Verlängerte Malstunde
Der 1963 in Charkiw geborene Schriftsteller und bildende Künstler Alexander Milstein lebt seit 1995 in München. Nach dem Studium der Mathematik beginnt er 1988 zu schreiben. Seitdem hat er acht Bücher mit Prosa veröffentlicht, die Hälfte davon in Russland und die andere Hälfte in der Ukraine, wo 2017 das Buch Pyatipol erscheint, in dem neben Texten erstmals Bilder des Autors zu sehen sind. Seine Geschichten werden auch in der Süddeutschen Zeitung und der Zeitschrift Der Freund veröffentlicht. 2017 nimmt er an Eine Brücke aus Papier in Kijiw teil. 2023 illustriert Milstein den Band Durch die Zeiten und trägt außerdem einen Text dazu bei. Seine Malerei bezieht sich teilweise auf seine literarischen Werke. Er zeigt sie in Ausstellungen und fügt sie seit Pjatipol auch in seine Bücher ein. Der folgende Text ist ein Kapitel der Geschichte „Konturreisen von Dan Kapitonov“ aus ebendiesem Buch.
*
Als er am Feld vorbeifuhr, stoppte Dan Kapitonov vor einem Wrack.
Ein leerer Eisenrahmen, durch den die Kronen der Bäume zu sehen waren. Darüber befand sich an einem dicken Querbalken ein Schild, auf dem etwas geschrieben stand, das Dan – etwas voreilig – mit „Botanischer Garten“ übersetzte.
Zusätzlich zu den Buchstaben zeigte das Schild Pflanzen, die wie Seesterne aussahen, aber wohl eher Agaven oder Aloe-Büsche darstellen sollten.
Was Dan nicht erkannte, war das Gewächshaus. Er hielt es fälschlicherweise für eine molekulare Kristallstruktur.
Außerhalb des Zauns gab es Reihen von Gewächshäusern, deren massive Eisentüren fest verschlossen und deren Wände undurchsichtig waren.
Vielleicht sind das gar keine Gewächshäuser, sondern etwas anderes, dachte Dan, Hangars zum Beispiel, in denen Doppeldecker stehen.
Es gab mehr als eine solche Gewächshausstraße, und alle Türen waren geschlossen. Dan trat hinaus in die zentrale Allee, wo das Grün wunderbare Gestalten anzunehmen begann. So etwas hatte er sich von seinem Balkon aus natürlich nicht vorstellen können.
Aber irgendetwas musste er geahnt haben, sonst hätte es ihn nicht hier rausgezogen.
Und hier fand er ein ziemlich seltsames Grün: ein riesiger, aus einem Busch geschnittener Würfel, der auf der Spitze stand, daneben eine menschliche Statue, und daneben stand ein Bambushain … Er hörte „Servus!“, drehte sich um und sah den ersten Bewohner dieses stillen Tümpels, dieses wasserlosen Stausees, dieses „Biotops“, wenn man so will.
Mit den Worten: „Sie hat der liebe Gott zu uns geschickt“, machte der Mann ihm ein unerwartetes Angebot.
Als er das Gewächshaus betrat, sah Dan einen Hain von Bäumen in rosa Töpfen und ein Dutzend gelber Staffeleien. Die Szene wurde vom Licht vieler Scheinwerfer erhellt, hinter denen jeweils ein nicht so junger Schüler oder eine Schülerin ihm zuwinkte.
Dan, so kann man sagen, sah im ersten Moment diese Koloristen als Floristen, denn das Ganze sah aus wie ein Blumenladen, der sich ja nicht selten in solch einem Glashaus befindet ... aber alles in allem ist das zu kraus beschrieben ... und im Deutschen lautet es auch nicht „kraus“, sondern … genau: „blumig“, nicht wahr.
Seine alte Freundin Oksana hat lange Zeit nebenbei als Modell am Kunstinstitut der Stadt X gejobbt und Dan hat sich damals geschmeichelt gefühlt, als ob seine Freundin ein wahnsinnig hübsches Model wäre.
