Verwickelte Fäden. Inspiriert von Oskar Maria Grafs „Das Leben meiner Mutter“
Happy birthday, Oskar Maria!
Anlässlich des 130. Geburtstages von Oskar Maria Graf, einem der bedeutendsten bayerischen Autoren, der 1933 ins Exil nach New York ging, hat die Oskar Maria Graf Gesellschaft jüngst eine Tagung zu den Frauenbildern in seinen Werken durchgeführt. Im Rahmen der damit verbundenen Abendveranstaltung Über Mütter lasen die Autorin Andrea Heuser und der Schriftsteller Markus Ostermair im Literaturhaus München ihre literarischen Texte vor. Texte, die sich im Kontext mit Oskar Maria Grafs berühmtem autobiographischen Roman Das Leben meiner Mutter und dem darin verhandelten Frauen- und Mutterbild lesen lassen.
Die Sprecherin und Performerin Ruth Geiersberger brachte ausgewählte Passagen aus Das Leben meiner Mutter eindringlich-sinnlich zu Gehör. Zur stimmungsvollen Rahmung der feierlichen Veranstaltung, die vor ausverkauftem Hause stattfand, trug zudem die Musik des Duos Maxi Pongratz bei. Das Literaturportal stellt die beiden Texte von Markus Ostermair (folgt noch) und Andrea Heuser hier im feierlichen Gedenken an Oskar Maria Graf vor. Der folgende Essay stammt von Andrea Heuser.
*
„Wir rannten entsetzt auf sie zu und klammerten uns an ihren Rock. Dabei merkten wird, dass ihre Beine stark zitterten. […] „Nicht sterben, Mutter!“ Etwas bis dahin Unfaßbares wurde uns auf einmal bewusst …“ (Oskar Maria Graf, Das Leben meiner Mutter.)
Willi, 1933: Dass die Welt, so wie sie war, jederzeit untergehen konnte – diese hinkende, müde Welt der Erwachsenen, die sich von seiner eigenen Art und Weise „da“ zu sein so sehr unterschied – war Willi klar. Dass, mit den Worten des Vaters, nun „eine neue Zeit anbrach“, dass jetzt „Schluss“ sei, wen scherte es? Von ihm aus konnte irgendwer, der Herrgott, oder sonst irgendein Jeckeditz, der sich dafür zuständig fühlte, „Schluss jetzt!“ sagen und sie allesamt zum Teufel jagen. Allen voran den Vater. Der auf eine vor sich hindämmernde, simmernde Weise aggressiv war; der auf dem Weg zum Kirchgang sein vom Krieg zerschossenes Bein so schlurfend nachzog, dass Willi sich schämte. Der Vater war „kaputt“; auch wenn, siebenjährig, sein Blick dem Vater nur bis zur Gürtelhöhe reichte, so viel glaube er dennoch zu erkennen.
Ja, die Erwachsenen konnten ihm gestohlen bleiben. Nur die Oma nicht. Die Oma durfte nicht, konnte nicht sterben. Dass die Oma nicht sterben konnte, war wie ein Naturgesetz. Die Oma war klein, aber – und dieses Wörtchen, diesen seltsamen, anachronistisch-kindlichen Ausruf habe ich noch heute im Ohr – „hui“, sie war stark. So wie ein Baumstamm auch von innen heraus stark ist. Sie trug einen streng gescheitelten Dutt, aus dem nie auch nur ein einziges Härchen herausglitt und sie sprach nicht viel. Willi sah sie fast immer bei irgendeiner Tätigkeit in der Küche stehen.
Die Welt des Vaters war wie ein verendendes Tier, das sich zum Sterben in sich zurückzog; das bissig wurde, wenn man ihm zu nah kam. Die Oma hingegen hatte keine Welt, die man irgendwie hätte beschreiben können und sie war daher auch nicht von den Untergängen dieser Beschreibungen betroffen; sie hatte keine Welt, sie war die Welt.
Willi, Junge der Großstadt, baute keine Baumhäuser. Die Oma aber war so ein Baumversteck. Hinter deren Rücken er in Deckung ging, an deren Rock er sich klammerte, wenn der Vater mit Prügel drohte – doch an ihr, deren Beine nicht zitterten, und ihrem Wort, das aufrecht dastand, das Gesetz war: „Karl-Maria, lass den Jungen!“, kam der Vater nicht vorbei. Ihr Rock raschelte wie Laub, da sie Taft-Unterröcke trug – Schichten, unter denen er sich versteckte, mit deren Säumen er spielte, wenn die Oma dann endlich einmal am Tisch saß und einer Näharbeit nachging; an deren stramme, bestrumpfte Waden er sich lehnte wie an einen Stamm; wo er sicher war und wo er hinter dem Vorhang aus Taft davon träumen konnte auf einem Schiff zur See zu fahren – wohin auch immer, Hauptsache weit fort.
