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Herzog

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Alle Bilder © Alexander Milstein

Der 1963 in Charkiw geborene Schriftsteller und bildende Künstler Alexander Milstein lebt seit 1995 in München. Nach dem Studium der Mathematik beginnt er 1988 zu schreiben. Seitdem hat er acht Bücher mit Prosa veröffentlicht, die Hälfte davon in Russland und die andere Hälfte in der Ukraine, wo 2017 das Buch Pyatipol erscheint, in dem neben Texten erstmals Bilder des Autors zu sehen sind. Seine Geschichten werden auch in der Süddeutschen Zeitung und der Zeitschrift Der Freund veröffentlicht. 2017 nimmt er an Eine Brücke aus Papier in Kijiw teil. 2023 illustriert Milstein den Band Durch die Zeiten und trägt außerdem einen Text dazu bei. Seine Malerei bezieht sich teilweise auf seine literarischen Werke. Er zeigt sie in Ausstellungen und fügt sie seit Pjatipol auch in seine Bücher ein.

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Ich habe heute Abend Emmanuel Carrères Limonow gelesen. Nicht am Stück, in Schnipseln, „Ukraine“, „New York“ (wie die Kapitel des Buches heißen), und dann irgendwo am Anfang des Kapitels „Paris“ vergisst Emmanuel Carrère vorübergehend seinen Helden Eduard Limonow (vielleicht geschah es ab und zu auch auf früheren Seiten) und erinnert sich an eine Episode mit Werner Herzog, die ihm „half, endlich das Wesen des Faschismus zu verstehen”. „Es wird dir helfen, Faschisten zu bewundern!“, sagte ihm damals sein Freund, dem Emmanuel Carrère erzählte, wie Werner Herzog ihn behandelt hatte, und Emmanuel Carrère schreibt, er hat dem Freund zugestimmt. „Der Mensch, der andere als minderwertig, überlegen oder gleichwertig betrachtet, weiß nichts von der Wirklichkeit.“ Das sind auch die Worte von Emmanuel Carrères Freund, einem Publizisten namens Clerc. Die Diskussion darüber, ob Limonow ein Faschist ist, zieht sich wie ein roter Faden durch Carrères Buch, und sein Urteil über Herzog bleibt dem Gewissen des Autors überlassen; meiner Meinung nach ist es eine jener Aussagen, die den Begriff „Faschist“ nur noch weiter bis zur völligen Bedeutungslosigkeit verwischen. Eine andere Sache ist, dass der Held des Buches, Limonow, nicht nur ein Schriftsteller war, sondern auch der Gründer der Nationalbolschewistischen Partei Russlands. Warum also so viele Spekulationen darüber, ob er ein Faschist war oder nicht, verstehe ich nicht – wie viel mehr muss da sein? Aber lassen wir das, ich spreche nicht vom Faschismus hier. Mir ist gestern etwas Anderes eingefallen: als ich las, wie mein Lieblingsregisseur ihm in die Seele spuckte ... Und nicht nur spuckte, sondern, wie Carrère schreibt, als ob Herzog ein Insekt sah, eine Wanze, eine Kakerlake, ja, er hat versucht, sie mit dem Fuß zu zerquetschen, im Vorbeigehen, und überhaupt, seine Vergleiche sind gar nicht so abwegig, siehe da: Herzog erzählte dem jungen, aufstrebenden Autor Carrère, der ihn interviewen wollte – der bereits ein Buch über ihn, Werner Herzog, geschrieben hatte, das er, Herzog, übrigens sicher nicht lesen konnte, weil er, wie Carrère behauptet, kein Französisch spricht ... als der Franzose also seine Suite in einem Hotel in Cannes betrat, sagte Herzog mit Blick auf Carrères auf dem Tisch liegenden Buch, das ihm der Verleger geschickt hatte: „Ihr Buch ist eigentlich nur scheiße. Das ist alles. Und jetzt lassen Sie uns an die Arbeit gehen.“ Das heißt: Machen Sie sich jetzt daran, mich zu interviewen. Und so stellte ich mir vor, was Herzog sagen würde, wenn ich ... Und nein, es ist kein rein abstraktes Gedankenexperiment.