Aber sie hätte es wirklich sein können, man hatte ihr oft davon erzählt, im Allgemeinen assoziierte Dan „Modell“ mit perfekten Formen, was idiotisch war, wie er jetzt verstand, er hatte nur noch nie über das Phänomen der Models und Modelle nachgedacht.
Dan mochte keine Filme über Künstler wie „Caravaggio“ usw., und sah sie nicht zu Ende, wenn er zufällig darüber stolperte.
Und nun steckte er in Oksanas Schuhen und konnte sich ein Lächeln kaum verkneifen, als ob er etwas Lustiges auf seinem Kindle lesen würde. Tatsächlich gab es dort nichts Lustiges zu lesen und der Text auf dem Bildschirm verschwand fast die ganze Zeit hinter einem Schleier aus Erinnerungen, und wären nicht zwanzig Augen auf ihn gerichtet gewesen, hätte er den Kindle beiseitegelegt, die Augen geschlossen und sich dem Strom der Visionen hingegeben. Aber jetzt wurde er selbst, wie einst Oksana, zum Modell, er wurde in Öl gemalt, pastos, ähnlich der Zahncreme, die die Schüler aus den Tuben pressten, um damit im Pionierlager die Schlafenden zu beschmieren.
Jetzt waren sie allerdings keine Pioniere mehr, sondern solide ältere Menschen, und er versprach ihrem Lehrer, stillzusitzen und dabei ein Buch zu lesen. Er wurde mit offenen Augen gemalt, obwohl man ihn auch im Schlafmodus hätte abbilden können, wahrscheinlich, aber dafür war es zu spät und Dan berührte immer wieder den Kindle-Bildschirm.
Am Ende der Stunde bat der Lehrer seine Schüler, die Staffeleien so zu drehen und hinzustellen, dass Dan alle Porträts von sich zugleich sehen konnte.
Es waren dreizehn Staffeleien. Wenn er sie mit drei multiplizierte (jede Staffelei hat doch drei Beine), kam er auf rund vierzig und konnte nicht anders, als sich zu fühlen wie ein Tausendfüßler, der in ein Gewächshaus gekrochen ist, was er seinen Zuhörern lachend mitteilte, indem er erklärte, dass „Tausendfüßler“ auf Russisch ausgerechnet „Vierzigfüßler“, „сороконожка“, heißt, und er sagte, er sei beeindruckt, ohne mitzuteilen, ob es an diesem Gefühl oder an ihren Arbeiten lag.
Eine ältere Frau überraschte ihn mit dem, was sie während jener Sitzung gemalt hatte. Auf ihrer Staffelei entdeckte Dan etwas Ähnliches wie Nordlichter oder die grünen posthumanen Kardiogramme von Gerhard Richter.
„Das ist er also – der Föhn! – wird Dan freudig ausrufen. – Ich habe nur von ihm gehört, ihn aber nie gesehen! Seit heute Morgen sagen sie im Radio, dass es heute Föhn geben soll, wie hast du ihn denn eingefangen? Ich meine, mich?“
Die anderen Porträts sind vielleicht nicht ganz so stimmungsvoll, auf jeden Fall eher anthropomorph, und zwei oder drei ähneln Dan sogar, wenn auch nur entfernt.
Einige Schüler bitten um die Erlaubnis, ihn neben ihren Werken fotografieren zu dürfen. Dan zögert ... dann nickt er, das ist gar nichts, nach eine Stunde Malen sind ein paar Minuten Fotografieren schon okay.
Und hier noch eine zweite Überraschung: zusätzlich zu dem kleinen Honorar, den die Schüler für ihn gesammelt hatten, beschließt der Mallehrer plötzlich, Dan glücklich zu machen.... mit einer eigenen Waldskizze.
Dan ist verblüfft, er bedankt sich … es gelingt ihm, unwillkürlich zu murmeln, dass ihm das Bild sehr gut gefällt, aber ... er weiß nichts über Rahmen, wissen Sie, es ist alles ein Rätsel für ihn, welcher dazu passt und welcher nicht.
Es stellt sich heraus, dass er das Gemälde zusammen mit dem Rahmen bekommt. Dan ist heute einfach ein Glückspilz ...