Die Kindheitserinnerungen meines Großvaters an seine eigene Oma, diese Fäden werden, hier literarisiert von mir, in das Jahr 1933 zurück gesponnen; in das Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten, das Jahr, in dem Willis Vater von „neuen Zeiten“ sprach und Willi immer öfter Zuflucht unter dem Tisch und bei der Oma suchte; es war das Jahr, in dem Oskar-Maria Graf ins Exil ging. –
Und während er dort, in New York, Das Leben meiner Mutter schrieb, bereitete sich Wilhelm, Willi genannt, als inzwischen junger Sanitäter auf den Krieg vor. Später, im Lazarett, wo die Sterbenden in allen Sprachen der Welt nach ihren Müttern schrien, erschien ihm, selbst schwer verwundet, im Fieberschlaf seine Oma, deren Gesicht vor seinem inneren Auge wie Teer zerlief, bis es schließlich unkenntlich war. Die Erinnerung an ihr Gesicht ist, wie er mir, der Enkelin, sagte, niemals zurückgekehrt. Er hat sie nie wiedergesehen; sie war bei einem Bombenangriff auf Köln umgekommen. Doch am Tag, als es für ihn in den Krieg ging, hatte sie ihm zum Abschied kurz ihre Hand auf die Schulter gelegt, wozu sie sich weit hatte hochrecken müssen; diese letzte Berührung, ihr Nachdruck blieb ihm, ihr Satz: „Du, Wilhelm, du kehrst zurück.“
„Als es niemand sah, streichelte sie zart, zitternd und wie beschämt über unser dünnes Haar.“ – Ob den siebzehnjährigen Soldaten Wilhelm bei dieser letzten Geste der Oma ebenfalls „Wärme durchrieselt“ hat wie den jungen Oskar Maria Graf bei dieser Berührung seiner Mutter im Roman?
„Du, Wilhelm, du kehrst zurück.“ Hat sie diese Worte wirklich zu ihm gesagt, oder hat er sich diese Erinnerung, fieberträumend, erst erschaffen? Ich weiß es nicht, denn dies gehört zu den vielen unausgesprochenen Fragen, für die es inzwischen zu spät ist und die, weil sie im Leben ungestellt blieben, nun in den Raum des Fiktiven, der Literatur hineinwandern und dort nähren, füllen sich diese Fragen mit Erfindungen; erproben möglichen Antworten und reiben sich an einem „Vielleicht“. Vielleicht – dies ist der Modus, in dem Wenn wir heimkehren, mein Roman über das Leben meiner Großeltern, erzählt wurde. Denn manchmal entgleiten sie mir in der Erinnerung an unser gemeinsames, geteiltes Leben und rücken mir näher durch die Erfindung.
„Man kann nur werden, was man in den Erinnerungen findet.“ – Ebenso tiefsinnig wie abgründig ist dieser Satz von Jean Améry. Ihm nachsinnend frage ich mich, wer ich werde und was ich daher finde, wenn ich Das Leben meiner Mutter von Oskar Maria Graf heute zur Hand nehme.
„Nicht sterben, Mutter!“ –
Es ist dieser Satz, den ich finde. Der, da ich gerade das Sterben meiner eigenen Mutter begleite, geradezu in mich hineinstürzt; er tritt mir nah. Zu nah. Denn dieses Flehen des Kindes, wie es Oskar Maria Graf hier einfängt: „Nicht sterben, Mutter!“, ist ja mehr als eine innige Bitte; es ist ein Befehl – an die Mutter, aber vor allem an das Leben selbst: bleib!
In den frühen, kindlichen Jahren, in denen die eigenen Umrisse des Selbst noch nicht so klar von denen der Mutter getrennt sind, kann dies eine Frage des Überlebens sein. So oder so ist die Todesdrohung, die Hinfälligkeit derjenigen, die uns ja das Leben schenkte, die Urerfahrung von der Sterblichkeit des Lebens selbst, allen Lebens überhaupt. Heute, in der Ordnung der Dinge fortgeschritten, da erwachsen und längst selbst in der Rolle der Mutter, verwandelt sich dieser kindliche Befehl der Selbsterhaltung in den sehnlichen Wunsch, das eigene Kind-, das Tochtersein, noch nicht gänzlich loslassen zu müssen: bleib.
