte. Aber Isdryk bat mich, das zu unterlassen: „Die Beziehung zur Vergangenheit ist so, dass man sie vergisst, um leichter zu leben. Man will sie doch nicht ewig mit sich herumschleppen, oder?“

Es ist besser, über die Gegenwart zu sprechen, denn Erinnerungen werden einfach gelöscht, wenn sie nicht in Texten mythologisiert werden. So erinnert sich Isdryk z. B. kaum an seine Zeit im Kernkraftwerk Tschernobyl: „Ich habe keine einzige Zeile über Tschernobyl geschrieben, und ich wollte es auch nicht.“

Das erste Mal hörte ich das seltsame Wort „Isdryk“ in meinem ersten Studienjahr an der Uni, damals, als ich wieder anfing, Bücher zu lesen. Sie wissen ja, wie das bei Teenies ist – selbst wenn man als Kind viel gelesen hat, interessiert man sich als Pubertier doch mehr für lebende Gleichaltrige des anderen Geschlechts als für tote Dichter. Und dann entdeckt man plötzlich, dass Dichter und Schriftsteller sehr lebendig sein können und ihre Texte nicht den Wunsch aufkommen lassen, im Hörsaal einzuschlafen. Denn sie schreiben in einer lebendigen Sprache über Dinge, die hier und jetzt aktuell sind. Und in diesen Texten fehlt es weder an Tiefe verworrener Symbole, die einen lange nach der Lektüre nicht loslassen, noch an Sex und Leidenschaft, die in postsowjetischen Schulen züchtig verschwiegen wurden.

Wie einen Zauberspruch wiederholte ein befreundeter Musiker die Namen „Andruchowytsch, Isdryk, Jeschkilew, Prochasko ...“. Er stammte wie die genannten Autoren aus Iwano-Frankiwsk, dem früheren Stanislaw. Die genannten und andere Schriftsteller, die die neueste ukrainische Literatur schrieben, sowie die alternativen Musiker, die, anstatt russischen Rock oder postsowjetische Popsa zu imitieren, schamlos auf Originalität setzten – etwa Faktytschno Samy, Perkalaba, Morra und andere – schufen das „Stanislawer Kunstphänomen“. Es geht der Witz um, dass irgendwas an dem Wasser in dieser Stadt besonders sein muss ...

Aber zurück zu Isdryk.

Die Insel Krk und Der doppelte Leon, über die ich in fünf Jahren meine Magisterarbeit schreiben würde, schluckte ich im Alter von 19 Jahren wie Alice die Zauberpillen. Diese Texte mit ihren dunklen Einsichten, Geschichten von fremden Lieben, Wortspielen und Rhythmen führten mich in einen Kaninchenbau, aus dem ich nicht mehr herauswollte. Stattdessen wollte ich selbst schreiben. Die Finsternis eines andern bot mir Einblick in meine eigenen dunklen Seiten: Kreativität erzeugt Kreativität.

Als ich letzten Sommer in Lutsk auf Isdryks Auftritt auf der Bühne des Frontera-Festivals wartete, wurde mir plötzlich klar, dass ich ihn genau mein halbes Leben lang kannte. Eben er war es gewesen, der mein Debüt, eine Erzählung in der Literaturzeitschrift Chetver – einem magischen Portal für angehende Schriftsteller – veröffentlichte. Das war zu einer Zeit, als es noch keine sozialen Netzwerke gab, und diese Zeitschrift brachte eine ganze Plejade von Autoren auf die Welt, die heute noch aktuell sind: Deresch, Zhadan, Prochasko, Babkina, Kijanovska ... Die Liste ist lang, sehr lang. Insgesamt hat Isdryk 30 bis 40 ukrainische Schriftsteller für die Welt „entdeckt“.
„Das ist mein größter Erfolg im Leben nach meinem Abschied vom Alkohol,“ sagt er.

