Info

Ein Auszug aus dem Roman „Analoge Maschinen“

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/autorblog/2024/klein/Milstein-Slavik-01_500.jpg#joomlaImage://local-images/lpbblogs/autorblog/2024/klein/Milstein-Slavik-01_500.jpg?width=500&height=360
Alle Bilder © Alexander Milstein

Der Roman Analoge Maschinen von Alexander Milstein erschien 2018 im Kayala Verlag in Kyjiw. Gleichzeitig zeigte die Städtische Galerie von Charkiw die Ausstellung „Analoge Maschinen“. Die hier vorgelegte, von Alexander Milstein selbst aus dem Russischen übersetzte Passage entstammt dem Kapitel „Locomotive Breath“, mit dem so etwas wie ein „Roman im Roman“ beginnt. Gleicht der Text bis dahin endlosen Iterationen auf der Suche nach der verlorenen Zeit in einem Forschungsinstitut, das zusammen mit der UdSSR versunken ist, so beginnt hier eine andere Geschichte. In den drei folgenden Kapiteln verlässt der Nachwuchswissenschaftler Slavik Sosnowski sein Prokrustesbett im Forschungsinstitut. Er schafft es, mit Koffern voller nicht ganz edler Steine, in einen Personenzug zu steigen, der im Zickzackkurs die Grenze zwischen der Ukraine und Russland mehrmals überquert. Schließlich gelangt er an jenen Ort, an dem im Buch ein Thriller beginnt. Dessen Protagonisten sind stets fröhliche infernalische Zollbeamte, die ein Geheimnis miteinander teilen.

*

Slavik rannte zwischen zwei riesigen Koffern, die wie von selbst zu fliegen schienen, auf den Zug zu. Es fiel ihm schwer, mit ihnen Schritt zu halten, und es war ihm nicht klar, wie er sie aufhalten könnte. Als er jedoch auf den fahrenden Zug aufspringen wollte, erwiesen sich die Koffer plötzlich als unsagbar schwer (über solche Gepäckstücke sagen die Träger: „Was haben Sie da, Ziegelsteine oder was?“ Oder sogar: „Was ist das, Chef, transportieren wir da etwa Leichen?“). Slavik stellte die Koffer auf den Boden, oder besser gesagt, er ließ sie aus seinen Händen plumpsen, holte eine Fahrkarte aus seiner Brusttasche und begann sie zu studieren. Er drehte sie hin und her, schaute in das schwache Licht des Vorraums, hielt sich das Ticket vor die Augen und atmete schwer. Er war in den ersten Wagen gesprungen, den er erreicht hatte, und nun musste er seinen eigenen Wagen finden und seinen reservierten Platz. Dabei konnte er nicht lesen, was auf seiner Fahrkarte stand. Er schob die Koffer aus dem Vorraum in den Korridor und sah den Schaffner, der ihm schweigend die Hand hinhielt, die Fahrkarte nahm und sagte:

„Der siebte Wagen wär‘ Ihrer! Das hier ist der zehnte.“

„Und mein Liegeplatz?“, fragte Slavik.

„Du suchst zuerst den Wagen!", keuchte der Schaffner. Seine Augen färbten sich plötzlich rot, er hustete und begann mit der einen Hand auf seine Brust zu schlagen, während er mit der anderen in Richtung Lok deutete.

Die Koffer waren furchtbar schwer, und jeder Waggon schien länger als der vorige. Slavik hatte bereits den Überblick verloren. Er wollte an das Abteil des Schaffners klopfen, um nachzufragen, aber er sah, dass die Tür halb offenstand und es darin eine Toilette gab ... Im nächsten Abteil war es dasselbe … eine Toilette, halt, das ist alles ... und im nächsten Abteil ließ der Gestank im Waggon keinen Zweifel daran, dass es sich nicht um eine optische Täuschung handeln konnte ... Ein Schaffner kam auf ihn zu. Er schaute auf Slaviks Fahrkarte und sagte:

„Das ist hier der siebte Wagen. Mit allen Annehmlichkeiten.“

„Und mein Platz ist genau im siebten“, flüsterte Slavik.