Der Lehrer versteckt sich mit Leinwänden, Keilrahmen in verschiedenen Größen, Schaufensterpuppen im Lagerhaus.
Ja, ja, es gibt Büsten, Körperteile aus Gips und Torsi mit Köpfen, wahrscheinlich, denn so hat der Lehrer es seinen Schülern beigebracht, bevor sie den ganzen Dan Kapitonov malten.
Und sie haben auch ein Skelett dastehen, und der Lehrer erzählt Dan lachend (die Schüler haben das schon gehört, inzwischen verlassen sie langsam das Gewächshaus, auch der, dem durchsichtige, bläuliche Schläuche aus der Nase kommen, wahrscheinlich geht er direkt zurück ins Krankenhaus), wie er auf dem großen Flohmarkt ein „medizinisches“ Skelett kaufte und wie die Polizei darauf reagierte, als der Kunstlehrer und sein Freund in der Morgendämmerung auf einer leeren Straße unweit der Theresienwiese das Skelett nicht auf Anhieb ins Auto bekamen, sondern das Skelett versuchte, wieder aus dem Auto zu springen, und fiel dabei hartnäckig auf den Bürgersteig ... und so, als sie schon alle im Auto saßen, der Lehrer hinterm Steuer ... beim Losfahren dann zu sehen, wie sich die Gedanken zweier kräftiger bayerischer Polizisten in Form von Falten auf ihren Stirnen spiegeln …
Das Bild ist bereits verglast.
Draußen vor dem Tor nimmt Dan das Schloss vom Rad, hebt das Bild vom Boden auf, klemmt es wieder unter den Arm und setzt sich in den Sattel.
Er fährt erst langsamer als sonst und dann in seinem normalen Tempo, er beherrscht das Rad auch mit nur einer Hand am Lenker. Es braucht ein bisschen mehr Konzentration, aber was soll's, es ist okay, er kommt ganz gut damit zurecht. Die Felder und all diese Haufen von Halloween-Kohl liegen bereits hinter ihm, um ihn herum sind wieder Asphalt und Beton. Dicht vor Dan wird eine Ampel rot und er bremst ... aber zu stark, er vergisst, dass er ein Gemälde unter dem Arm hat, er kann den Lenker nicht gerade halten, das Fahrrad schlingert ... Dan stürzt nach vorne und nach rechts, die Kiefern, der ganze Wald ... liegt unter ihm, er fällt hinein. Glas klirrt.
Dans Hand trifft nicht auf den Asphalt, sondern landet direkt in dem Glasdickicht... das heißt, das Glas zersplittert in tausend Scherben, die in seine Handfläche schneiden und dort neue Schicksalslinien zeichnen und alte verändern, ja … das erzählt Dan später seinen Bekannten, er zeigt seine Narben, mythisiert sich selbst ein bisschen, er mag das ... aber das kommt später und jetzt, ihn das Ganze noch gar nicht amüsiert, zerbricht das Glas nicht eben wie Schokolade in seiner Hand.
Blut fließt, Dan lässt sein Fahrrad liegen und läuft, eine rote Strichpunktlinie auf dem Bürgersteig hinterlassend, the bloody landscape mit der gesunden Hand haltend, zur Apotheke, wo ihm Erste Hilfe geleistet und er gefragt wird, ob er eine Tetanus-Impfung hat, was in seinem Ohr schon etwas mythisch klingt, Dan versteht nicht sofort, was der Apotheker nun so „titanisch“ an ihm findet.
Dann begreift Kapitonov endlich, wovon der Apotheker spricht, und verspricht, in der Klinik oder beim Hausarzt vorbeizuschauen und sich impfen zu lassen, woraufhin er sich verabschiedet und mit einer bandagierten Hand langsam in Richtung nach Hause fährt.
Der Apotheker schreit ihm hinterher.
Dan kehrt zurück und nimmt das vergessene Bild wieder unter den Arm.
Ohne Glas ist es nicht mehr gefährlich, auch wenn es jetzt unheimlich aussieht, gewachsen im Botanischen Garten und gefüttert mit seinem Blut.
Dan weiß noch nicht, auf welcher Seite der Kunstlehrer das Bild signiert hat.