Die Texte in Chetver begeisterten die Generation der 2000er Jahre allerdings weniger, sie hatte bereits ihre Live-Magazine und Foren in verschiedenen so genannten Samvydav, also unabhängigen Eigenpublikationen. Jedoch hatte keines auch nur annähernd die Qualität und Bedeutung von Chetver. Keines davon erreichte Kultstatus.

Isdryk selbst versteht nicht, warum sich heutzutage die vielen Autoren, die veröffentlicht werden wollen, nicht auf einer Plattform mit künstlicher Intelligenz zusammenschließen und Multimedia-Projekte erschaffen: „Die Generation Z ist seltsam: Sie ist die einzige, die keine eigenen Subkulturen geschaffen hat und der es nichts ausmacht bis zum Alter von 30 Jahren bei den Eltern zu leben. Sie sind irgendwie andere Menschen mit anderer Selbstrealisierung.“

„Ich mache einfach.“

Es regnet in Lutsk. Es ist kühl geworden. Und als Isdryk die Bühne betritt, beginnt ein regelrechter Sturm. Er stülpt die Regenschirme der Leute um, bläst den Zeltpavillon weg, unter dem sich die Tontechniker mit ihrer Ausrüstung verstecken und wirft Plastikstühle um. Doch Isdryk hat noch immer sein gewohntes Pokerface. Ohne seine Old-School-Sonnenbrille abzunehmen, macht er das, wofür er gekommen ist: sein Stand-up.

Das Genre des literarischen Stand-up ist in der Ukraine vor nicht allzu langer Zeit entstanden. Während des Krieges waren Comedians besonders gefragt – ein Ausdruck der Resilienz in der Ukraine, „um nicht zu weinen, hab ich gelacht“, wie schon die Klassikerin Lesja Ukrajinka sagt. Nicht alle Schriftsteller haben Sinn für Humor und zudem die Fähigkeit, live auf der Bühne zu improvisieren, aber die es können, haben den Jackpot sicher. Sie sind mehr als Schriftsteller und mehr als Comedians. Isdryk ist einer von ihnen.

„Nenn mich nicht Leonard Cohen, ich bin eher wie Pierre Richard. Eine komische Figur." Als ich entgegne, dass er wahrscheinlich ein bisschen mehr ist als nur eine komische Figur, zuckt er mit den Schultern: „Samuel Beckett ist unser Gott“. Und wenn ich seinen Auftritt eine One-Man-Show nenne, winkt er ab: „Eine One-Man-Show muss man vorbereiten. Und ich mache einfach, improvisiere. Was für eine Mono-Performance denn? Ich verscherble Biografien, Fick- und Liebesgeschichten. Den Ekel gegenüber mir selbst und allen!“

Auf der Bühne erzählt Isdryk zunächst, wie er sein Leben zu dem wurde, wie es nun ist und liest dann über die Liebe aus einem rosafarbenen Band mit dem Titel Die Faulen und die Zärtlichen seine kürzlich erschienenen Gedichte.

Manchmal bedeutet lieben zu schweigen
das Schweigen als Tod zu akzeptieren
und wachsam auf dem Wachtturm zu wachen, 
einer Stadt, die bis auf den Grund zerstört ist
um die Ruinen der Grasmauer zu schützen
Schöllkraut Brennnessel Melden
als ob das das Wichtigste ist
als ob das das Unglück abwendet ...

Und wenn das nach Poesie dürstende Publikum kurz davor ist, eine Träne zu vergießen, wechselt er schnell das Thema. Natürlich interessiert ihn nicht, wohin sich die Welt dreht: ein neues Mittelalter oder eine Postapokalypse wie in Hollywood-Filmen, das spielt keine Rolle. Die Menschheit hat ausgespielt, es ist vorbei – aber das ist gut so, vielleicht reinigt sich die Natur ein wenig. Bei dieser Gelegenheit rezitiert Isdryk einen lakonischen Einzeiler:

„Alle Schwänze sind Fotzen.“

Doch der Planet, fügt er hinzu, wird überleben. Noch ist er nicht ganz zerkocht. Es gibt so wunderbare Pilze und Bakterien ...