Und kaum habe ich dies niedergeschrieben, merke ich, dass noch ein zweiter Satz aus dem Leben meiner Mutter erinnernd in mir aufsteigt. Er fällt gleich auf der ersten Seite, die der Geburt von Oskar Maria Grafs Mutter, der Resl, gewidmet ist. Von ihrer Mutter, der Heimrathin heißt es da, dass sie diese mühsame Geburt der Resl, zwischen Leben und Tod schwebend, ganz alleine durchstand; niemand, der sie hätte unterstützen können, war anwesend. Und da fällt dieser Satz: „Zwischen Leben und Tod schwebend, betete die Heimrathin in ihrem Schmerz und überstand alles.“
Sie überstand alles.
Dieser Satz bündelt, birgt ein ganzes weibliches Dasein und reißt zugleich einen Abgrund auf zwischen der Heimrathin und der Welt. Er fordert mich heraus. Als eine Art „Satzung“ erscheint er mir; ein Maßstab für das Leben der Frau, der wertschätzender, aber auch härter, elementarer nicht sein könnte. Vor allem aber ist er eine Zumutung. Nein, will ich rufen: sie überstand nicht alles. Sie soll nicht alles überstehen müssen. Sie soll kein Vorbild, kein role model werden für Frauen. Ich lehne mich auf gegen diese Welt, gegen die hier implizierte Botschaft, erzählt und vermittelt im Leben der Heimrathin und auch der Resl: seid fromm und duldsam, seid stark, es ist angelegt in eurem Geschlecht. Ihr müsst es ertragen, weil ihr, anders als die Männer, es ertragen könnt und weil das Leben nur durch euch weitergeht – koste es, was es wolle?
Ist dies etwas, frage ich mich, und ich frage es offen, was tatsächlich nur Frauen können? Alles „überstehen“ und den Unterschied in sich fühlend erfassen zwischen „weitermachen“ und „leben“?
Die deutsche Sprache hält jedenfalls ein ebenso schönes wie trauriges Wort für diesen Daseinszustand parat: mutterseelenallein.
Mutterseelenallein – ich sehe mich während der langen Geburt meines Sohnes, die unter modernen, höchst komfortablen Umständen stattfand: im Krankenhaus und mit Hebamme, den mitfühlenden Kindesvater an meiner Seite. Welcher Mann traut sich denn umgekehrt heute, der Geburt fernzubleiben, sich dem nicht gewachsen zu zeigen? Und dennoch, im berüchtigten Wochenbett, da zog mit dem Muttersein auch die Einsamkeit in meine Seele ein; ich war zwar nicht verlassen; aber ich fühlte mich abgespalten; in all dem, was mich elementar betraf, nicht mitteilbar.
Und ich denke an meine Mutter, die bei meiner Geburt tatsächlich alleine war, weil Männer damals eben bei der Geburt nicht zugelassen waren und die weniger vor Schmerzen schrie als vor Angst, da sie befürchtete, ich könnte behindert sein, weil sie, schon schwanger, die Röteln gehabt hatte. Mit dieser Angst war sie mutterseelenallein.
Ich denke an meine Oma, die mitten im Bombenalarm des Jahres 1944 meinen Vater, ein uneheliches Kind, gezeugt mit dem Feind, dem Deutschen, in einem Bunker zur Welt brachte; fern der Heimat; mutterseelenallein. Sturzgeburt- bis heute hat sie keinerlei Erinnerung daran. Ihre Schwester, meine Großtante erzählte mir sehr viel später; meine Oma habe versucht, den Kopf des Säuglings wieder hineinzudrücken und habe fortwährend geschrien: „Ich kann nichts dafür.“ Sie war aber gar nicht dabei, die Großtante – woher also hat sie diesen Satz? Ist er wahr oder erfunden? Und wenn, von wem? Und schon geschieht es: das Werden von Erinnerung – ich schreibe und transformiere, um die verwickelten Fäden bis in die Gegenwart hinein zu spinnen.
