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Steine schreiben. Ein thematischer Essay von Daniel Bayerstorfer (Auszug)

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Wenn Steine schreiben könnten – Der in München lebende Autor Daniel Bayerstorfer lässt sich in seinem thematischen Essay auf die Erzählungen von Steinen ein, die in den Städten Prag, Köln und Straßburg gewissermaßen zu Schrift-Stellern werden. Die Redaktion stellt hier einen gekürzten Auszug aus seinem Prager Spaziergang vor.   

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Steine schreiben

… so sagte mir ein Kind nicht ohne Verwunderung, als es Maurer bei 
der Arbeit sah: „Papa, es sind also noch nicht alle Häuser gebaut?“
Paul Veyne


PRAG

Wo sind die Endlager der Gefühle? Ich bin mit dem Zug aus Wien gekommen, über das nicht weit hinter der Grenze liegende Brünn, bei dem vom Bahnhof aus die alte Burg zu sehen war und dann durch enge Täler gefahren, mit stillgelegten Fabriken und wahrscheinlich schon lange verlassenen, im Nebel nur teilweise sichtbaren Plattenbauten in den Hängen, wo die Arbeiter früher gewohnt haben. 

Das Wetter griff in die Architektur ein, steckte die Nebelfinger in die Schlote, lutschte am Gebälk und stand vor den zerbrochenen Scheiben, zerrissenen Ziegeln, den Wegen, Büschen und gerostetem Schrott. Ich blickte ins weißgraue Unkraut der Wolken und zwang mich, nichts zu fotografieren. Vieles wäre nicht auf dem Film gewesen, war nicht abzulichten, wie z.B. die Gespenster der Produktivkräfte oder die zu unsichtbarer Asche gewordenen Funktionen des Geländes. Und doch knirschten die gläsernen Münder der Fenster und erzählten mir die Wände etwas, in der Stimme von verdautem Lehm, im Dialekt der Oxidation von Sauerstoff, Feuchtigkeit und Metall.

Im Vergleich zu den alten, nicht mehr frequentierten, eigentlich untergegangenen Kurorten, mit ihren Sanatorien, Grandhotels und Heilbädern waren diese Bauwerke noch einmal ganz anders verlassen, anders leer und in ihren Funktionen schneller verstummt als Marienbad, Karlsbad am (von mir aus gesehen) anderen Ende von Tschechien. 

Das zum Party-Ort gewordene Bad Gastein. Der Mozartkugelbarock von Bad Ischl. Keine verfallenen Gebäude, sondern balsamierte Gebäude. Die ursprünglichen Bedarfe nach diesen Orten sind im Laufe der Jahre und mit ihren treuen, bald unregelmäßigen Besuchern und ihren gesamten Gesellschaftsschichten so gut wie ausgestorben oder haben sich vollkommen gewandelt. Verlassene Kolonnaden. Keine Kreise. Beethoven, Goethe, Rahel Varnhagen. Kreise zum Wasser. Der Endpunkt im Kreis. Die Bedeutung der Bäder ist gesamtgesellschaftlich auf ins Bodenlose gesunken. Ich weiß gar nicht genau, wann zwischen den Kriegen diese Art von Erholung und Aufenthalt zerrieben worden ist. Wie bei jeder Form von Dekadenz gibt es kein einzelnes Datum, keinen Doomday der Interessen. 

Irgendwann blieben die Russen aus, die schon im 19. Jahrhundert gekommen und über Wochen, im Fall von Turgenjew sogar sein restliches Leben geblieben sind. Tschechow ist dort gestorben. Und wann hörte das mit den Nervenkranken des Fin de Siécle auf? Mit den nervösen Künstlern und Kaufleuten, den Komponisten und Schiffbauern, die für Monate auf Kur gingen? Irgendwann verliefen sich die Bedürfnisse, blieben die Gäste aus. In immer weniger Köpfen manifestierte sich das als Wunsch, was man kollektiv, bzw. ökonomisch als Nachfrage bezeichnet. Wo sind eigentlich die Endlager der Gefühle? […]

Ich machte mich fertig und ging in die Altstadt, […], über den Wenzelsplatz, wo Kafka rechterhand in seiner Versicherungsanstalt gearbeitet hatte und suchte das Café Louvre, wo der gleiche Kafka gerne mit Max Brod und den anderen Prager Literaten wie Werfel und Kisch gewesen war, wie es hieß. Ich war nicht der einzige, der wegen Kafka in dem seit über hundertzwanzig Jahren nahezu (oder scheinbar) unveränderten Lokal war, wie ich an mindestens zwei Touristen mit Kafka-Ausgaben in der Hand ablesen konnte, während ich meine milch- wie zuckerlosen Kaffees trank. Das Kaffeehaus war wunderschön, mit Billardtischen in den abgedunkelten, mit Teppichen ausgelegten Nebenräumen. Außerdem mag ich Restaurants / Clubs / Bars im ersten Stock. Oder im Keller. […]

Ich ging über die Steinerne Brücke auf die andere Seite der Moldau, zum Hradschin hinauf, wo hochgelegen in der weitläufigen Burganlage der Veitsdom (die Kathedrale des Erzbistums Prag) steht und über die Stadt schaut. Auch dieser Sakralbau ist - wie die Teynkirche - nicht so einfach zugänglich, wieder eigenartig versperrt und unnahbar. Hier sind es keine Stadthäuser, sondern ganze Flügel eines Schlosses, die sich in den Weg stellen.

Dass Kafka ein Gespür für gebaute Räume des Übergangs hatte, zeigt auch die Wahl seines Schreibhäuschens im Goldenen Gässchen auf dem Prager Burgberg, den er Tag für Tag nach der Arbeit bestieg. Man befindet sich auf einer abfallenden, pittoresk bebauten Straße, betritt die Nr. 22 und schaut plötzlich aus dem Fenster in einen Abgrund. Die Häuser an der Nordseite des Goldenen Gässchens sind nämlich Teil der den Burgberg begrenzenden Mauer, bzw. in diese eingefügt. Der Wehrgang verläuft direkt über Kafkas Schreibzimmer und darunter rauscht im baumbestandenen Graben ein Bach.

Eine unwahrscheinliche Fügung, dass Kafka immer oder zumindest auffallend häufig die absurdesten Architektur-Situationen bewohnte und frequentierte. Da scheint es fast schon nicht mehr erwähnenswert, dass er auch viele Jahre in dem ungewöhnlichen spätgotischen Haus zur Minute wohnte, auf dem eklektische Sgraffito-Szenerien biblische Geschichten und antike Mythen verschmelzen und von wo aus er auf die berühmte Astronomische Uhr des Rathauses blicken konnte, die von zahlreichen Sagen umwoben ist. U.a. der vom Meister Hanuš, dem Konstrukteur der Uhr, dem die Ratsherren von Prag, weil er vergleichbare Aufträge aus anderen Städten annahm, beide Augen ausstechen ließen, worauf der blinde Meister die Uhr durch einen Griff ins Räderwerk verfluchte. […]

 


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