Mehrere Damen stehen daraufhin entrüstet auf und gehen hinaus, andere nehmen sofort ihren Platz ein. Die Menschen drängen sich noch enger unter den kaputten Schirmen zusammen und hören noch aufmerksamer zu. Das ist der Prozess der Auslese „seines“ Publikums in Echtzeit.

„Früher war mir meine Zielgruppe glasklar: Frauen 35+, mit höherer Bildung, geschieden, mit einem Kind. Aber jetzt kommen nach meinen Auftritten auch einige Jungs zu mir: „Mann, wir haben in der Schule über Sie gelesen!“ Man schaut sie an und versteht das Niveau ihrer intertextuellen Kompetenz einfach nicht. Schließlich müssen die Leute ja nicht lesen, was du gelesen hast, ja, es wurde ihnen nur gesagt, dass du cool und witzig bist, und sie sind gekommen. Bei Live-Auftritten gibt es keine Zitate. Keine Postmoderne.“

Während ich seinem Auftritt zuhöre, erlebe ich plötzlich ein Flashback: Ich bin 19 oder 20, Isdryk trifft mich am Bahnhof in Lwiw, um mir ein Exemplar von Chetver zu überreichen, er trägt ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck: I hate everybody. „Ach, so eines hätte ich auch gerne …“, denke ich neidisch.

„Ich schenke es dir“, sagt er ein Jahrzehnt später. „Für mich ist es nicht mehr aktuell. Jetzt liebe ich alle.“

Hätten „alle“ damals die Liebe erwidert, hätte Isdryk nie angefangen, die Gedichte zu schreiben, die er jetzt auf der Bühne vorträgt. Doch so hat die nicht triviale Geschichte einer platonischen Liebe zu einer verheirateten Sängerin einen hartgesottenen Prosaiker zum Dichter gemacht.

Ljena, weißt du, deine Haare ...
Ljena, weißt du, dein Körper
ist wie ein Sommer irgendwo in Bosnien
der verbrannt und weggeflogen ist,
und alles, was übrig ist, ist weiße Asche
und ein paar Strähnen hellen Leinens,
doch der Sommerkörper ist doch ein Körpersommer
wieder nach einem Dutzend Bahnübergänge ...
Das ist dein Sommer, Ljena.

Diese Worte dröhnen oft in meinem Kopf wie ein Lied von DrumTyatr, dem Musikprojekt von Isdryk und einem anderen Dichter, Hrytsko Sementschuk. Zehn Jahre lang trat die Band mit einer intellektuellen Mischung aus elektronischer Musik und Poesie auf.

Irena Karpa (c) Anastasia Nikiforova

„Ich mag die Menschen als Spezies nicht.“

„Ich habe bis zu meinem 50. Lebensjahr keine poetischen Texte veröffentlicht, und weder meine Kollegen noch die Kritiker haben mich je als Dichter gesehen (und sehen mich auch heute nicht so).“ Aber die Leser sehen es so. Und egal, wie sehr sich Isdryk als Soziopath, Outsider oder Misanthrop gibt, er gibt den Menschen Hoffnung. Erstens, dass Liebe auch im reiferen Alter existiert. Zweitens, dass man in eben diesem reifen Alter eine völlig neue Art von Kreativität entwickeln kann.

„Blöd ist freilich, als ich mit 50 anfing, Gedichte zu schreiben, ich sieben Jahre lang jeden Tag ein Gedicht versaut hab – das hat etwas Heroisches, really.“

Meiner Meinung nach ist es für einen „Misanthropen“ heldenhaft, eine Tournee durch vierzehn ukrainische Städte auszuhalten: eineinhalb Stunden Live-Performance für ein Publikum von 300 – 500 Menschen und das jedes Mal!