Verlängerte Malstunde>
Der 1963 in Charkiw geborene Schriftsteller und bildende Künstler Alexander Milstein lebt seit 1995 in München. Nach dem Studium der Mathematik beginnt er 1988 zu schreiben. Seitdem hat er acht Bücher mit Prosa veröffentlicht, die Hälfte davon in Russland und die andere Hälfte in der Ukraine, wo 2017 das Buch Pyatipol erscheint, in dem neben Texten erstmals Bilder des Autors zu sehen sind. Seine Geschichten werden auch in der Süddeutschen Zeitung und der Zeitschrift Der Freund veröffentlicht. 2017 nimmt er an Eine Brücke aus Papier in Kijiw teil. 2023 illustriert Milstein den Band Durch die Zeiten und trägt außerdem einen Text dazu bei. Seine Malerei bezieht sich teilweise auf seine literarischen Werke. Er zeigt sie in Ausstellungen und fügt sie seit Pjatipol auch in seine Bücher ein. Der folgende Text ist ein Kapitel der Geschichte „Konturreisen von Dan Kapitonov“ aus ebendiesem Buch.
*
Als er am Feld vorbeifuhr, stoppte Dan Kapitonov vor einem Wrack.
Ein leerer Eisenrahmen, durch den die Kronen der Bäume zu sehen waren. Darüber befand sich an einem dicken Querbalken ein Schild, auf dem etwas geschrieben stand, das Dan – etwas voreilig – mit „Botanischer Garten“ übersetzte.
Zusätzlich zu den Buchstaben zeigte das Schild Pflanzen, die wie Seesterne aussahen, aber wohl eher Agaven oder Aloe-Büsche darstellen sollten.
Was Dan nicht erkannte, war das Gewächshaus. Er hielt es fälschlicherweise für eine molekulare Kristallstruktur.
Außerhalb des Zauns gab es Reihen von Gewächshäusern, deren massive Eisentüren fest verschlossen und deren Wände undurchsichtig waren.
Vielleicht sind das gar keine Gewächshäuser, sondern etwas anderes, dachte Dan, Hangars zum Beispiel, in denen Doppeldecker stehen.
Es gab mehr als eine solche Gewächshausstraße, und alle Türen waren geschlossen. Dan trat hinaus in die zentrale Allee, wo das Grün wunderbare Gestalten anzunehmen begann. So etwas hatte er sich von seinem Balkon aus natürlich nicht vorstellen können.
Aber irgendetwas musste er geahnt haben, sonst hätte es ihn nicht hier rausgezogen.
Und hier fand er ein ziemlich seltsames Grün: ein riesiger, aus einem Busch geschnittener Würfel, der auf der Spitze stand, daneben eine menschliche Statue, und daneben stand ein Bambushain … Er hörte „Servus!“, drehte sich um und sah den ersten Bewohner dieses stillen Tümpels, dieses wasserlosen Stausees, dieses „Biotops“, wenn man so will.
Mit den Worten: „Sie hat der liebe Gott zu uns geschickt“, machte der Mann ihm ein unerwartetes Angebot.
Als er das Gewächshaus betrat, sah Dan einen Hain von Bäumen in rosa Töpfen und ein Dutzend gelber Staffeleien. Die Szene wurde vom Licht vieler Scheinwerfer erhellt, hinter denen jeweils ein nicht so junger Schüler oder eine Schülerin ihm zuwinkte.
Dan, so kann man sagen, sah im ersten Moment diese Koloristen als Floristen, denn das Ganze sah aus wie ein Blumenladen, der sich ja nicht selten in solch einem Glashaus befindet ... aber alles in allem ist das zu kraus beschrieben ... und im Deutschen lautet es auch nicht „kraus“, sondern … genau: „blumig“, nicht wahr.
Seine alte Freundin Oksana hat lange Zeit nebenbei als Modell am Kunstinstitut der Stadt X gejobbt und Dan hat sich damals geschmeichelt gefühlt, als ob seine Freundin ein wahnsinnig hübsches Model wäre.