„Verwirren Sie mich nicht“, bat der Schaffner und legte seine Hand auf seine Brust ... aber leise, ohne zu klopfen, und er hustete nicht.

Slavik beschloss, dass es besser wäre, Streit zu vermeiden, und legte seine Hände auf die Griffe der beiden Koffer. Doch seine Skepsis wollte nicht weichen.

„Man hat mir gesagt, es sei der siebte“, sagte er, und da verlor der Schaffner die Geduld.

„Was hat das denn damit zu tun?!“ Er brüllte und fuchtelte mit der Hand. „Lesen Sie, was auf Ihrer Fahrkarte steht. Du bist im elften Wagen! – Luxuswagen“ höhnte er, „was willst du denn da? Siehst du nicht, was für Leute da reisen?!“

Gleich am Anfang des nächsten Waggons stieß Slavik auf neue Hindernisse, die zwar überwindbar schienen, ihm aber den letzten Rest seiner Kraft raubten. Jemandes Beine begannen auf einer der Liegen und endeten auf einer anderen. Slavik blieb stehen, nahm seinen Mut zusammen und sprang mit seinen Koffern wagemutig über sie hinweg.

Dann öffnete er die Tür und durchquerte den rüttelnden, lärmenden Raum zwischen zwei Waggons. Bereits auf der Schwelle empfing ein weiterer Schaffner mit <noch> viel imposanteren Proportionen. Dieser Schaffner versperrte den ganzen Durchgang und Slavik sah das Innere des elften Wagens nie, denn der Schaffner schaute auf die Fahrkarte, gähnte und meinte, Slaviks Wagen sei der dritte. Slavik versuchte erneut die Fahrkarte zu lesen. Der Erfolg blieb derselbe. Verdammt, der Teufel wusste, was da stand.

Vom dritten Waggon wurde er in den fünfzehnten geschickt.

„Was läufst du hier herum wie ein Straßenjunge? Zeig mir deine Fahrkarte“, erhob sich eine bedrohliche Stimme über Slavik.

„Was soll das heißen, was soll das heißen, ich habe eine Fahrkarte! Wie kommen Sie darauf, dass ich ein Schwarzfahrer wäre ...“

„Ich sehe, dass Sie keine Fahrkarte haben.“

Slavik reichte ihm die Fahrkarte und bekam zu hören:

„Warum gehst jetzt in die andere Richtung, wenn du doch den ersten Wagen hast!“

„Seit wann“, stöhnte Slavik, „seit wann gibt es bei euch einen ersten Wagen?“

Aber der Kontrolleur, oder wer auch immer es war, hatte sich bereits entfernt. Slavik stellte seine Koffer ab und klopfte an die Abteiltür. Sie wurde von einem etwa sechsjährigen Jungen halb aufgestoßen. Er trug eine runde Brille, bei der ein Glas mit einem weißen Papier zugeklebt war.

„Das ist, weil ich schiele“, sagte der Junge.

„Kannst du trotzdem lesen?“, fragte Slavik.

„Das kann ich“, sagte der Junge.

„Könntest du mir dann vorlesen, was hier draufsteht? Ich habe meine Brille vergessen, weißt du.“

„Verstehe“, sagte der Junge und schaute auf den Zettel. „Du hättest es mit Brille auch nicht lesen können. Übrigens trägst du gar keine Brille, du Glückspilz.“

Slavik sah den Jungen an und biss sich auf die Lippe.

„Es ist in der Sprache der Schienenstöße geschrieben“, sagte der Junge.

