Ostap Slyvynsky: Wörter im Krieg
Der ukrainische Schriftsteller Ostap Slyvynsky lauscht gern den Menschen in seiner Umgebung und macht sich Notizen. Aus Gesprächen mit Passanten am Bahnhof von Lwiw entsteht so sein sozioliterarisches Wörterbuch des Kriegs.
*
Meinen geschätzten Kollegen Ostap Slyvynsky, Jahrgang 1978, habe ich im September 2008 auf einem Literaturfestival in Lwiw kennengelernt. Wir lasen gemeinsam mit Natalka Sniadanko, ebenfalls aus Lwiw stammend, und mit Cécile Wajsbrot (Frankreich). Zurück in Berlin verfolgte ich Ostaps weiteres literarisches, literaturwissenschaftliches und kulturpolitisches Schaffen, zumindest das, was von ihm ins Deutsche übersetzt wurde. Er hatte über das wunderschöne Thema „Das Phänomen der Stille in der Literatur“ promoviert, und von ihm erschien Im fünften Jahrtausend Erwachen: Gedichte aus den Jahren 2008 bis 2016 (deutsch von Claudia Dathe, edition.fotoTAPETA). Als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine überfiel, meldete ich mich zeitnah bei Ostap. Wir hatten gleich einen fortgesetzten intensiven Austausch. Wirklich überrascht war Ostap nicht über das Vorgehen der Russen. 2016 hat er einen Aufruf „Schluss mit dem Massenmord in Aleppo!“ unterzeichnet, der sich gegen den „Bombenkrieg des russischen Präsidenten Putin“ wendete.
Vor allem aber berichtet Ostap mir, dass er täglich zum Hauptbahnhof in Lwiw geht, um dort den bald eintreffenden, zum Teil schwer traumatisierten Flüchtlingen aus der Ostukraine zu helfen. Er konnte sich nicht vorstellen, sich in dieser Situation zurückzuzuziehen, um über ein weiteres literaturwissenschaftliches Problem zu räsonieren. Die Zeit der Stille war vorbei. Er sagt mir sinngemäß, was er später in seinem Vorwort zu Wörter im Krieg zu Papier brachte: „Auf dem Bahnhof, wo wir den Menschen Brot und Tee gegeben haben, in den Notunterkünften, in die ich Medikamente und andere Dinge gebracht habe, wo ich nachts Wache stand, ja sogar bei den Ständen, an denen Kaffee ausgegeben wird, beginnen die Menschen zu erzählen. Manchmal von selbst, manchmal muss man sie ein wenig antippen, eine Frage stellen, und schon kommt ein Schwall in Bewegung, der kaum zu stoppen ist.“ Aus dieser Situation heraus entstand seine Idee zu einer Art Wörterbuch des Kriegs. Ostap war nie ohne Notizbuch unterwegs, schrieb sich eine Geschichte auf, ebenso deren Urheber und den Ort, aus dem der- oder diejenige geflohen ist.
Einen berühmten Vorläufer, dessen Werk er genauestens kennt (Ostap spricht fließend Polnisch), ist der polnische Dichter Czesław Miłosz. Miłosz schrieb 1943 im von den Nazis okkupierten Warschau einen Gedichtzyklus mit dem Titel Welt. Die meisten dieser Gedichte sind Erklärungen einfacher Worte: „Angst“, „Liebe“, „Hoffnung“, „Straße“ oder „Gartentor“ etc. Denn, so Ostap im Vorwort zum Buch, der Krieg verändert die Bedeutung von Worten. Im Krieg kann die Nähe zu einer Straße Rettung oder Tod bedeuten und nicht mehr einfach den Weg zur Arbeit. Auch „Hoffnung“ bedeutet etwas Anderes in Kriegszeiten, wenn man in seine zerstörte Wohnung zurückkehrt und auf Überlebende hofft. Jeder Eintrag ist das Fragment eines Monologs, den Ostap gehört hat. Manche Fragmente hat er aus dem Russischen ins Ukrainische übersetzt. Manche etwas verworrene Geschichten hat Ostap etwas gekürzt, verdichtet, aber nichts erfunden, wie er betont. Was dieses Buch so besonders macht, ist, dass der Autor den Blick von abstrakten Zahlen und nüchternen Nachrichteninhalten auf persönliche Erlebnisse hinlenkt, auf die Erfahrungen Einzelner. Er hat sich dabei ganz in den Dienst der Menschen gestellt, die er getroffen hat. Ostap hat dabei das Augenmerk nicht auf besonders grausame Episoden gelegt, obwohl er sich viel Furchtbares hat anhören müssen. Tote finden zwar Erwähnung in den Einträgen, aber Ostap weiß, dass man, um Leid und Schmerz zu bezeugen, weder Superlative bemühen noch auf Effekte setzen muss. Man fühlt sich als Leser nicht manipuliert, zur guten Sache gedrängt. Oft staunt man über den Galgenhumor und Pragmatismus, den Überlebenswillen der Ankommenden.
