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24.07.2013, 14:00 Uhr
Alissa Ganijewa
Text & Debatte
Ende November 2012 reisten die SchriftstellerInnen Dagmar Leupold, Georg M. Oswald, Norbert Niemann, Nina Jäckle und Hans Pleschinski nach Moskau. Aus Russland kamen Alexander Skidan, Alisa Ganieva, Sergej Lebedew und Alexander Ilichewskij im Mai 2013 nach Bayern, wo sie unter anderem zu Gast in den Literaturhäusern München und Oberpfalz waren.

[Moskau-Blog]: Ein Ort, an den man zurückkehren möchte

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Vier AutorInnen am Fluss: Alexander Skidan, Sergej Lebedew, Alexander Ilichewskij und Alissa Ganijewa auf der Steinernen Brücke zu Regensburg (v.l.n.r.)

Der Name München kommt angeblich vom althochdeutschen „Bei den Mönchen“. Als besonders mönchisch habe ich die Stadt aber nicht empfunden. Im Gegenteil: Sie blühte, öffnete sich, roch nach Weißwürsten, taufeuchtem Englischen Garten und flatterhafter Frische. Es war eine segensreiche Jahreszeit, als wir in München ankamen: keine sibirischen Tiefausläufer, weder Hagel, noch Regen. Fahrradfahrer und fast menschenleere Straßen. Nach dem Moskauer Gedränge kommt einem die Münchner Innenstadt fast steril vor, als hätte man sie von allen überflüssigen Organismen gereinigt.

Diesmal hatte ich mir vorgenommen, mir nicht die Namen aller Plätze und Kirchen zu merken, mich nicht einfach Hals über Kopf auf die Stadt zu stürzen, sie zu umarmen, zu verschlingen, all ihre Sehenswürdigkeiten im Schweinsgalopp abzuklappern. Derartiger Mangel an Zurückhaltung hätte mich daran gehindert, die kleinen Gassen mit den herausgestellten Tischchen zu erspüren, die barocken Palais und bunten Häuser mit ihren wunderlichen Fassaden zu studieren, dem Gespräch der Passanten zu lauschen – dem der bedächtigen Einwohner ebenso als auch dem der in bayerischer Nationaltracht gekleideten Touristen.

Erstaunlich, dass diese Stadt, die vom Krieg so stark gezeichnet war, ihr historisches Antlitz dennoch bewahren, wiederauffüllen, regenerieren konnte. Überhaupt kam es mir vor, als existiere München zweifach, ja dreifach, als habe es mehrere Schichten; so hatte ich das noch in keiner anderen Stadt erlebt. Die „Hauptstadt der Bewegung“ überlappt sich mit der Residenzstadt der bayerischen Könige, das München der Wittelsbacher kreuzt das München Hitlers, und dieses Gemisch wird heute ergänzt durch den FC Bayern, den IT-Standort und das jährliche Oktoberfest auf der Theresienwiese.

Apropos: Natürlich mussten wir auch das Münchner Bier probieren. Zwischen uns und den bayerischen Autoren entspann sich sogar eine Diskussion, was gesünder sei: das Helle oder das Weißbier. Zu einer Einigung kamen wir zwar nicht, aber dafür hatten wir am Ende so gut wie alle Sorten durchprobiert. Übrigens auch Würstl mit Kraut – dies aber bereits am Ufer der Donau, im ehemaligen Haus des Zöllners der altehrwürdigen Stadt Regensburg. Noch immer spüre ich den seltsamen Kontrast zwischen dem glühenden Vorplatz des gotischen Doms und der frostigen Kühle im Innern.

Auf Bayern war ich auch deshalb besonders neugierig, weil es angeblich noch etwas Ursprüngliches und Besonderes bewahrt hat, noch nicht ganz auf Linie getrimmt ist wie andere Orte. Und doch scheiterte ich kläglich bei dem Versuch, herauszufinden, wer von den manchmal lächelnden, manchmal nachdenklichen Menschen, die uns begegneten, nun Schwabe, Franke, Altbayer, Sudetendeutscher oder überhaupt Deutscher war. Ich musste aufs Wort glauben, dass die Bauern in der bayerischen Provinz noch heute Bier zum Frühstück trinken und federngeschmückte Hüte und Trachten tragen.

Neben München, Regensburg und dem wunderbar zuckerbäckerhaften Sulzbach-Rosenberg, das wie die verlassene Kulisse eines Märchenfilms wirkt, kam ich noch in den Genuss der Seenlandschaft der Voralpen und der Zugspitze.

Ich kenne die Berge seit meiner Kindheit, doch die Alpen sind etwas ganz anderes. Wenn ich nach dem richtigen Wort suche, kommt mir seltsamerweise der Begriff „spitzer“ in den Sinn, aber auch das ist nicht ganz richtig. Meine Begleiter fragten verwundert: „Du hast doch schon genug Berge in deinem Kaukasus, was findest du hier bloß so interessant?“ Aber mich haben die Alpen wirklich fasziniert. Nicht nur, weil man von Bergen nie genug haben kann. Die Welt rund um diese steilen Eishänge war vollkommen anders: gepflegt, gemütlich, anziehend. Die Kühe haben Nummern an den Ohren, und die Zugspitzbahn erinnert an einen Modellzug.