Als meine Oma kurz vor der Jahrtausendwende starb, nahm ich zwei Gegenstände aus ihrer Wohnung mit. Einer davon ist ihr Nähkorb. All die verwickelten, verknoteten, losen Fäden …
In meiner Kindheit sah ich sie nicht nur ständig für uns stricken – sie lebte damals in sehr bescheidenen, fast ärmlichen Verhältnissen und strickte sich ihre und unsere Wintergarderobe. Sie besserte außerdem auch ständig etwas aus. Auf ihrem Zeugnis der Mittleren Reife wurden noch Zensuren für Bügeln und das Ausbessern der Wäsche vermerkt; zusammen mit dem „Rang in der Klasse“. Sie stand an dreizehnter Stelle. Ihr „sehr gut“ in Rechnen und Französisch schien also nicht allzu sehr ins Gewicht zu fallen, im Vergleich zu ihren deutlich schlechteren Noten im Kochen und eben im Ausbessern der Wäsche.
Überhaupt hat ihr dieses Zeugnis nicht viel genutzt- aus behütetem, großbürgerlichen Hause in Luxemburg stammend, wurde sie mit siebzehn von einem attraktiven deutschen Soldaten geschwängert, in den sie sich verliebt hatte und musste, ohne so recht zu begreifen wie ihr geschah, von heut auf morgen ihr Elternhaus und das Land verlassen. „Kollaborateurin“ und „Schandfleck der Familie“ fielen als neue Erfahrungs- und Daseinsbegriffe innerlich für sie, die bis gerade noch ein Mädchen gewesen war, zusammen mit der Erkenntnis dessen, was Frau und Muttersein wohl heißen mochte. Ich habe darüber ebenfalls in Wenn wir heimkehren geschrieben.
Ja, lieber Oskar Maria Graf, auch sie überstand alles. Wieder dieser Satz. Er scheint also zu stimmen. Stimmt er wirklich? Welchen Preis zahlen wir für dieses Überstehen und was geht dabei in uns selbst verloren? Fragen wie Fäden, die sich nicht verwickeln möchten, die darauf warten, geknüpft und verbunden zu werden.
Immer wieder sehe ich die Resl in Das Leben meiner Mutter nach einem harten, langen Arbeitstag, der in den frühesten Morgenstunden begann, dann noch bis in die tiefen Nachstunden hinein unter dem schwindenden Licht der Gaslampe beim Nähen und beim Ausbessern der Wäsche sitzen, während der Vater und die Knechte längst zu Bett gegangen sind. Das, was als „mildes Ausruhen“ galt, ist für mich Ausdruck einer unfassbar brachialen Hingabe; der Ausbeutbarkeit von Personen. Denn wonach bemisst sich eigentlich die Lebensdauer, die Intaktheit der Seele, wenn selbst der winzige Freiraum der Nacht- und Traumstunden, ihr Ruhe- und Rückzugsreservoir noch dergestalt beschnitten und funktionalisiert, für die Arbeit ausgebeutet wird?
Der Nähkorb meiner Großmutter setzt immer wieder Staub an; Bücher oder eines der Stofftiere meiner Kinder lagern darauf. Ich selbst bessere keine Wäsche aus – ich gehe sofort damit zur Schneiderin; die Schamgrenze bildet der abgefallene Hosenknopf, den ich, nach einer längeren Phase der Ignoranz eben jenes bedürftigen Kleiderstücks, dann schließlich annähe – löchrige Socken werden entsorgt. Alles andere wird delegiert, ebenso das Hemdenbügeln.
Modernes Frauenleben. Ich habe Anteil an vielem; Gehorsamkeit und Schicksalsergebenheit gehören allerdings nicht dazu. Aber diese eine Unfassbarkeit bleibt: Wenn ich ausfalle, wenn ich krank bin, erstarrt das familiäre Leben um mich herum in einer Art für mich stets unbegreiflichen Freeze; es droht der Stillstand. Es darf also nicht sein, dass ich länger als ein paar Tage ausfalle, ich muss funktionieren. Das hat sich nicht geändert. Natürlich gibt es auch fürsorgliche Väter; Väter im Haushalt und Väter in Elternzeit. Das ist eine wunderbare gesellschaftliche Errungenschaft. Ich erlebte und erlebe, auch im Leben meiner und aller mir bekannten Mütter, aber dennoch dieses: das Funktionieren der Mutter; ihre Fürsorglichkeit und Hingabe ist, sind die Kinder einmal da, keine Frage mehr der Wahl; es fühlt sich geradezu an wie eine Oskar-Maria-Grafsche-Satzung. Das kann man bejahen und umarmen, das kann man beklagen. Vielleicht auch beides.
Und so gilt mir als Mutter, als Tochter, als Enkelin, ja und auch als Leserin dieser Satz aus dem Leben meiner Mutter am Meisten: „Nicht sterben, Mutter!“
Verwickelte Fäden. Inspiriert von Oskar Maria Grafs „Das Leben meiner Mutter“>
Happy birthday, Oskar Maria!