Herausgekommen ist dabei ein ungewöhnliches, sehr berührendes sozioliterarisches Zeugnis des Kriegs in der Ukraine, mit Begriffen von A („Abschied“) bis Z („Zimmer“). Das liest sich im Ergebnis dann so:
DUSCHE (Oleksandr, Butscha)
Bei heftigem Beschuss ist es nicht ratsam zu duschen. Es ist absolut kein Genuss. Ständig quält dich der Gedanke: Wenn wir jetzt getroffen werden, bin ich ein Kriegsopfer mit eingeseiftem Hintern.
HOCHZEIT (Violetta, Mariupol)
Am 22. Februar feierte mein Bruder Hochzeit. Wir freuten uns so, dass die Gerüchte über den Krieg sich nicht bewahrheitet hatten (Laut Informationen der US-Geheimdienste wollte Putin die Ukraine am 16. Februar angreifen, Anm. d. Ü.). Und dann eine Woche oder anderthalb Wochen später beschlossen mein Bruder und seine Frau aus Mariupol zu fliehen. Sie packten einen Koffer und gingen die Schnellstraße entlang, um aus der Stadt herauszukommen. Ich schrieb für sie auf einen Karton „Saporischschja“, vielleicht würde ein Auto sie mitnehmen. So brachen sie zu ihrer „Hochzeitsreise“ auf, zu ihrer ersten Reise als Ehepaar.
KANARIENVOGEL (Olja, Irpin)
„Als wir Irpin verließen, wurde es irgendwann ganz still. Wir kamen an einem Haus vorbei, das von Raketen getroffen worden war. Alle Fenster waren kaputt, der Eingang verschüttet. Plötzlich hörte ich in einer der Wohnungen einen Kanarienvogel singen. Ich hatte meine ganze Kindheit lang einen Kanarienvogel und kenne den Klang sehr gut. Vielleicht waren die Besitzer in einen Luftschutzbunker geflüchtet und konnten nicht zurückkehren. So viel ist davor und danach passiert, aber den Kanarienvogel kann ich nicht vergessen.“
SONNE (Nina, Konotop)
„Als der Krieg begann, dachte ich, ich würde viel weinen. Ich bin eine Heulsuse. Und plötzlich bin ich wie ausgetrocknet. All die Tage keine einzige Träne. Nur einmal habe ich geweint. Nachdem wir lange im Keller gesessen sind, gehe ich hinaus und die Sonne ist so hell. Ich beginne zu weinen. Ich gehe in meine Wohnung und verstehe nicht, ob ich wirklich weine, oder ob bloß meine Augen tränen.“
ZAHLEN (Iryna, Sewerodonezk, redet ins Telefon)
„Du musst einfach zählen, komm wir machen es gemeinsam! Eins, zwei, drei ... Nein, langsamer, noch einmal von vorne. Nicht so schnell. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben ... Siehst du? Alles ist gut.“
Aus den unberechenbaren Begegnungen und Gesprächen an einem überfüllten Bahnhof im Ausnahmezustand ist ein gut lesbares, strukturiertes Buch geworden. Ostap Slyvynsky hat sich damit in doppelter Weise seinen Landsleuten zur Verfügung gestellt. Erst half er ihnen konkret vor Ort, dann hat er ihre Wahrnehmungen einer über Nacht veränderten Wirklichkeit aufgegriffen und in Literatur verwandelt. Chapeau.
