Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 7: Gabriele Reuter, Aus guter Familie (1895)
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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Im Herbst 1895 erscheinen zwei Romane, deren Protagonistinnen letztlich an der Unbarmherzigkeit der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse zugrunde gehen. Der eine Roman ist Effi Briest von Theodor Fontane, der andere Aus guter Familie von Gabriele Reuter. Beide Romane sind erfolgreich und werden mehrfach nachgedruckt. Aus guter Familie wird zum Identifikationsbuch einer ganzen Generation und die Autorin über Nacht berühmt.
Der Roman beginnt mit dem Tag von Agathes Konfirmation und endet zwanzig Jahre später in ihrem geistigen Verfall. Dazwischen entfaltet sich die Geschichte ihres Lebens, das von einer unglücklichen Liebe geprägt ist. Als Mädchen aus einer höheren Gesellschaftsschicht werden ihr Gefühle nicht zugestanden. Später erhält sie einen Heiratsantrag, doch die Eheschließung scheitert an der Tatsache, dass ihr Bruder ihre Mitgift verspielt hat. In der Folge bleiben Agathe nur noch wenige Möglichkeiten, ihr Leben sinnvoll zu gestalten. Sie probiert verschiedene Wege aus, doch resigniert zunehmend und wird schließlich in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert. Ihr tragisches Schicksal wird durch die scheinbar günstige Ausgangssituation und ihre hohe Anpassungsbereitschaft noch verstärkt. Diese Bereitwilligkeit, die von den bürgerlichen Frauen ihrer Zeit erwartet wird, erweist sich letztlich als der entscheidende Faktor, der sie in den Wahnsinn treibt: „Mit Bädern und Schlafmitteln, mit Elektrizität und Massage, Hypnose und Suggestion brachte man Agathe im Laufe von zwei Jahren in einen Zustand, in dem sie aus der Abgeschiedenheit mehrerer Sanatorien wieder unter der menschlichen Gesellschaft erscheinen konnte, ohne unliebsames Aufsehen zu erregen.“
Gabriele Reuter erzählt mit ungeschminkter Härte und Anschaulichkeit. Ihr Text bietet kaum Anlass zum Schmunzeln, im Gegensatz zu Theodor Fontane, da ihre Themen zumeist von ernstem und häufig bitterem Charakter sind. Alles Geschehen konzentriert sich auf Agathe, die unter den gesellschaftlichen Regeln leidet, während die Männer genau davon profitieren. Auch als sie sich auflehnt – gegen eine männlich definierte Sexualität, gegen die patriarchale Familie, die vorherrschende Bigotterie und einen selbstgefälligen Konservatismus – ändert sich nichts, weil sie bereits selbst zu sehr Teil dieses Werte- und Normensystems ist.
Reuters weiblicher Blick hat über die Jahrzehnte hinweg ihre Wahrnehmung verhindert. Dabei erzählt ihre „Leidensgeschichte eines Mädchens“ aus bürgerlichem Hause die Geschichte vieler Mädchen und Frauen ihrer Zeit. Der Lebens- und Leidensweg der Agathe Heidling im wilhelminischen Deutschland erscheint als „Jungfrau, Gattin und Mutter“ vorgezeichnet und entspricht dem Rollenverständnis ihrer Zeit. Doch so wie Reuter ihr Schicksal schildert, ruft es auf zu Besinnung und Umkehr. 1904 schrieb der österreichische Schriftsteller Karl Federn über Gabriele Reuters Erfolg:
Nicht alle Mädchen „aus guter Familie“ gehen so armselig zugrunde, wie die unglückliche Heldin ihres Romans, aber nur sehr wenig Mädchen aus guter Familie wird es geben, deren Schicksal und Entwicklung nicht irgendwie durch die gleichen törichten Schranken gehemmt und gestört worden, in deren Charakter nicht eine Spur der Jämmerlichkeiten der „guten Familie“ verhängnisvoll geblieben ist. Darum hat das Buch auch einen so überaus starken Erfolg gehabt.