Anlässlich des 130. Geburtstages von Oskar Maria Graf, einem der bedeutendsten bayerischen Autoren, der 1933 ins Exil nach New York ging, hat die Oskar Maria Graf Gesellschaft jüngst eine Tagung zu den Frauenbildern in seinen Werken durchgeführt. Im Rahmen der damit verbundenen Abendveranstaltung Über Mütter lasen die Autorin Andrea Heuser und der Schriftsteller Markus Ostermair im Literaturhaus München ihre literarischen Texte vor. Texte, die sich im Kontext mit Oskar Maria Grafs berühmtem autobiographischen Roman Das Leben meiner Mutter und dem darin verhandelten Frauen- und Mutterbild lesen lassen.
Die Sprecherin und Performerin Ruth Geiersberger brachte ausgewählte Passagen aus Das Leben meiner Mutter eindringlich-sinnlich zu Gehör. Zur stimmungsvollen Rahmung der feierlichen Veranstaltung, die vor ausverkauftem Hause stattfand, trug zudem die Musik des Duos Maxi Pongratz bei. Das Literaturportal stellt die beiden Texte von Markus Ostermair (folgt noch) und Andrea Heuser hier im feierlichen Gedenken an Oskar Maria Graf vor. Der folgende Essay stammt von Andrea Heuser.
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„Wir rannten entsetzt auf sie zu und klammerten uns an ihren Rock. Dabei merkten wird, dass ihre Beine stark zitterten. […] „Nicht sterben, Mutter!“ Etwas bis dahin Unfaßbares wurde uns auf einmal bewusst …“ (Oskar Maria Graf, Das Leben meiner Mutter.)
Willi, 1933: Dass die Welt, so wie sie war, jederzeit untergehen konnte – diese hinkende, müde Welt der Erwachsenen, die sich von seiner eigenen Art und Weise „da“ zu sein so sehr unterschied – war Willi klar. Dass, mit den Worten des Vaters, nun „eine neue Zeit anbrach“, dass jetzt „Schluss“ sei, wen scherte es? Von ihm aus konnte irgendwer, der Herrgott, oder sonst irgendein Jeckeditz, der sich dafür zuständig fühlte, „Schluss jetzt!“ sagen und sie allesamt zum Teufel jagen. Allen voran den Vater. Der auf eine vor sich hindämmernde, simmernde Weise aggressiv war; der auf dem Weg zum Kirchgang sein vom Krieg zerschossenes Bein so schlurfend nachzog, dass Willi sich schämte. Der Vater war „kaputt“; auch wenn, siebenjährig, sein Blick dem Vater nur bis zur Gürtelhöhe reichte, so viel glaube er dennoch zu erkennen.
Ja, die Erwachsenen konnten ihm gestohlen bleiben. Nur die Oma nicht. Die Oma durfte nicht, konnte nicht sterben. Dass die Oma nicht sterben konnte, war wie ein Naturgesetz. Die Oma war klein, aber – und dieses Wörtchen, diesen seltsamen, anachronistisch-kindlichen Ausruf habe ich noch heute im Ohr – „hui“, sie war stark. So wie ein Baumstamm auch von innen heraus stark ist. Sie trug einen streng gescheitelten Dutt, aus dem nie auch nur ein einziges Härchen herausglitt und sie sprach nicht viel. Willi sah sie fast immer bei irgendeiner Tätigkeit in der Küche stehen.
Die Welt des Vaters war wie ein verendendes Tier, das sich zum Sterben in sich zurückzog; das bissig wurde, wenn man ihm zu nah kam. Die Oma hingegen hatte keine Welt, die man irgendwie hätte beschreiben können und sie war daher auch nicht von den Untergängen dieser Beschreibungen betroffen; sie hatte keine Welt, sie war die Welt.
Willi, Junge der Großstadt, baute keine Baumhäuser. Die Oma aber war so ein Baumversteck. Hinter deren Rücken er in Deckung ging, an deren Rock er sich klammerte, wenn der Vater mit Prügel drohte – doch an ihr, deren Beine nicht zitterten, und ihrem Wort, das aufrecht dastand, das Gesetz war: „Karl-Maria, lass den Jungen!“, kam der Vater nicht vorbei. Ihr Rock raschelte wie Laub, da sie Taft-Unterröcke trug – Schichten, unter denen er sich versteckte, mit deren Säumen er spielte, wenn die Oma dann endlich einmal am Tisch saß und einer Näharbeit nachging; an deren stramme, bestrumpfte Waden er sich lehnte wie an einen Stamm; wo er sicher war und wo er hinter dem Vorhang aus Taft davon träumen konnte auf einem Schiff zur See zu fahren – wohin auch immer, Hauptsache weit fort.
