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13.03.2025, 13:46 Uhr
Thomas Kraft
Text & Debatte

Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 6: Louise Otto-Peters, Schloss und Fabrik (1846)

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300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.

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„Ich blickte entsetzt in einen Abgrund. Lange bevor ich etwas von Socialismus und Communismus gehört und gelesen, stellte ich die Frage: warum denn die Einen in Unwissenheit, Armuth und Entbehrung dahin leben müßten und die Andern sie dafür noch verachten dürften, ja von ihrer Arbeit den eignen Mammon mehren dürften.“ Aus Meißen stammend und früh verwaist, entwickelte sich Louise Otto früh zu einer Kämpferin für Arbeiter- und Frauenrechte und begründete die Frauenbewegung in Deutschland. Ihr sozialkritischer Roman, der die Folgen der Industrialisierung, den Aufstand der Arbeiter 1845 und seine blutige Niederwerfung thematisiert, wurde unmittelbar nach Erscheinen zensiert und erst später wieder freigegeben. Der Roman spielt in einer sächsischen Kleinstadt und stellt entlang des Schicksals zweier junger Frauen aus unterschiedlichen Milieus Fragen nach Standesgrenzen, persönlicher Freiheit, Solidarität und sozialer Verelendung.

Louise Otto erblickte 1819 als jüngste von fünf Töchtern in Meißen das Licht der Welt. Im Alter von sechzehn Jahren verwaiste sie, als ihre Eltern an Tuberkulose starben. Dank ihres Erbes war sie finanziell abgesichert, was sie dazu veranlasste, eine Karriere als Schriftstellerin einzuschlagen. In ihrer Jugend hatte sie die prekären Lebensbedingungen der Arbeiterfamilien in der nahegelegenen Industriestadt erfahren und damit den sozialen Missstand hautnah erlebt. Ihr Gedicht „Die Klöpplerinnen“, das sie im örtlichen Stadtanzeiger veröffentlichte, löste damals einen erheblichen Skandal aus. Bereits im Alter von 20 Jahren veröffentlichte sie unter Pseudonym ihre Lieder eines deutschen Mädchens, in denen sie forderte: „Ich will mehr als Hände falten / mit den Muth'gen will ich's halten / die nicht wehrlos sterben werden“. Sie schrieb Gedichte und Romane und engagierte sich zunehmend in der politischen Publizistik. Ihre mangelnde schulische Bildung nach der Konfirmation könnte ein ausschlaggebender Grund für ihr starkes Eintreten für die Rechte der Frauen gewesen sein. In ihren Schriften erklärte sie früh: „Die Teilnahme der Frau an den Interessen des Staates ist nicht ein Recht, sondern eine Pflicht.“

Mit den Erlösen aus ihren Romanen finanzierte sie 1845 eine Bildungsreise durch Deutschland, die sie, was damals ungewöhnlich war, ohne Begleitung unternahm. Während dieser Reise wurde sie Zeugin des „Leipziger Gemetzels“ von 1845, als Demonstranten bei einem Besuch des sächsischen Prinzen Johann erschossen wurden. Dieses traumatische Ereignis beflügelte sie, sich intensiver für die Rechte der Arbeiterklasse und ihrer Familien einzusetzen. 1846 erschien ihr sozialkritischer Roman Schloss und Fabrik, in dem sie die existentielle Not der Fabrikarbeiter und ihre Auflehnung gegen die bestehenden Verhältnisse thematisierte. Der Roman wurde unmittelbar nach seiner Veröffentlichung von der Zensur verboten und erst nach der Entschärfung einiger Passagen wieder zugelassen. Es war eine Zeit, in der die sozialen Spannungen des aufkommenden Kapitalismus auch in Deutschland immer offensichtlicher wurden.