„Ich mag die Menschen als Spezies nicht. Ich mag nur einzelne Vertreter, die der Natur geglückt sind. Doch wenn man die Bühne betritt, muss man sozial sein, muss die Leute zumindest dafür respektieren, dass sie gekommen sind, dasitzen und zuhören. Ich behandle sie mit Respekt und das kostet Kraft.“

Er sagt, dass es langweilig ist, Gedichte vorzutragen, weil er seit sieben Jahren keine Gedichte mehr geschrieben hat. Also erzählt er die Geschichten, wie diese Gedichte entstanden sind.

„Gegen Ende der Lesereise war es total nervig, auf die Bühne zu gehen: Du bist 62 Jahre alt, fährst herum und liest Liebesgedichte, dabei erzählst du den Leuten, dass das Leben scheiße ist, als ob sie das nicht selbst wüssten!“

Es regnet weiter in Lutsk.

„Wo ist Isdryk? Haben Sie Isdryk gesehen?“ Die Menschen stehen in drei verschiedenen Richtungen aufgereiht, schauen sich an und tuscheln ängstlich. Alle wollen sich ihre Exemplare von Die Faulen und die Zärtlichen signieren lassen, alle wollen die Legende anfassen.

Viele meiner Freunde und Bekannten haben sich den Film Ich und Feliks von Irina Tsilyk über die frühen Neunziger angesehen. Allein schon deshalb, weil Isdryk die Hauptrolle spielte: „Der hat so eine Textur, der kann sich einfach in Szene setzen und Isdryk spielen –  und der Oscar ist garantiert!“

Der Film ist im Übrigen sehr wahrheitsgetreu. Und Isdryk ist es auch – er hat nie versucht, als ein anderer zu erscheinen, als er wirklich ist. Er hat keine mysteriösen Geschichten über sich erfunden, hat nicht künstlich das Image eines Helden und Liebhabers aufgeblasen, wie es männliche Autoren mit ihren zarten Egos so gern tun.

Isdryk beeindruckt anders. Er ist ungeschminkt und ehrlich.

„Zum ersten und letzten Mal habe ich drei Thesen aufgestellt: ‚Das Leben ist Scheiße‘ – ‚Der Mensch ist ein Gestell mit Scheiße‘ und ‚Wir werden alle sterben‘. Es gab eine lebhafte Reaktion in der Bevölkerung.“

So hat Isdryks melancholischer Stand-up seine Existenzberechtigung gefunden. Und wenn Isdryk die Bühne verlässt, hört er nicht auf, sondern macht einfach mit seinem normalen Leben weiter. The Show must weitergehen.

„Schweigen ist mein Produkt.“

Als er Facebook verließ, verlor er seine Art sozialer Kontakte – der Mensch sei ein Herdentier, meint er. Früher bekam er viele Likes für seine Gedichte, aber womit soll er jetzt unter die Leute gehen.

„Schweigen ist mein Produkt“.

Aber dieses Produkt ist auf dem Markt billig zu haben. Also erklärt er sich zähneknirschend bereit, eine Lesereise durch die Ukraine zu machen: Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen und die Armee zu unterstützen, wie es jeder normale ukrainische Künstler jetzt macht. Odessa, Saporischschja und das fast tote Cherson ... Je näher man an der Front ist, desto eher sind die Menschen bereit, über den Krieg in einem dunkelhumorigen Ton zu sprechen, sagt Isdryk.

Die Ukrainer haben unterschiedliche Kriegserfahrung. Es gibt Menschen, die eine Bombardierung überlebt haben, ihre Häuser verloren haben, gezwungen waren, umzuziehen, und es gibt Menschen, die in relativer Sicherheit zu Hause leben. All dies wird noch lange in der Gesellschaft köcheln. Auf der Bühne darüber zu sprechen, ist wie eine kollektive Therapie, so etwas wie ein Treffen anonymer Alkoholiker.