Ostap Slyvynsky: Wörter im Krieg. Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. edition.fotoTAPETA, Berlin 2023
Hier geht es zum Überblicksartikel „Ukrainische Gegenwartsliteratur“
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Der ukrainische Schriftsteller Ostap Slyvynsky lauscht gern den Menschen in seiner Umgebung und macht sich Notizen. Aus Gesprächen mit Passanten am Bahnhof von Lwiw entsteht so sein sozioliterarisches Wörterbuch des Kriegs.
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Meinen geschätzten Kollegen Ostap Slyvynsky, Jahrgang 1978, habe ich im September 2008 auf einem Literaturfestival in Lwiw kennengelernt. Wir lasen gemeinsam mit Natalka Sniadanko, ebenfalls aus Lwiw stammend, und mit Cécile Wajsbrot (Frankreich). Zurück in Berlin verfolgte ich Ostaps weiteres literarisches, literaturwissenschaftliches und kulturpolitisches Schaffen, zumindest das, was von ihm ins Deutsche übersetzt wurde. Er hatte über das wunderschöne Thema „Das Phänomen der Stille in der Literatur“ promoviert, und von ihm erschien Im fünften Jahrtausend Erwachen: Gedichte aus den Jahren 2008 bis 2016 (deutsch von Claudia Dathe, edition.fotoTAPETA). Als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine überfiel, meldete ich mich zeitnah bei Ostap. Wir hatten gleich einen fortgesetzten intensiven Austausch. Wirklich überrascht war Ostap nicht über das Vorgehen der Russen. 2016 hat er einen Aufruf „Schluss mit dem Massenmord in Aleppo!“ unterzeichnet, der sich gegen den „Bombenkrieg des russischen Präsidenten Putin“ wendete.
Vor allem aber berichtet Ostap mir, dass er täglich zum Hauptbahnhof in Lwiw geht, um dort den bald eintreffenden, zum Teil schwer traumatisierten Flüchtlingen aus der Ostukraine zu helfen. Er konnte sich nicht vorstellen, sich in dieser Situation zurückzuzuziehen, um über ein weiteres literaturwissenschaftliches Problem zu räsonieren. Die Zeit der Stille war vorbei. Er sagt mir sinngemäß, was er später in seinem Vorwort zu Wörter im Krieg zu Papier brachte: „Auf dem Bahnhof, wo wir den Menschen Brot und Tee gegeben haben, in den Notunterkünften, in die ich Medikamente und andere Dinge gebracht habe, wo ich nachts Wache stand, ja sogar bei den Ständen, an denen Kaffee ausgegeben wird, beginnen die Menschen zu erzählen. Manchmal von selbst, manchmal muss man sie ein wenig antippen, eine Frage stellen, und schon kommt ein Schwall in Bewegung, der kaum zu stoppen ist.“ Aus dieser Situation heraus entstand seine Idee zu einer Art Wörterbuch des Kriegs. Ostap war nie ohne Notizbuch unterwegs, schrieb sich eine Geschichte auf, ebenso deren Urheber und den Ort, aus dem der- oder diejenige geflohen ist.
Einen berühmten Vorläufer, dessen Werk er genauestens kennt (Ostap spricht fließend Polnisch), ist der polnische Dichter Czesław Miłosz. Miłosz schrieb 1943 im von den Nazis okkupierten Warschau einen Gedichtzyklus mit dem Titel Welt. Die meisten dieser Gedichte sind Erklärungen einfacher Worte: „Angst“, „Liebe“, „Hoffnung“, „Straße“ oder „Gartentor“ etc. Denn, so Ostap im Vorwort zum Buch, der Krieg verändert die Bedeutung von Worten. Im Krieg kann die Nähe zu einer Straße Rettung oder Tod bedeuten und nicht mehr einfach den Weg zur Arbeit. Auch „Hoffnung“ bedeutet etwas Anderes in Kriegszeiten, wenn man in seine zerstörte Wohnung zurückkehrt und auf Überlebende hofft. Jeder Eintrag ist das Fragment eines Monologs, den Ostap gehört hat. Manche Fragmente hat er aus dem Russischen ins Ukrainische übersetzt. Manche etwas verworrene Geschichten hat Ostap etwas gekürzt, verdichtet, aber nichts erfunden, wie er betont. Was dieses Buch so besonders macht, ist, dass der Autor den Blick von abstrakten Zahlen und nüchternen Nachrichteninhalten auf persönliche Erlebnisse hinlenkt, auf die Erfahrungen Einzelner. Er hat sich dabei ganz in den Dienst der Menschen gestellt, die er getroffen hat. Ostap hat dabei das Augenmerk nicht auf besonders grausame Episoden gelegt, obwohl er sich viel Furchtbares hat anhören müssen. Tote finden zwar Erwähnung in den Einträgen, aber Ostap weiß, dass man, um Leid und Schmerz zu bezeugen, weder Superlative bemühen noch auf Effekte setzen muss. Man fühlt sich als Leser nicht manipuliert, zur guten Sache gedrängt. Oft staunt man über den Galgenhumor und Pragmatismus, den Überlebenswillen der Ankommenden.