Die Kindheitserinnerungen meines Großvaters an seine eigene Oma, diese Fäden werden, hier literarisiert von mir, in das Jahr 1933 zurück gesponnen; in das Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten, das Jahr, in dem Willis Vater von „neuen Zeiten“ sprach und Willi immer öfter Zuflucht unter dem Tisch und bei der Oma suchte; es war das Jahr, in dem Oskar-Maria Graf ins Exil ging. –
Und während er dort, in New York, Das Leben meiner Mutter schrieb, bereitete sich Wilhelm, Willi genannt, als inzwischen junger Sanitäter auf den Krieg vor. Später, im Lazarett, wo die Sterbenden in allen Sprachen der Welt nach ihren Müttern schrien, erschien ihm, selbst schwer verwundet, im Fieberschlaf seine Oma, deren Gesicht vor seinem inneren Auge wie Teer zerlief, bis es schließlich unkenntlich war. Die Erinnerung an ihr Gesicht ist, wie er mir, der Enkelin, sagte, niemals zurückgekehrt. Er hat sie nie wiedergesehen; sie war bei einem Bombenangriff auf Köln umgekommen. Doch am Tag, als es für ihn in den Krieg ging, hatte sie ihm zum Abschied kurz ihre Hand auf die Schulter gelegt, wozu sie sich weit hatte hochrecken müssen; diese letzte Berührung, ihr Nachdruck blieb ihm, ihr Satz: „Du, Wilhelm, du kehrst zurück.“
„Als es niemand sah, streichelte sie zart, zitternd und wie beschämt über unser dünnes Haar.“ – Ob den siebzehnjährigen Soldaten Wilhelm bei dieser letzten Geste der Oma ebenfalls „Wärme durchrieselt“ hat wie den jungen Oskar Maria Graf bei dieser Berührung seiner Mutter im Roman?
„Du, Wilhelm, du kehrst zurück.“ Hat sie diese Worte wirklich zu ihm gesagt, oder hat er sich diese Erinnerung, fieberträumend, erst erschaffen? Ich weiß es nicht, denn dies gehört zu den vielen unausgesprochenen Fragen, für die es inzwischen zu spät ist und die, weil sie im Leben ungestellt blieben, nun in den Raum des Fiktiven, der Literatur hineinwandern und dort nähren, füllen sich diese Fragen mit Erfindungen; erproben möglichen Antworten und reiben sich an einem „Vielleicht“. Vielleicht – dies ist der Modus, in dem Wenn wir heimkehren, mein Roman über das Leben meiner Großeltern, erzählt wurde. Denn manchmal entgleiten sie mir in der Erinnerung an unser gemeinsames, geteiltes Leben und rücken mir näher durch die Erfindung.
„Man kann nur werden, was man in den Erinnerungen findet.“ – Ebenso tiefsinnig wie abgründig ist dieser Satz von Jean Améry. Ihm nachsinnend frage ich mich, wer ich werde und was ich daher finde, wenn ich Das Leben meiner Mutter von Oskar Maria Graf heute zur Hand nehme.
„Nicht sterben, Mutter!“ –
Es ist dieser Satz, den ich finde. Der, da ich gerade das Sterben meiner eigenen Mutter begleite, geradezu in mich hineinstürzt; er tritt mir nah. Zu nah. Denn dieses Flehen des Kindes, wie es Oskar Maria Graf hier einfängt: „Nicht sterben, Mutter!“, ist ja mehr als eine innige Bitte; es ist ein Befehl – an die Mutter, aber vor allem an das Leben selbst: bleib!
In den frühen, kindlichen Jahren, in denen die eigenen Umrisse des Selbst noch nicht so klar von denen der Mutter getrennt sind, kann dies eine Frage des Überlebens sein. So oder so ist die Todesdrohung, die Hinfälligkeit derjenigen, die uns ja das Leben schenkte, die Urerfahrung von der Sterblichkeit des Lebens selbst, allen Lebens überhaupt. Heute, in der Ordnung der Dinge fortgeschritten, da erwachsen und längst selbst in der Rolle der Mutter, verwandelt sich dieser kindliche Befehl der Selbsterhaltung in den sehnlichen Wunsch, das eigene Kind-, das Tochtersein, noch nicht gänzlich loslassen zu müssen: bleib.