1849 begegnete Louise Otto dem Journalisten August Peters, einem Revolutionsteilnehmer der Jahre 1848/49, der zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Die beiden verlobten sich während seiner Haft und heirateten 1858. Ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes 1865 initiierte Louise Otto-Peters die erste deutsche Frauenkonferenz in Leipzig und gründete den Allgemeinen Deutschen Frauenverein (ADF), dessen erste Vorsitzende sie wurde. Otto-Peters förderte auf diese Weise die Frauenbewegung in Deutschland und gilt als Vorkämpferin für die Rechte von Frauen. 1895 verstarb sie in Leipzig. Zahlreiche Straßen, Plätze und Schulen in Deutschland erinnern an ihre Lebensleistung.

Der Roman Schloss und Fabrik ist ein frühes literarisches Zeugnis der sozialen Missstände und der Ausbeutung der Arbeiterklasse im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Die Handlung beginnt in einer deutschen Residenzstadt und folgt der Freundschaft der jungen Adligen Elisabeth und der Fabrikantentochter Pauline. Die beiden Mädchen, die im Mädchenpensionat aufeinandertreffen, entdecken, dass ihre Familien durch den Verkauf von Land und Besitz miteinander verbunden sind – der verarmte Graf hatte Land an den aufstrebenden Tuchfabrikanten verkauft. Der Gegensatz zwischen den Lebenswelten der Adligen und der Fabrikarbeiter stellt ihre Freundschaft auf eine harte Probe.

Beide Mädchen sind durch die Lehren ihres humanistisch geprägten Lehrers zu einem Gefühl der Nächstenliebe und Mildtätigkeit erzogen worden. Doch sie müssen sich mit der erschütternden Realität der Arbeiter in der Fabriksiedlung auseinandersetzen: mit Hunger, Armut, Kinderarbeit und dem Fehlen von Bildung. Pauline verliebt sich in Franz, einen Arbeiterführer und Bruder des von Elisabeth verehrten Lehrers Thalheim. Franz erwidert ihre Gefühle. Allerdings weiß er, dass eine Heirat zwischen ihnen unmöglich ist, solange er als Arbeiter in der Fabrik ihres Vaters beschäftigt ist. Der Vater von Pauline ist ein harter Ausbeuter, und die Lebensbedingungen der Arbeiter sind katastrophal. Mit der Unterstützung von Pauline und Elisabeth versucht Franz, gegen die schlechten Arbeitsbedingungen vorzugehen und gleichzeitig die drohende Gefahr eines Aufstands zu verhindern, da er fürchtet, dass der Vater von Pauline diesen mit brutalster Gewalt niederschlagen würde. Die Konflikte spitzen sich zu, und der bis dahin angestaute Unmut der Arbeiter breitet sich schließlich gewaltsam aus.

Schloss und Fabrik gehört zu den ersten deutschen Romanen, die sich explizit mit dem „vierten Stand“ – der Arbeiterschaft – auseinandersetzen. Der Roman war von solcher sozialen Sprengkraft, dass er unmittelbar nach der Veröffentlichung von der Zensur verboten wurde, ehe er nach einer Überarbeitung wieder erscheinen durfte. Auch in seiner zensierten Form fand das Werk große Beachtung. 1868 erschien eine Neuauflage, und ein Jahr später wurde der Roman „auf speziellen Wunsch der Arbeiter“ erneut als Volksausgabe herausgegeben.

Die vorliegende Ausgabe des Romans ist besonders interessant, da sie die Geschichte der Zensur und der Verstümmelung des Werkes dokumentiert. Durch Forschungen im Sächsischen Hauptstaatsarchiv konnte die Herausgeberin jene Stellen rekonstruieren, die 1846 zensiert wurden, und die ersten, in ihrer vollen Form unzensierten Fassungen wiederherstellen. In der neu veröffentlichten Ausgabe sind die ursprünglich unterdrückten Passagen sichtbar, was einen aufschlussreichen Einblick in die damalige Zensurpraxis eröffnet und zugleich ein wertvolles Dokument der deutschen Literaturgeschichte darstellt.

Louise Otto-Peters: Schloss und Fabrik. Roman. Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin / Leipzig 2021

 

Lesen Sie nächste Woche, welche Autorin mit ihrem Roman Effi Briest Konkurrenz machte.