Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 4: August Gottlieb Meißner, Skizzen (1778-1796)
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
*
Heute würde man sie „True Crime“ nennen. Fallgeschichten, Nacherzählungen realer Verbrechen, und ihre Aufklärung. In Serien und Podcasts erfreuen sie sich zurzeit großer Beliebtheit. Erfunden hat sie Ende des 18. Jahrhunderts der Schriftsteller und Jurist August Gottlieb Meißner aus Bautzen. Mit seinen Kriminalgeschichten über „Blutschänder, Feueranleger und Mörder“ avanciert er zum „Lieblingsschriftsteller unsrer Nation“ (Friedrich Schulz im Almanach der Belletristen und Belletristinnen für's Jahr 1782), füllt die Bücherregale seiner (nicht selten weiblichen) Verehrer und Leser und inspiriert sogar Friedrich Schiller, der Meißners literarische Fallstudien überaus schätzt und sich offenbar von ihm zu seiner Erzählung Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) inspirieren lässt. August Gottlieb Meissner gilt, heute weitgehend vergessen, als Begründer des Genres.
In jedem Menschen könnte auch ein Verbrecher stecken. Wie in dem Fall des Schäfers, der aus einem religiös motivierten Wahn heraus seine Söhne umbringt. Im Zuge der Spätaufklärung sorgen die Schriften von August Gottlieb Meißner bei seinen Fans für intellektuellen und unterhaltenden Nervenkitzel zugleich. Seine Bücher mit Titeln wie Mord aus Schwärmerey sind richtige Bestseller. Die akribische Darstellung von Verbrechen und ihrer Strafverfolgung gewähren für viele Leser Einblicke in eine andere, oft fremde und düstere Welt. Wo bereits die Boulevardpresse mit ihrem sensationslüsternen Journalismus die Neugier der Öffentlichkeit zu befriedigen sucht, schürft Meißner nochmals tiefer und trennt die „gesetzliche und moralische Zurechnung“ einer Tat. Ihm geht es nicht nur um die Rekonstruktion eines Verbrechens, sondern um Fragen nach den Motiven der Tat, der Psychologie des Täters und seiner gesetzlichen Bestrafung unter psychologischen und sozialen Aspekten. Wir lernen den Verbrecher besser kennen, sogar bereits vor der Tat, wir werden mit seinem sozialen Umfeld vertraut gemacht und können so besser „selbst zu Gericht sitzen“ und „tiefere Blicke in das Menschenherz tun“.
August Gottlieb Meißner, der 1753 in Budissin in der Oberlausitz geboren ist, gibt allerdings zu, sich dabei nicht immer exakt an die Tatsachen zu halten, ja, er habe „manches Faktum nach den Gesetzen gefälligen Erzählens überformt“. Doch das mindert den Erkenntniswert der Texte nicht. Der studierte Jurist (an den Universitäten zu Wittenberg und Leipzig) ist ein bekennender Freimaurer und Mitglied im Illuminatenorden. Ab 1785 lehrt er als Professor für Ästhetik und klassische Literaturen in Prag, ab 1805 ist er als Konsistorialrat und Lyzealdirektor in Fulda tätig, wo er 1807 verstírbt. Mit seinen Texten tritt Meißner für eine humanere Strafverfolgung ein, indem zum Beispiel psychologische Gutachten eine stärkere Rolle bei der Strafbemessung spielen sollen. Dabei geht es ihm in seinen Skizzen (14 Bände) zu über fünfzig Kriminalgeschichten – die mehrere, einander teilweise überlagernde Auflagen erleben und in Zusammenstellung und Textbearbeitung zum Teil stark divergieren und auch ins Dänische, Französische, Holländische, Schwedische sowie ins Russische übersetzt sind –, nie um die Rechtfertigung krimineller Handlungen, sondern um „tiefere Blicke in das Menschenherz zu tun“.