An jenem Tag war es kühl, es nieselte, und kaum jemand fuhr mit der Seilbahn auf den Gipfel. Die Berge änderten ihre Farbe. Der Weg hinab schlängelte sich in den seltsamsten Winkeln durchs Gelände.

Nach dieser ersten Reise habe ich München als festliche Stadt in Erinnerung. Zwischen den Trambahngleisen wuchs üppiges Gras (warum müssen die Straßenbahnen in Moskau eigentlich über nackten Asphalt rattern?), die Isar floss an vielen Stellen schnell und schäumend wie ein Gebirgsfluss, und dann waren da noch die wagemutigen Surfer am Eisbach, die dort bei jedem Wetter und zu jeder Tageszeit zu trainieren scheinen.

München öffnete sich auch von seiner historischen Seite: mit dem Führerbau, den Fundamenten der ehemaligen NS-Ehrentempel und der Residenz, in der wir allerdings nur kurz ein paar Statuen sowie das königliche Tafelsilber zu Gesicht bekamen. Mit Statuen antiker Meeresgötter, Kirchen unterschiedlichster Stile, der Ludwig-Maximilians-Universität mit ihrer Gedenkstätte für die Weiße Rose, einem Straßenklavier, dem ein Mann nachdenkliche Melodien entlockte, dem Haus der Kunst mit seiner Goldenen Bar …

Für einen Museumsbesuch blieben uns nur wenige Stunden, also tauchte ich in die Alte Pinakothek ein, wo es gerade eine Ausstellung von Jan Brueghel d. Ä. gab. Und während ich so zwischen den Werken flämischer Meister umherwandelte, musste ich plötzlich an Chalil-Bek Musajasul denken. Der dagestanische Künstler hat Malerei in München studiert, schloss sich einer Künstlergenossenschaft an, kehrte nach dem Studium nicht in die Sowjetunion zurück und heiratete sogar eine Münchner Baronin. Hier erschien auch sein Dagestan-Buch Das Land der letzten Ritter in der Bearbeitung von Luise Laporte. Sein Haus in München ist abgebrannt, viele seiner Bilder gelten als verloren, aber vielleicht befindet sich ja das eine oder andere noch in einer der Münchener Galerien.

Für Nachforschungen blieb jedoch keine Zeit. Der Abend begann sich über die Stadt zu senken. Die Surfer an der Brücke jagten noch immer der unbändigen Welle nach, meine Begleiter unterhielten sich mit ein paar gut aufgelegten Studenten, die uns auf der Straße begegnet waren …

Manchmal kommst du in ein fremdes Land und gerätst von einem Abenteuer ins andere. Dir geschieht Überraschendes und Unangenehmes, du kommst an unglaubliche Orte, lernst seltsame, neue Leute kennen, erlebst die komischsten Geschichten. Meist sind diese in der Nacherzählung viel interessanter, als sie in Wirklichkeit waren.

Aber mit meinem Bericht aus München werde ich wohl kaum jemanden wirklich unterhalten können. Meine Reise nach Bayern verlief ruhig und gesittet, wie ein paradiesischer Traum. Unglaubliche Geschichten und Abenteuer trugen sich nur in meiner Fantasie zu, auf der Ebene des Unbewussten. In Erinnerung geblieben, ins Bewusstsein vorgedrungen ist nur etwas ganz Unbestimmtes, das aber einen nicht weniger starken Eindruck hinterlassen hat. Etwas, das sich schwer beschreiben lässt. Ein Nachgeschmack des Ortes, der mit Worten nur schlecht auszudrücken ist. Innerhalb weniger Tage hatte sich gleichsam ein riesiger Vorrat aus bunten, kurzweiligen Eindrücken angehäuft.

Bayern ist ein Ort, an den man zurückkehren möchte, um neue, noch unbekannte Seiten an ihm zu entdecken. Noch einmal mit dem Fahrrad über den Marienplatz fahren. Die Zugspitze erklimmen. Die Bilder von Chalil-Bek Musajasul finden. Würstl und Brezen verspeisen. Die Menschen wiedersehen, die uns so freundlich aufgenommen haben. Noch einmal ein Museum besuchen und ins Staunen geraten angesichts der Wechselfälle der Zeit, die mit solcher Leichtigkeit Imperien, Ideologien und Staaten entstehen lassen und wieder zunichte machen. Erneut – zum wievielten Mal? – die Ähnlichkeit und die Unterschiede zwischen Deutschen und Russen erleben.

Und vielleicht (wer weiß?) in irgendeine komische Geschichte zu geraten.

Aus dem Russischen von David Drevs.