Aber sie hätte es wirklich sein können, man hatte ihr oft davon erzählt, im Allgemeinen assoziierte Dan „Modell“ mit perfekten Formen, was idiotisch war, wie er jetzt verstand, er hatte nur noch nie über das Phänomen der Models und Modelle nachgedacht.
Dan mochte keine Filme über Künstler wie „Caravaggio“ usw., und sah sie nicht zu Ende, wenn er zufällig darüber stolperte.
Und nun steckte er in Oksanas Schuhen und konnte sich ein Lächeln kaum verkneifen, als ob er etwas Lustiges auf seinem Kindle lesen würde. Tatsächlich gab es dort nichts Lustiges zu lesen und der Text auf dem Bildschirm verschwand fast die ganze Zeit hinter einem Schleier aus Erinnerungen, und wären nicht zwanzig Augen auf ihn gerichtet gewesen, hätte er den Kindle beiseitegelegt, die Augen geschlossen und sich dem Strom der Visionen hingegeben. Aber jetzt wurde er selbst, wie einst Oksana, zum Modell, er wurde in Öl gemalt, pastos, ähnlich der Zahncreme, die die Schüler aus den Tuben pressten, um damit im Pionierlager die Schlafenden zu beschmieren.
Jetzt waren sie allerdings keine Pioniere mehr, sondern solide ältere Menschen, und er versprach ihrem Lehrer, stillzusitzen und dabei ein Buch zu lesen. Er wurde mit offenen Augen gemalt, obwohl man ihn auch im Schlafmodus hätte abbilden können, wahrscheinlich, aber dafür war es zu spät und Dan berührte immer wieder den Kindle-Bildschirm.
Am Ende der Stunde bat der Lehrer seine Schüler, die Staffeleien so zu drehen und hinzustellen, dass Dan alle Porträts von sich zugleich sehen konnte.
Es waren dreizehn Staffeleien. Wenn er sie mit drei multiplizierte (jede Staffelei hat doch drei Beine), kam er auf rund vierzig und konnte nicht anders, als sich zu fühlen wie ein Tausendfüßler, der in ein Gewächshaus gekrochen ist, was er seinen Zuhörern lachend mitteilte, indem er erklärte, dass „Tausendfüßler“ auf Russisch ausgerechnet „Vierzigfüßler“, „сороконожка“, heißt, und er sagte, er sei beeindruckt, ohne mitzuteilen, ob es an diesem Gefühl oder an ihren Arbeiten lag.
Eine ältere Frau überraschte ihn mit dem, was sie während jener Sitzung gemalt hatte. Auf ihrer Staffelei entdeckte Dan etwas Ähnliches wie Nordlichter oder die grünen posthumanen Kardiogramme von Gerhard Richter.
„Das ist er also – der Föhn! – wird Dan freudig ausrufen. – Ich habe nur von ihm gehört, ihn aber nie gesehen! Seit heute Morgen sagen sie im Radio, dass es heute Föhn geben soll, wie hast du ihn denn eingefangen? Ich meine, mich?“
Die anderen Porträts sind vielleicht nicht ganz so stimmungsvoll, auf jeden Fall eher anthropomorph, und zwei oder drei ähneln Dan sogar, wenn auch nur entfernt.
Einige Schüler bitten um die Erlaubnis, ihn neben ihren Werken fotografieren zu dürfen. Dan zögert ... dann nickt er, das ist gar nichts, nach eine Stunde Malen sind ein paar Minuten Fotografieren schon okay.
Und hier noch eine zweite Überraschung: zusätzlich zu dem kleinen Honorar, den die Schüler für ihn gesammelt hatten, beschließt der Mallehrer plötzlich, Dan glücklich zu machen.... mit einer eigenen Waldskizze.
Dan ist verblüfft, er bedankt sich … es gelingt ihm, unwillkürlich zu murmeln, dass ihm das Bild sehr gut gefällt, aber ... er weiß nichts über Rahmen, wissen Sie, es ist alles ein Rätsel für ihn, welcher dazu passt und welcher nicht.
Es stellt sich heraus, dass er das Gemälde zusammen mit dem Rahmen bekommt. Dan ist heute einfach ein Glückspilz ...