Herausgekommen ist dabei ein ungewöhnliches, sehr berührendes sozioliterarisches Zeugnis des Kriegs in der Ukraine, mit Begriffen von A („Abschied“) bis Z („Zimmer“). Das liest sich im Ergebnis dann so:
DUSCHE (Oleksandr, Butscha)
Bei heftigem Beschuss ist es nicht ratsam zu duschen. Es ist absolut kein Genuss. Ständig quält dich der Gedanke: Wenn wir jetzt getroffen werden, bin ich ein Kriegsopfer mit eingeseiftem Hintern.
HOCHZEIT (Violetta, Mariupol)
Am 22. Februar feierte mein Bruder Hochzeit. Wir freuten uns so, dass die Gerüchte über den Krieg sich nicht bewahrheitet hatten (Laut Informationen der US-Geheimdienste wollte Putin die Ukraine am 16. Februar angreifen, Anm. d. Ü.). Und dann eine Woche oder anderthalb Wochen später beschlossen mein Bruder und seine Frau aus Mariupol zu fliehen. Sie packten einen Koffer und gingen die Schnellstraße entlang, um aus der Stadt herauszukommen. Ich schrieb für sie auf einen Karton „Saporischschja“, vielleicht würde ein Auto sie mitnehmen. So brachen sie zu ihrer „Hochzeitsreise“ auf, zu ihrer ersten Reise als Ehepaar.
KANARIENVOGEL (Olja, Irpin)
„Als wir Irpin verließen, wurde es irgendwann ganz still. Wir kamen an einem Haus vorbei, das von Raketen getroffen worden war. Alle Fenster waren kaputt, der Eingang verschüttet. Plötzlich hörte ich in einer der Wohnungen einen Kanarienvogel singen. Ich hatte meine ganze Kindheit lang einen Kanarienvogel und kenne den Klang sehr gut. Vielleicht waren die Besitzer in einen Luftschutzbunker geflüchtet und konnten nicht zurückkehren. So viel ist davor und danach passiert, aber den Kanarienvogel kann ich nicht vergessen.“
SONNE (Nina, Konotop)
„Als der Krieg begann, dachte ich, ich würde viel weinen. Ich bin eine Heulsuse. Und plötzlich bin ich wie ausgetrocknet. All die Tage keine einzige Träne. Nur einmal habe ich geweint. Nachdem wir lange im Keller gesessen sind, gehe ich hinaus und die Sonne ist so hell. Ich beginne zu weinen. Ich gehe in meine Wohnung und verstehe nicht, ob ich wirklich weine, oder ob bloß meine Augen tränen.“
ZAHLEN (Iryna, Sewerodonezk, redet ins Telefon)
„Du musst einfach zählen, komm wir machen es gemeinsam! Eins, zwei, drei ... Nein, langsamer, noch einmal von vorne. Nicht so schnell. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben ... Siehst du? Alles ist gut.“
Aus den unberechenbaren Begegnungen und Gesprächen an einem überfüllten Bahnhof im Ausnahmezustand ist ein gut lesbares, strukturiertes Buch geworden. Ostap Slyvynsky hat sich damit in doppelter Weise seinen Landsleuten zur Verfügung gestellt. Erst half er ihnen konkret vor Ort, dann hat er ihre Wahrnehmungen einer über Nacht veränderten Wirklichkeit aufgegriffen und in Literatur verwandelt. Chapeau.
Ostap Slyvynsky: Wörter im Krieg. Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. edition.fotoTAPETA, Berlin 2023
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