Vor vielen Jahren schrieb mir Max Schevtsov, der Herausgeber der ukrainischen Zeitschrift „NA!!!“, in der meine Texte veröffentlicht wurden, einen Brief, in dem er mich bat, Herzog zu treffen und ihn für seine Zeitschrift zu interviewen. Die Idee kam Max, als er erfuhr, dass sich Herzogs Büro in München befand, irgendwo, wenn ich mich recht erinnere, in der Türkenstraße, warum also nicht, da es in der Stadt lag, in der ich lebte. Aber ich hatte es nicht eilig, dorthin zu gehen, denn ich hatte Max gestanden, dass ich nur einen Film von Herzog gesehen hätte: Mein liebster Feind. Und das, da musst du mir zustimmen, schrieb ich an Max, reicht nicht aus, um den Regisseur zu interviewen, also schaue ich mir zuerst seine Filme an, und dann entscheide ich. Mein cinephiler Freund schenkte mir CDs, auf die er alle damals existierenden Filme von Herzog gequetscht hatte, ich erinnere mich, dass ich mit dem Film Auch Zwerge haben klein angefangen begonnen habe, und dann hat sich diese Sichtung über Jahre hingezogen, und in dieser Zeit hat der Auftrag der Zeitschrift … nicht dass sie an Bedeutung verloren hätte, aber ... bald geriet die Zeitschrift selbst in einen so unverständlichen, wenn auch für Zeitschriften eines bestimmten Alters üblichen, flimmernden Modus von, sagen wir mal, „Schrödingers Magazin“, und erneut kam mir diese Idee – Herzog zu treffen – unwillkürlich und aus einem anderen Grund in den Sinn. Obwohl ich formell als Anlass „Max‘ Auftrag“ zu nennen gedachte. Und so saß ich in irgendeinem Münchner Kino – einem derjenigen, in denen das jährliche Filmfestival stattfand – nach der Premierenvorführung seines Hollywoodfilms Rescue Dawn und hörte Werner Herzog auf der Bühne zu, wie er sein übervolles Leben beschrieb ... Ich weiß nicht, was sie in diesem Büro in der Türkenstraße machen, oder ob Herzog jemals dort war. Damals lebte er auf mehreren Kontinenten gleichzeitig .... die Liste der Filme, die er erst kürzlich – parallel zu Rescue Dawn – gedreht hatte, war schwindelerregend, und im Allgemeinen erinnerte ich mich von all dieser schneestürmischen Geografie nur an die wichtigsten Punkte: dann war es der Südpol, wo er eine Doku über die Antarktis drehte, und irgendwo zur gleichen Zeit – einen Science-Fiction-Film, aber wo, weiß ich nicht mehr, irgendwo im hohen Norden ... ja, und dazwischen besucht er natürlich seine Ranch in Kalifornien, und die kanadischen Wälder und Höhlen usw.

„Ich vermisse meine liebe Heimatstadt München wirklich sehr, wo ich so viele Jahre vor dieser Ankunft nicht mehr gewesen bin ..., sagte Herzog, und wissen Sie, am meisten vermisse ich die einfachen Dinge, wie es scheint – Weißwürste und Weißbier, das man nirgends so trinkt wie morgens auf dem Viktualienmarkt ...“ Später hörte ich übrigens auf Bayern 2 ein Interview mit einem deutschen Astronauten, ich habe seinen Namen vergessen ... und auf die Frage, was er im Orbit am meisten vermisse, sagte dieser nach kurzem Zögern: „Weizenbier!“ Ja, aber als ich Herzog zuhörte, hatte ich noch ernsthaft vor, ihn nach seinem Auftritt anzusprechen und zu versuchen, ein Interview für eine nicht mehr existierende Zeitschrift zu arrangieren, die vielleicht noch herauskommt ... oder ich könnte das Interview auch woanders veröffentlichen, das war nicht der Punkt.

Der Punkt war folgender: Wenn ich das Interview mache oder während des Interviews, irgendwo zwischen der fünften und sechsten Frage, werde ich sagen: „Lieber Herr Herzog, warum müssen Sie durch die ganze Welt reisen? Das ist doch alles Eitelkeit ... Kommen Sie in Ihre Heimatstadt und drehen Sie vor Ort einen Film über sie! Es wird so etwas wie eine Fortsetzung von Jeder für sich und Gott gegen alle oder „Kaspar Hauser“, wie der Film auch oft genannt wird, aber ohne direkte Übergänge, ohne Appell, nur mit einer entfernt ähnlichen Situation und Stimmung ... und dieses ewige Thema der verlassenen Kinder, nur dass es hier ein Münchner Kindl sein wird, das aus dem Geist der Malerei geboren ist. In München werden nach dem aufsehenerregenden „Pinakothek-Raub“ anonyme Rückgabestellen für Gemälde eingerichtet, wie sie in der Schweiz bereits erprobt wurden. Und noch früher anonyme Abgabestellen für Menschen, die so genannten „Baby-Klappen”. Eine allzu junge, ahnungslose Mutter, die diese Orte verwechselt hat, gibt ihr Baby an der Kunstrückgabestelle ab, wo es bei einer Kontrolle von Mitarbeitern der Sicherheitsfirma gefunden wird und wie durch ein Wunder überlebt, denn im Gegensatz zu den Baby-Klappen sind die Kunstrückgabestellen nicht mit Warngeräten ausgestattet. Achim Aigner, ein Base-Jumper und Wingsuit-Flieger, der zu der Zeit bei der Firma jobbt, findet und adoptiert den Jungen und enthüllt ihm erst auf dem Sterbebett das Geheimnis seiner Herkunft. Dies löst in Jens alias Pinoktiko eine Reihe von Visionen aus.