„Der Mensch ist nicht die Krönung der Natur, sondern ein Gartenhaus. So funktioniert die Evolution. Da drüben ist ein Balkon, und da ein Schlupfloch... Jeder wird sterben, und es ist besser, früher als später zu sterben. Krieg ist nicht Krieg, Cholera ist nicht Cholera. Im Internet kann man das nicht sagen, aber bei einem ausgewählten Live-Publikum kommt es sehr gut an. Auch wenn zuweilen patriotische alte Damen anschließend in die Stadtverwaltung stürmen und schreien: „Wen haben Sie denn da eingeladen?“

Isdryk ist es gewohnt, ein Außenseiter zu sein. Seit seiner Kindheit in einer sowjetischen Schule, wo seine Eltern ihm nach der Schule unzweideutig zu verstehen gaben, dass er nicht alles glauben soll, was man dort sagt. Zudem war die Mutter keine Einheimische, sie war aus Wolhynien. „Jeder hatte Tanten und Onkel, doch ich hatte Oheime und Muhmen. Auch in der Literatur kann man mich nirgends einsortieren.“

Doch sonst ist der Mensch von Natur aus konformistisch. „Der Wunsch, sich der Mehrheit anzuschließen, ist ein grundlegender biologischer Mechanismus“, meint Isdryk. „Wenn man anders ist, bedeutet das eine Menge Stress. Wenn du merkst, dass du ein Außenseiter und Misanthrop bist, dann vermeide bloß, eine öffentliche Person zu sein.“ Andererseits gibt er ehrlich zu, dass er die Likes unter einem neu veröffentlichten Gedicht oder die Aufmerksamkeit des Publikums genießt: „Es ist wie beim Sex.“ Man will es, und es brennt. Es ist angenehm und peinlich zugleich. Einfach geile pleasure.“

Von Zeit zu Zeit wird Isdryk eingeladen, ins Ausland zu reisen: Warschau, Prag, Amsterdam. Er lehnt ab. „Wozu der ganze Stress? Ich habe euer Europa gesehen, ich will nicht mehr weg, mir geht’s hier gut.“ Mich zu Hause einzuschließen, zu schweigen und soziale Kontakte in therapeutischen Dosen zuzulassen – so halte ich das Gleichgewicht.

Heute lebt er in Kalusch, nicht weit von Iwano-Frankiwsk. Im selben Haus, in dem er geboren wurde. Er betrachtet sein Zuhause als einen Ort der Kraft und nennt es scherzhaft „Sanatorium Kalusch“. Die gleichnamige Stadt war einst ein großes Zentrum der Chemieindustrie. Isdryk verbrachte seine Kindheit mit dem Geruch von Chlor. Jetzt hat sich alles verändert, es gibt dreimal weniger Menschen. Und die Natur ist so sauber geworden, dass in den ehemaligen Wasserreservoirs saubere Seen entstanden sind.

„Ich bin hierher vor der Welt geflohen, ich verstecke mich hier. Es ist jedes Mal sehr unangenehm, hier wegzugehen. Hier ist mein Platz, hier fühle ich mich wohl."

„Ich glaube nicht, dass Literatur weiter existieren wird.“

Isdryk lebte früher in Lwiw, einer Stadt mit einer aktiven Kulturszene, Jazz- und Literaturfestivals. Wie verbringt er seine Tage im ruhigen Kalusch?

„Ich lege mich den ganzen Tag lang hin und versuche, die Zeit schneller vergehen zu lassen“, sagt er. „Ich denke gerne daran, dass ich eines Tages sterben werde, am besten bald, denn ich habe es satt, mir diese Scheiße um mich herum anzusehen.“

Er sieht sich auch Filme an. Alte Filme, keine, die nach den 1970er Jahren in die Kinos kamen. Kubrick, Coppola, den jungen Spielberg. Er glaubt, dass das Kino seither gestorben ist und das Einzige, was noch lebt, die Musik ist. Einmal in der Woche geht Isdryk zu einer Jamsession nach Iwano-Frankiwsk: „Da kommen vier Jungs zusammen, rauchen Zeugs und spielen nach Herzenslust, was ihnen gefällt.“

Sein Tag ist durch die Fütterung der Meisen strukturiert – sie haben drei Mahlzeiten am Tag.