„Wie bitte?“

„Das Rütteln von Rädern auf Schienen. Es ist wie ein Morsealphabet, nur nicht ganz. Niemand hier kennt diese Sprache, und niemand außer mir kann sie dir übersetzen. Aber du wirst mir nicht glauben.“

„Doch“, sagte Slavik, „ich schon.“

„Auf dem Dach“, sagte der Junge, „da steht tatsächlich: Auf dem Dach. Das ist dein Ort. Dein Liegeplatz ist nicht angegeben, also kannst du dir den aussuchen, der dir am besten gefällt”.

„Irgendetwas stimmt nicht, irgendetwas stimmt nicht …“, flüsterte Slavik, „Es ist nur ein Alptraum, ich muss nur aufwachen …“

„Wenn du mir glaubst, wirst du aufwachen“, sagte der Junge.

„Aber warum muss ich auf das Dach klettern? Kann ich nicht einfach so aufwachen?“

Eine Hand legte sich auf die Schulter des Kindes, und die Tür glitt vor ihm zu. Slavik drehte sich zum Fenster, schob die Scheibe herunter und steckte den Kopf durch die Öffnung. Dann machte er das Fenster ganz auf und kletterte aufs Dach. Es war ein Kinderspiel. Leichter jedenfalls, als auf die Gepäckablage zu klettern. Einmal auf dem Dach wollte er nicht mehr aufwachen ... im Gegenteil … er wollte diesen Traum verlängern, oder worum immer es sich handelte … eine Geisterbahn, ein Luftzug im Raum, vorbeirasende Bäume, Holz, das ihn wie aufstiebender Sand umwirbelte … fliegende Äste … Slavik fuhr mit dem Rücken nach vorn, die Äste begannen ihn zu peitschen und schoben ihn immer weiter nach hinten, bis er auf den Bahndamm sprang, sein ganzer Körper zuckte, er öffnete die Augen und erblickte direkt über sich eine Narbe ... Es ist zusammengewachsen, dachte er.

Ja, jetzt – es war so eine Erscheinung mit Narbe, und er nahm sie im ersten Moment wie losgelöst von ihrem Gesicht wahr, als ob da kein Gesicht über ihm wäre und es genauso gut seine eigene Narbe sein könnte – aber getrennt von seinem Körper, es könnte ein leicht gewölbter Spiegel über ihm sein, in dem ... Nun – wie das Lächeln einer Grinsekatze, wenn man so will, obwohl das ein ferner Vergleich ist, auch wenn die Form der Naht mit einer Verzerrung – oder dem Lächeln eines Jokers verglichen werden könnte ... aber nach einem Moment sah er ihr ganzes Gesicht, und da war ein Mund im Gesicht, zusätzlich zu der Narbe, die ihn definitiv nicht anlächelte, nein.

Der erste Moment des Erwachens ist so ein Zustand ... man kann noch hinter die Kulissen gehen, hinter den Vorhang, in den Spalt ... Stimmt, von dieser Frau solltest du dich besser fernhalten ... Er hatte das Frauengesicht ganz genau betrachtet und schloss die Augen wieder.

„Zeig mir deinen Pass“, sagte die Hydra, „... mit dem Kopf, der nicht ganz abgeschlagen wurde“, dachte er, „den hat wohl schon einmal jemand abhacken wollen ...“, brummte er leise vor sich hin. Er richtete sich halb auf, neigte sich dann nach rechts wie in einem Sattel, zog unter dem Kissen ... nein, keine Mauser, sondern nur seinen ukrainischen Reisepass hervor.

Nun forderte die Zollbeamtin ihn natürlich auf, seine beiden Koffer zu öffnen. Er gehorchte. Da weiteten sich ihre Pupillen und ihre Augen begannen zu glitzern, als wäre der Inhalt eines der unzähligen Plastikbeutelchen in Slaviks Koffer in diesem Moment anstelle der Linsen getreten.

„Und was soll das heißen? Was haben Sie hier in solchen Mengen?“

„Das sind die beste Freunde der Mädchen“, sang unser Slavik-Slavik.