Sie sind ein Faust und ein Fantast, Herr Herzog, und auch mein Lieblingsregisseur, deshalb möchte ich Ihnen meinen neuen Roman geben – um ihn zu verfilmen, das sind Sie, denn Sie sind der einzige, den ich mir überhaupt als Regisseur von „Pinoktiko“ vorstellen kann. Ich weiß, Sie lesen kein Russisch, ich weiß, dennoch ... Sie verzeihen mir hoffentlich meine bloß zufälligen Kenntnisse, oder? Ich habe gehört, dass Ihre Frau auf Russisch liest, vielleicht liest sie Ihnen also meinen Roman vor. Also wirklich, Herr Herzog, wie man so schön sagt, es steckt keine Wahrheit in den Füßen, wie man auf Russisch sagt, setzen Sie sich und beruhigen Sie sich, hier ist er, der Film, den Sie einfach machen müssen – über die menschliche Natur und über Ihr geliebtes München, es wird alles da sein ... Wozu brauchen Sie dieses Antarktis-Kalifornien, da ist nichts, alles ist in uns ...“ Wenn Sie denken, ich scherze, dann irren Sie sich. All das habe ich in Gedanken schon einmal gesagt – na ja, vielleicht ein bisschen anders, aber der Unterschied zwischen diesem Entwurf und meinem Monolog, mit dem ich den Herzog überrumpelt hätte, wäre klein gewesen. 

Und auch in dem Wort „Lieblingsregisseur“ wäre übrigens keine dreiste Schmeichelei oder Lüge enthalten gewesen, denn ich habe zum Beispiel dem Dichter Andrej Sen-Senkov bei meinem Literaturabend im Moskauer „Bilingua“ 2008 genauso geantwortet. „Wer ist Ihr Lieblingsregisseur?“ – fragte er, so klang die Frage jedenfalls in meiner Erinnerung. Und ich sagte: „Werner Herzog.“ – „Nein, das ist nicht genau das, was ich gefragt habe“, sagte Andrej. „Meine Frage sah ein wenig anders aus: Wenn von einer Verfilmung deines Romans die Rede wäre, wen würdest du gerne als Regisseur haben?“ Auf diese Weise wird deutlich, wo und wann mir diese verrückte Idee gekommen ist.

Na ja, weil ich mir gerade sein filmisches Werk angeschaut hatte, ich war beeindruckt, mir hat vieles gefallen. Ich habe „Kaspar Hauser“ gesehen, nachdem ich den Roman Pinoktiko schon geschrieben hatte, aber nachdem ich ihn gesehen hatte, sah ich meinen Roman mit ein bisserl anderen Augen, ich sah etwas Neues darin. Und das alles war, kurz bevor ich in dem Saal saß, in dem Herzog sprach. Und ich war noch völlig berauscht von meinem neuen, der Roman war gerade erst geschrieben, er war noch nicht veröffentlicht, die Feinarbeiten liefen noch, und außerdem hatten mich die Rückmeldungen von etwa zehn Leuten, deren Meinung mir besonders wichtig war und die den Entwurf gelesen hatten, so erwärmt, dass ich an diesem Abend fast auf Werner Herzog zugegangen wäre, ob Sie es glauben oder nicht. Ich weiß nicht, ob er sich bereit erklärt hätte, mir ein Interview zu geben, bei dem ich ihm mit diesen verrückten Worten mein Manuskript überreicht hätte, das Drehbuch seines besten Films ... Tja, und dann gestern, nachdem ich erfahren habe, was er mit einem französischen Journalisten und Autor, der ein Buch über Herzog schrieb, gemacht hat, das er nicht einmal gelesen hatte ... Ich konnte nicht anders, als mir vorzustellen, was er als Antwort auf meinen Monolog und das Buch sagen würde, ohne es gelesen zu haben ... Das heißt, in meiner Vorstellung wäre es nicht einmal ein intelligenter Doktor mit einer anzüglichen Stimme ... sondern er würde sich vor meinen Augen in Mr. Hyde verwandeln, ja, in „seinen Lieblingsfeind“, in Klaus Kinski natürlich, und zwar in seinem exzessivsten Modus ... Ja, ich bin mir sicher, dass Witze Witze sind, aber er hätte völlig die Beherrschung verloren oder, ohne die Beherrschung zu verlieren, etwas zu mir gesagt, als Antwort auf meinen „Märchenvorschlag“, das mich die Beherrschung hätte verlieren lassen, und was dann und wo wäre ich jetzt ... Carrères schreibt, dass er eigentlich als Antwort hätte zuschlagen müssen, und schreibt bitter, dass er stattdessen begann, gehorsam das Interview zu führen, und dass er sich dafür bis heute verachte. Jedenfalls war ich gestern sehr froh, dass ich es mir damals im letzten Moment anders überlegt habe, ich hatte mich schon auf die Bühne zubewegt, bin stehengeblieben und habe Werner Herzog nicht angesprochen, der hoffentlich, wenn auch mit geringer Wahrscheinlichkeit, doch ... plötzlich doch noch bereit sein könnte, jenem mysteriösen  Magazin ein Interview zu geben. Ich hatte in meinem Rucksack die letzte Ausgabe (wie sich später leider herausstellte, die letzte im wahrsten Sinne des Wortes) des wirklich wunderschönen Magazins „NA!!!“ dabei.