In der Vorrede heißt es dazu: „Dagegen hof' ich, wird man keine Geschichte darunter finden, die nicht in dieser oder jener Rücksicht einen merkwürdigen Zug des menschlichen Herzens darstellte, die nicht Anlaß zu Betrachtungen über die sonderbare Verkettung vom Guten und Bösen, über die dünne March zwischen Tugend, Schwäche und Laster, über die Unsicherheit menschlicher Urtheile, über den Selbstverrath des Lasters, oder über andre verwandte Wahrheiten darböte.“
In den dokumentarisch konzipierten Texten erfährt man von Habgier und Verrat, Eifersucht und Liebe, Rache und Wahn, aber auch vom Alltag der Menschen im 18. Jahrhundert, liest über ihre Sorgen und Nöte, über soziale Strukturen und das staatliche Rechtssystem in all seinen Ausprägungen der Rechtsprechung und Strafverfolgung. Prävention und Psychologie werden immer wichtiger, um zu verstehen, wie die Phasen einer verbrecherischen Tat aufeinanderfolgen, wie eine Situation in die andere greift, manchmal geradezu unbeabsichtigt als Mix aus Naivität, Desinformation und falschem Rechtsbewusstsein. Meißner zeigt damit die stets gegenwärtige Gefährdung jedes Menschen jenseits von Moralität und Normalität und wirft damit grundsätzliche Fragen nach Schuld und Unschuld auf – ganz im Einklang mit den Ideen der Aufklärung. Der differenzierte Blick auf jede individuelle Tat wird aus seiner detaillierten Rekonstruktion von komplexen Tatabläufen und Hintergründen spürbar und zielt letztlich – auch – darauf ab, über den Sinn der Todesstrafe nachzudenken. Die Aufdeckung des Verbrechens im Sinne der Detektivgeschichte unterstützt den erhellenden Charakter seiner Skizzen aufs Unterhaltsamste.
August Gottlieb Meißner: Skizzen (1778-1796). In: Leichenöffnung des Lasters. Pitaval, Meißner, Schiller. Homunculus Verlag, Erlangen 2015
Auch: August Gottlieb Meißner: Kriminalgeschichten. Skizzen. Dreyzehnte und vierzehnte Sammlung. Herausgegeben von Alexander Košenina und Sarah Seidel. Wehrhahn Verlag, Hannover 2019
Lesen Sie nächste Woche (6.3.25), wer in Deutschland schon früh psychologische Kriminalromane verfasst hat.
Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 4: August Gottlieb Meißner, Skizzen (1778-1796)>
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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Heute würde man sie „True Crime“ nennen. Fallgeschichten, Nacherzählungen realer Verbrechen, und ihre Aufklärung. In Serien und Podcasts erfreuen sie sich zurzeit großer Beliebtheit. Erfunden hat sie Ende des 18. Jahrhunderts der Schriftsteller und Jurist August Gottlieb Meißner aus Bautzen. Mit seinen Kriminalgeschichten über „Blutschänder, Feueranleger und Mörder“ avanciert er zum „Lieblingsschriftsteller unsrer Nation“ (Friedrich Schulz im Almanach der Belletristen und Belletristinnen für's Jahr 1782), füllt die Bücherregale seiner (nicht selten weiblichen) Verehrer und Leser und inspiriert sogar Friedrich Schiller, der Meißners literarische Fallstudien überaus schätzt und sich offenbar von ihm zu seiner Erzählung Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) inspirieren lässt. August Gottlieb Meissner gilt, heute weitgehend vergessen, als Begründer des Genres.
In jedem Menschen könnte auch ein Verbrecher stecken. Wie in dem Fall des Schäfers, der aus einem religiös motivierten Wahn heraus seine Söhne umbringt. Im Zuge der Spätaufklärung sorgen die Schriften von August Gottlieb Meißner bei seinen Fans für intellektuellen und unterhaltenden Nervenkitzel zugleich. Seine Bücher mit Titeln wie Mord aus Schwärmerey sind richtige Bestseller. Die akribische Darstellung von Verbrechen und ihrer Strafverfolgung gewähren für viele Leser Einblicke in eine andere, oft fremde und düstere Welt. Wo bereits die Boulevardpresse mit ihrem sensationslüsternen Journalismus die Neugier der Öffentlichkeit zu befriedigen sucht, schürft Meißner nochmals tiefer und trennt die „gesetzliche und moralische Zurechnung“ einer Tat. Ihm geht es nicht nur um die Rekonstruktion eines Verbrechens, sondern um Fragen nach den Motiven der Tat, der Psychologie des Täters und seiner gesetzlichen Bestrafung unter psychologischen und sozialen Aspekten. Wir lernen den Verbrecher besser kennen, sogar bereits vor der Tat, wir werden mit seinem sozialen Umfeld vertraut gemacht und können so besser „selbst zu Gericht sitzen“ und „tiefere Blicke in das Menschenherz tun“.