Der Lehrer versteckt sich mit Leinwänden, Keilrahmen in verschiedenen Größen, Schaufensterpuppen im Lagerhaus.
Ja, ja, es gibt Büsten, Körperteile aus Gips und Torsi mit Köpfen, wahrscheinlich, denn so hat der Lehrer es seinen Schülern beigebracht, bevor sie den ganzen Dan Kapitonov malten.
Und sie haben auch ein Skelett dastehen, und der Lehrer erzählt Dan lachend (die Schüler haben das schon gehört, inzwischen verlassen sie langsam das Gewächshaus, auch der, dem durchsichtige, bläuliche Schläuche aus der Nase kommen, wahrscheinlich geht er direkt zurück ins Krankenhaus), wie er auf dem großen Flohmarkt ein „medizinisches“ Skelett kaufte und wie die Polizei darauf reagierte, als der Kunstlehrer und sein Freund in der Morgendämmerung auf einer leeren Straße unweit der Theresienwiese das Skelett nicht auf Anhieb ins Auto bekamen, sondern das Skelett versuchte, wieder aus dem Auto zu springen, und fiel dabei hartnäckig auf den Bürgersteig ... und so, als sie schon alle im Auto saßen, der Lehrer hinterm Steuer ... beim Losfahren dann zu sehen, wie sich die Gedanken zweier kräftiger bayerischer Polizisten in Form von Falten auf ihren Stirnen spiegeln …
Das Bild ist bereits verglast.
Draußen vor dem Tor nimmt Dan das Schloss vom Rad, hebt das Bild vom Boden auf, klemmt es wieder unter den Arm und setzt sich in den Sattel.
Er fährt erst langsamer als sonst und dann in seinem normalen Tempo, er beherrscht das Rad auch mit nur einer Hand am Lenker. Es braucht ein bisschen mehr Konzentration, aber was soll's, es ist okay, er kommt ganz gut damit zurecht. Die Felder und all diese Haufen von Halloween-Kohl liegen bereits hinter ihm, um ihn herum sind wieder Asphalt und Beton. Dicht vor Dan wird eine Ampel rot und er bremst ... aber zu stark, er vergisst, dass er ein Gemälde unter dem Arm hat, er kann den Lenker nicht gerade halten, das Fahrrad schlingert ... Dan stürzt nach vorne und nach rechts, die Kiefern, der ganze Wald ... liegt unter ihm, er fällt hinein. Glas klirrt.
Dans Hand trifft nicht auf den Asphalt, sondern landet direkt in dem Glasdickicht... das heißt, das Glas zersplittert in tausend Scherben, die in seine Handfläche schneiden und dort neue Schicksalslinien zeichnen und alte verändern, ja … das erzählt Dan später seinen Bekannten, er zeigt seine Narben, mythisiert sich selbst ein bisschen, er mag das ... aber das kommt später und jetzt, ihn das Ganze noch gar nicht amüsiert, zerbricht das Glas nicht eben wie Schokolade in seiner Hand.
Blut fließt, Dan lässt sein Fahrrad liegen und läuft, eine rote Strichpunktlinie auf dem Bürgersteig hinterlassend, the bloody landscape mit der gesunden Hand haltend, zur Apotheke, wo ihm Erste Hilfe geleistet und er gefragt wird, ob er eine Tetanus-Impfung hat, was in seinem Ohr schon etwas mythisch klingt, Dan versteht nicht sofort, was der Apotheker nun so „titanisch“ an ihm findet.
Dann begreift Kapitonov endlich, wovon der Apotheker spricht, und verspricht, in der Klinik oder beim Hausarzt vorbeizuschauen und sich impfen zu lassen, woraufhin er sich verabschiedet und mit einer bandagierten Hand langsam in Richtung nach Hause fährt.
Der Apotheker schreit ihm hinterher.
Dan kehrt zurück und nimmt das vergessene Bild wieder unter den Arm.
Ohne Glas ist es nicht mehr gefährlich, auch wenn es jetzt unheimlich aussieht, gewachsen im Botanischen Garten und gefüttert mit seinem Blut.
Dan weiß noch nicht, auf welcher Seite der Kunstlehrer das Bild signiert hat.