Einmal alle sechs Monate kommen seine Freundinnen in sein Sanatorium Kalusch. „Die würdigsten Frauen der Ukraine ... und beweisen einmal mehr, dass in aller Stille das Matriarchat angebrochen ist.“ Am besten, sagt er, ist es im Sommer – da kann man auf dem Balkon im Gestrüpp sitzen und Gras rauchen. „Ja, von Zeit zu Zeit kommen ein paar seltsame Hipster vorbei – wer seid ihr, frage ich? Was denn für ein Sextourismus?“

Als ich ihn frage, was mit seinen Büchern geschehen wird, sagt Isdryk einfach, dass er, seit er 50 Jahre alt ist, keine Belletristik mehr liest. „Warum auch? Ich kann mir selbst was ausdenken.“

Stattdessen hat er angefangen, akademische Vorträge anzuhören. Zunächst wie man aus der Alkoholsucht herauskommt. Dann kamen Neurophysiologie, Anthropologie und Quantenphysik hinzu.

„Ich hörte zu und merkte, dass ich dumm wie Stroh war. Und jetzt bin ich weise, alt und glücklich.“

Ich klammere mich an seinen Satz „Ich kann mir selbst was ausdenken“. So leidenschaftlich ich auch die Poesie verehre, so sehr vermisse ich ein neues Prosabuch von Isdryk.

„Die Literaturszene geht mit allen Errungenschaften der Zivilisation in ’n Arsch“, sagt er. „Bald wird der Lebensstandard auf dem Planeten so sein wie im Gazastreifen: alte Handys und Tablets, alle tragen Plastesandalen. Ich glaube nicht, dass Literatur weiter existieren wird. Wenn sie drucken, was der Markt braucht, ist es wie beim Eurovision Song Contest. Die Mehrheit gewinnt. Auch in Politik und Kultur – alles Eurovision. Ich will nicht für die Mehrheit schreiben. Ich kann meinem vertrauten Kreis alles mündlich erzählen."

Worin besteht dann das Vergnügen des kreativen Prozesses?

„Ein Schriftsteller wird in der Phase der Idee, des Erfindens high. Wenn man dann das Buch schreibt, ist das harte schwarze Arbeit. Und dann kommt auch noch der Lektor ins Spiel. Da ist’s endgültig mit dem Spaß vorbei. Ich streife lieber herum und finde etwas Interessantes auf den Feldern.“

Er hat das Interesse verloren, Menschen zu beobachten: „Wäre ich dreißig oder vierzig Jahre und wäre ich Anthropologe, dann wäre es interessant, euch zu beobachten. Aber jetzt nicht mehr. Demenz und Parkinson warten auf mich. In der Zwischenzeit wird die Welt in Aktivisten und Terroristen aufgeteilt.“

Während ich diesen Text schreibe, schickt mir Isdryk eine eingescannte Auswahl seiner Grafiken. Er sagt: „Um deine Stimmung zu heben, damit du dich beim Schreiben nicht langweilst. Ich habe diese Bilder mit einem Kugelschreiber in ein Notizbuch gezeichnet, damit ich nicht vor Langeweile durchdrehe, als ich drei Monate lang im Krankenhaus lag.“

Ich öffne die Datei und erstarre: Die Werke sind genial. Ich sage: „Hey, ich kaufe sie, und wenn du als erstes stirbst, verkaufe ich sie für viel Geld und werde reich. Der „weise, alte und glückliche“ Isdryk stimmt zu.

Außerdem, wenn man Isdryk glaubt, werden wir alle sterben. Und dieser Gedanke ist sehr erbaulich.

Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil.

Hier geht es zum Überblicksartikel „Ukrainische Gegenwartsliteratur“.