August Gottlieb Meißner, der 1753 in Budissin in der Oberlausitz geboren ist, gibt allerdings zu, sich dabei nicht immer exakt an die Tatsachen zu halten, ja, er habe „manches Faktum nach den Gesetzen gefälligen Erzählens überformt“. Doch das mindert den Erkenntniswert der Texte nicht. Der studierte Jurist (an den Universitäten zu Wittenberg und Leipzig) ist ein bekennender Freimaurer und Mitglied im Illuminatenorden. Ab 1785 lehrt er als Professor für Ästhetik und klassische Literaturen in Prag, ab 1805 ist er als Konsistorialrat und Lyzealdirektor in Fulda tätig, wo er 1807 verstírbt. Mit seinen Texten tritt Meißner für eine humanere Strafverfolgung ein, indem zum Beispiel psychologische Gutachten eine stärkere Rolle bei der Strafbemessung spielen sollen. Dabei geht es ihm in seinen Skizzen (14 Bände) zu über fünfzig Kriminalgeschichten – die mehrere, einander teilweise überlagernde Auflagen erleben und in Zusammenstellung und Textbearbeitung zum Teil stark divergieren und auch ins Dänische, Französische, Holländische, Schwedische sowie ins Russische übersetzt sind –, nie um die Rechtfertigung krimineller Handlungen, sondern um „tiefere Blicke in das Menschenherz zu tun“.
In der Vorrede heißt es dazu: „Dagegen hof' ich, wird man keine Geschichte darunter finden, die nicht in dieser oder jener Rücksicht einen merkwürdigen Zug des menschlichen Herzens darstellte, die nicht Anlaß zu Betrachtungen über die sonderbare Verkettung vom Guten und Bösen, über die dünne March zwischen Tugend, Schwäche und Laster, über die Unsicherheit menschlicher Urtheile, über den Selbstverrath des Lasters, oder über andre verwandte Wahrheiten darböte.“
In den dokumentarisch konzipierten Texten erfährt man von Habgier und Verrat, Eifersucht und Liebe, Rache und Wahn, aber auch vom Alltag der Menschen im 18. Jahrhundert, liest über ihre Sorgen und Nöte, über soziale Strukturen und das staatliche Rechtssystem in all seinen Ausprägungen der Rechtsprechung und Strafverfolgung. Prävention und Psychologie werden immer wichtiger, um zu verstehen, wie die Phasen einer verbrecherischen Tat aufeinanderfolgen, wie eine Situation in die andere greift, manchmal geradezu unbeabsichtigt als Mix aus Naivität, Desinformation und falschem Rechtsbewusstsein. Meißner zeigt damit die stets gegenwärtige Gefährdung jedes Menschen jenseits von Moralität und Normalität und wirft damit grundsätzliche Fragen nach Schuld und Unschuld auf – ganz im Einklang mit den Ideen der Aufklärung. Der differenzierte Blick auf jede individuelle Tat wird aus seiner detaillierten Rekonstruktion von komplexen Tatabläufen und Hintergründen spürbar und zielt letztlich – auch – darauf ab, über den Sinn der Todesstrafe nachzudenken. Die Aufdeckung des Verbrechens im Sinne der Detektivgeschichte unterstützt den erhellenden Charakter seiner Skizzen aufs Unterhaltsamste.
August Gottlieb Meißner: Skizzen (1778-1796). In: Leichenöffnung des Lasters. Pitaval, Meißner, Schiller. Homunculus Verlag, Erlangen 2015
Auch: August Gottlieb Meißner: Kriminalgeschichten. Skizzen. Dreyzehnte und vierzehnte Sammlung. Herausgegeben von Alexander Košenina und Sarah Seidel. Wehrhahn Verlag, Hannover 2019
Lesen Sie nächste Woche (6.3.25), wer in Deutschland schon früh psychologische Kriminalromane verfasst hat.