Und kaum habe ich dies niedergeschrieben, merke ich, dass noch ein zweiter Satz aus dem Leben meiner Mutter erinnernd in mir aufsteigt. Er fällt gleich auf der ersten Seite, die der Geburt von Oskar Maria Grafs Mutter, der Resl, gewidmet ist. Von ihrer Mutter, der Heimrathin heißt es da, dass sie diese mühsame Geburt der Resl, zwischen Leben und Tod schwebend, ganz alleine durchstand; niemand, der sie hätte unterstützen können, war anwesend. Und da fällt dieser Satz: „Zwischen Leben und Tod schwebend, betete die Heimrathin in ihrem Schmerz und überstand alles.“
Sie überstand alles.
Dieser Satz bündelt, birgt ein ganzes weibliches Dasein und reißt zugleich einen Abgrund auf zwischen der Heimrathin und der Welt. Er fordert mich heraus. Als eine Art „Satzung“ erscheint er mir; ein Maßstab für das Leben der Frau, der wertschätzender, aber auch härter, elementarer nicht sein könnte. Vor allem aber ist er eine Zumutung. Nein, will ich rufen: sie überstand nicht alles. Sie soll nicht alles überstehen müssen. Sie soll kein Vorbild, kein role model werden für Frauen. Ich lehne mich auf gegen diese Welt, gegen die hier implizierte Botschaft, erzählt und vermittelt im Leben der Heimrathin und auch der Resl: seid fromm und duldsam, seid stark, es ist angelegt in eurem Geschlecht. Ihr müsst es ertragen, weil ihr, anders als die Männer, es ertragen könnt und weil das Leben nur durch euch weitergeht – koste es, was es wolle?
Ist dies etwas, frage ich mich, und ich frage es offen, was tatsächlich nur Frauen können? Alles „überstehen“ und den Unterschied in sich fühlend erfassen zwischen „weitermachen“ und „leben“?
Die deutsche Sprache hält jedenfalls ein ebenso schönes wie trauriges Wort für diesen Daseinszustand parat: mutterseelenallein.
Mutterseelenallein – ich sehe mich während der langen Geburt meines Sohnes, die unter modernen, höchst komfortablen Umständen stattfand: im Krankenhaus und mit Hebamme, den mitfühlenden Kindesvater an meiner Seite. Welcher Mann traut sich denn umgekehrt heute, der Geburt fernzubleiben, sich dem nicht gewachsen zu zeigen? Und dennoch, im berüchtigten Wochenbett, da zog mit dem Muttersein auch die Einsamkeit in meine Seele ein; ich war zwar nicht verlassen; aber ich fühlte mich abgespalten; in all dem, was mich elementar betraf, nicht mitteilbar.
Und ich denke an meine Mutter, die bei meiner Geburt tatsächlich alleine war, weil Männer damals eben bei der Geburt nicht zugelassen waren und die weniger vor Schmerzen schrie als vor Angst, da sie befürchtete, ich könnte behindert sein, weil sie, schon schwanger, die Röteln gehabt hatte. Mit dieser Angst war sie mutterseelenallein.
Ich denke an meine Oma, die mitten im Bombenalarm des Jahres 1944 meinen Vater, ein uneheliches Kind, gezeugt mit dem Feind, dem Deutschen, in einem Bunker zur Welt brachte; fern der Heimat; mutterseelenallein. Sturzgeburt- bis heute hat sie keinerlei Erinnerung daran. Ihre Schwester, meine Großtante erzählte mir sehr viel später; meine Oma habe versucht, den Kopf des Säuglings wieder hineinzudrücken und habe fortwährend geschrien: „Ich kann nichts dafür.“ Sie war aber gar nicht dabei, die Großtante – woher also hat sie diesen Satz? Ist er wahr oder erfunden? Und wenn, von wem? Und schon geschieht es: das Werden von Erinnerung – ich schreibe und transformiere, um die verwickelten Fäden bis in die Gegenwart hinein zu spinnen.