Gabriele Reuter ist die Tochter eines international tätigen Kaufmanns. Ihre Kindheit verbringt sie in Dessau und in Alexandrien. Nach dem Tod des Vaters kehrt die Familie nach Deutschland zurück. Dann aber verliert die Familie 1873 ihr gesamtes Vermögen. 1890 zieht Reuter mit ihrer Mutter nach München in dem Wunsch, sich der Schwabinger Bohème anzuschließen. Auf der Gründungsfeier einer literarischen Gesellschaft kommt ihr die Idee zu ihrem Erfolgsroman Aus guter Familie. Durch die Vermittlung von befreundeten Autoren wie Gerhart Hauptmann lernte sie in Berlin den Verleger Samuel Fischer kennen, der den Roman schließlich veröffentlichte. Sein Erfolg machte Gabriele Reuter über die literarischen Kreise hinaus bekannt: „Es ist dies ein Buch von so fürchterlicher, aufrüttelnder Wahrheit, so ganz und gar überzeugend, es schreit seine vernichtende Anklage mit so durchdringender Stimme in die Welt, daß man zunächst ganz vergessen wird, nach seinen künstlerischen Eigenschaften zu fragen. Und dennoch ist es künstlerisch in hohem Grade – einfach ein Meisterwerk", schrieb der Münchner Schriftsteller Ernst von Wolzogen kurz nach seinem Erscheinen. Thomas Mann verfasste eine Eloge, und selbst Sigmund Freud würdigte noch Jahre später, wie Reuter Agathes chronischen Erschöpfungszustand geschildert hat: „Eine feinsinnige Beobachterin wie die Gabriele Reuter hat dies (die Übertragung erotischer Wünsche auf den Therapeuten) zur Zeit, als es noch kaum eine Psychoanalyse gab, in einem merkwürdigen Buch geschildert, welches überhaupt die besten Einsichten in das Wesen und die Entstehung der Neurosen verrät.“
Auch die feministischen Kreise reagieren enthusiastisch. „Sie schrieb die Schicksale von tausend und aber tausend Frauen“, äußert z.B. Hedwig Dohm 1908. Dabei hat Reuter die Frauenbewegung gar nicht im Blick, als sie am Manuskript arbeitet. Erst später, in München, engagiert sie sich, wenn auch nur kurz, selbst in der Frauenbewegung. In der bayerischen Landeshauptstadt sieht sie den Kampf gegen die „gefährlichen Paragraphen“ des vor der Verabschiedung stehenden Bürgerlichen Gesetzbuches „mit Glut und Feuer von hervorragenden Frauencharakteren geführt“, was sie veranlasst, „eine Zeitlang mit Leidenschaft“ an ihm teilzunehmen. Dann wendet sie sich wieder ihrer literarischen Arbeit zu.
Gabriele Reuter: Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens. Studienausgabe mit Dokumenten. Herausgegeben von Katja Mellmann. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2006.
Lesen Sie nächste Woche vom unkonventionellen Leben und feministischen Schaffen der Schriftstellerin Helene Böhlau.
Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 7: Gabriele Reuter, Aus guter Familie (1895)>
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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Im Herbst 1895 erscheinen zwei Romane, deren Protagonistinnen letztlich an der Unbarmherzigkeit der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse zugrunde gehen. Der eine Roman ist Effi Briest von Theodor Fontane, der andere Aus guter Familie von Gabriele Reuter. Beide Romane sind erfolgreich und werden mehrfach nachgedruckt. Aus guter Familie wird zum Identifikationsbuch einer ganzen Generation und die Autorin über Nacht berühmt.
Der Roman beginnt mit dem Tag von Agathes Konfirmation und endet zwanzig Jahre später in ihrem geistigen Verfall. Dazwischen entfaltet sich die Geschichte ihres Lebens, das von einer unglücklichen Liebe geprägt ist. Als Mädchen aus einer höheren Gesellschaftsschicht werden ihr Gefühle nicht zugestanden. Später erhält sie einen Heiratsantrag, doch die Eheschließung scheitert an der Tatsache, dass ihr Bruder ihre Mitgift verspielt hat. In der Folge bleiben Agathe nur noch wenige Möglichkeiten, ihr Leben sinnvoll zu gestalten. Sie probiert verschiedene Wege aus, doch resigniert zunehmend und wird schließlich in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert. Ihr tragisches Schicksal wird durch die scheinbar günstige Ausgangssituation und ihre hohe Anpassungsbereitschaft noch verstärkt. Diese Bereitwilligkeit, die von den bürgerlichen Frauen ihrer Zeit erwartet wird, erweist sich letztlich als der entscheidende Faktor, der sie in den Wahnsinn treibt: „Mit Bädern und Schlafmitteln, mit Elektrizität und Massage, Hypnose und Suggestion brachte man Agathe im Laufe von zwei Jahren in einen Zustand, in dem sie aus der Abgeschiedenheit mehrerer Sanatorien wieder unter der menschlichen Gesellschaft erscheinen konnte, ohne unliebsames Aufsehen zu erregen.“
Gabriele Reuter erzählt mit ungeschminkter Härte und Anschaulichkeit. Ihr Text bietet kaum Anlass zum Schmunzeln, im Gegensatz zu Theodor Fontane, da ihre Themen zumeist von ernstem und häufig bitterem Charakter sind. Alles Geschehen konzentriert sich auf Agathe, die unter den gesellschaftlichen Regeln leidet, während die Männer genau davon profitieren. Auch als sie sich auflehnt – gegen eine männlich definierte Sexualität, gegen die patriarchale Familie, die vorherrschende Bigotterie und einen selbstgefälligen Konservatismus – ändert sich nichts, weil sie bereits selbst zu sehr Teil dieses Werte- und Normensystems ist.
Reuters weiblicher Blick hat über die Jahrzehnte hinweg ihre Wahrnehmung verhindert. Dabei erzählt ihre „Leidensgeschichte eines Mädchens“ aus bürgerlichem Hause die Geschichte vieler Mädchen und Frauen ihrer Zeit. Der Lebens- und Leidensweg der Agathe Heidling im wilhelminischen Deutschland erscheint als „Jungfrau, Gattin und Mutter“ vorgezeichnet und entspricht dem Rollenverständnis ihrer Zeit. Doch so wie Reuter ihr Schicksal schildert, ruft es auf zu Besinnung und Umkehr. 1904 schrieb der österreichische Schriftsteller Karl Federn über Gabriele Reuters Erfolg:
Nicht alle Mädchen „aus guter Familie“ gehen so armselig zugrunde, wie die unglückliche Heldin ihres Romans, aber nur sehr wenig Mädchen aus guter Familie wird es geben, deren Schicksal und Entwicklung nicht irgendwie durch die gleichen törichten Schranken gehemmt und gestört worden, in deren Charakter nicht eine Spur der Jämmerlichkeiten der „guten Familie“ verhängnisvoll geblieben ist. Darum hat das Buch auch einen so überaus starken Erfolg gehabt.
Gabriele Reuter ist die Tochter eines international tätigen Kaufmanns. Ihre Kindheit verbringt sie in Dessau und in Alexandrien. Nach dem Tod des Vaters kehrt die Familie nach Deutschland zurück. Dann aber verliert die Familie 1873 ihr gesamtes Vermögen. 1890 zieht Reuter mit ihrer Mutter nach München in dem Wunsch, sich der Schwabinger Bohème anzuschließen. Auf der Gründungsfeier einer literarischen Gesellschaft kommt ihr die Idee zu ihrem Erfolgsroman Aus guter Familie. Durch die Vermittlung von befreundeten Autoren wie Gerhart Hauptmann lernte sie in Berlin den Verleger Samuel Fischer kennen, der den Roman schließlich veröffentlichte. Sein Erfolg machte Gabriele Reuter über die literarischen Kreise hinaus bekannt: „Es ist dies ein Buch von so fürchterlicher, aufrüttelnder Wahrheit, so ganz und gar überzeugend, es schreit seine vernichtende Anklage mit so durchdringender Stimme in die Welt, daß man zunächst ganz vergessen wird, nach seinen künstlerischen Eigenschaften zu fragen. Und dennoch ist es künstlerisch in hohem Grade – einfach ein Meisterwerk", schrieb der Münchner Schriftsteller Ernst von Wolzogen kurz nach seinem Erscheinen. Thomas Mann verfasste eine Eloge, und selbst Sigmund Freud würdigte noch Jahre später, wie Reuter Agathes chronischen Erschöpfungszustand geschildert hat: „Eine feinsinnige Beobachterin wie die Gabriele Reuter hat dies (die Übertragung erotischer Wünsche auf den Therapeuten) zur Zeit, als es noch kaum eine Psychoanalyse gab, in einem merkwürdigen Buch geschildert, welches überhaupt die besten Einsichten in das Wesen und die Entstehung der Neurosen verrät.“
Auch die feministischen Kreise reagieren enthusiastisch. „Sie schrieb die Schicksale von tausend und aber tausend Frauen“, äußert z.B. Hedwig Dohm 1908. Dabei hat Reuter die Frauenbewegung gar nicht im Blick, als sie am Manuskript arbeitet. Erst später, in München, engagiert sie sich, wenn auch nur kurz, selbst in der Frauenbewegung. In der bayerischen Landeshauptstadt sieht sie den Kampf gegen die „gefährlichen Paragraphen“ des vor der Verabschiedung stehenden Bürgerlichen Gesetzbuches „mit Glut und Feuer von hervorragenden Frauencharakteren geführt“, was sie veranlasst, „eine Zeitlang mit Leidenschaft“ an ihm teilzunehmen. Dann wendet sie sich wieder ihrer literarischen Arbeit zu.
Gabriele Reuter: Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens. Studienausgabe mit Dokumenten. Herausgegeben von Katja Mellmann. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2006.
Lesen Sie nächste Woche vom unkonventionellen Leben und feministischen Schaffen der Schriftstellerin Helene Böhlau.