Als meine Oma kurz vor der Jahrtausendwende starb, nahm ich zwei Gegenstände aus ihrer Wohnung mit. Einer davon ist ihr Nähkorb. All die verwickelten, verknoteten, losen Fäden …
In meiner Kindheit sah ich sie nicht nur ständig für uns stricken – sie lebte damals in sehr bescheidenen, fast ärmlichen Verhältnissen und strickte sich ihre und unsere Wintergarderobe. Sie besserte außerdem auch ständig etwas aus. Auf ihrem Zeugnis der Mittleren Reife wurden noch Zensuren für Bügeln und das Ausbessern der Wäsche vermerkt; zusammen mit dem „Rang in der Klasse“. Sie stand an dreizehnter Stelle. Ihr „sehr gut“ in Rechnen und Französisch schien also nicht allzu sehr ins Gewicht zu fallen, im Vergleich zu ihren deutlich schlechteren Noten im Kochen und eben im Ausbessern der Wäsche.
Überhaupt hat ihr dieses Zeugnis nicht viel genutzt- aus behütetem, großbürgerlichen Hause in Luxemburg stammend, wurde sie mit siebzehn von einem attraktiven deutschen Soldaten geschwängert, in den sie sich verliebt hatte und musste, ohne so recht zu begreifen wie ihr geschah, von heut auf morgen ihr Elternhaus und das Land verlassen. „Kollaborateurin“ und „Schandfleck der Familie“ fielen als neue Erfahrungs- und Daseinsbegriffe innerlich für sie, die bis gerade noch ein Mädchen gewesen war, zusammen mit der Erkenntnis dessen, was Frau und Muttersein wohl heißen mochte. Ich habe darüber ebenfalls in Wenn wir heimkehren geschrieben.
Ja, lieber Oskar Maria Graf, auch sie überstand alles. Wieder dieser Satz. Er scheint also zu stimmen. Stimmt er wirklich? Welchen Preis zahlen wir für dieses Überstehen und was geht dabei in uns selbst verloren? Fragen wie Fäden, die sich nicht verwickeln möchten, die darauf warten, geknüpft und verbunden zu werden.
Immer wieder sehe ich die Resl in Das Leben meiner Mutter nach einem harten, langen Arbeitstag, der in den frühesten Morgenstunden begann, dann noch bis in die tiefen Nachstunden hinein unter dem schwindenden Licht der Gaslampe beim Nähen und beim Ausbessern der Wäsche sitzen, während der Vater und die Knechte längst zu Bett gegangen sind. Das, was als „mildes Ausruhen“ galt, ist für mich Ausdruck einer unfassbar brachialen Hingabe; der Ausbeutbarkeit von Personen. Denn wonach bemisst sich eigentlich die Lebensdauer, die Intaktheit der Seele, wenn selbst der winzige Freiraum der Nacht- und Traumstunden, ihr Ruhe- und Rückzugsreservoir noch dergestalt beschnitten und funktionalisiert, für die Arbeit ausgebeutet wird?
Der Nähkorb meiner Großmutter setzt immer wieder Staub an; Bücher oder eines der Stofftiere meiner Kinder lagern darauf. Ich selbst bessere keine Wäsche aus – ich gehe sofort damit zur Schneiderin; die Schamgrenze bildet der abgefallene Hosenknopf, den ich, nach einer längeren Phase der Ignoranz eben jenes bedürftigen Kleiderstücks, dann schließlich annähe – löchrige Socken werden entsorgt. Alles andere wird delegiert, ebenso das Hemdenbügeln.
Modernes Frauenleben. Ich habe Anteil an vielem; Gehorsamkeit und Schicksalsergebenheit gehören allerdings nicht dazu. Aber diese eine Unfassbarkeit bleibt: Wenn ich ausfalle, wenn ich krank bin, erstarrt das familiäre Leben um mich herum in einer Art für mich stets unbegreiflichen Freeze; es droht der Stillstand. Es darf also nicht sein, dass ich länger als ein paar Tage ausfalle, ich muss funktionieren. Das hat sich nicht geändert. Natürlich gibt es auch fürsorgliche Väter; Väter im Haushalt und Väter in Elternzeit. Das ist eine wunderbare gesellschaftliche Errungenschaft. Ich erlebte und erlebe, auch im Leben meiner und aller mir bekannten Mütter, aber dennoch dieses: das Funktionieren der Mutter; ihre Fürsorglichkeit und Hingabe ist, sind die Kinder einmal da, keine Frage mehr der Wahl; es fühlt sich geradezu an wie eine Oskar-Maria-Grafsche-Satzung. Das kann man bejahen und umarmen, das kann man beklagen. Vielleicht auch beides.
Und so gilt mir als Mutter, als Tochter, als Enkelin, ja und auch als Leserin dieser Satz aus dem Leben meiner Mutter am Meisten: „Nicht sterben, Mutter!“