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05.07.2024, 09:00 Uhr
Nikolai Vogel
Text & Debatte

„München-Träume“. Von Nikolai Vogel (12)

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Bild von Daniela Bauer auf Pixabay

München verändert sich dauernd – eine Stadt ist lebendig. Und in einer Stadt bleibt sich aber dauernd auch vieles gleich. Manches verschwindet fast unmerklich, anderes ist schlagartig weg. Neue Realitäten entstehen – wir schauen ihnen beim Gebautwerden zu oder entdecken sie im Vorbeigehen ganz unerwartet. Wie also geht der Wandel vonstatten? Wie geht es weiter? Wie öffnet sich Zukunft? In der Fortsetzung seiner Kolumne „München-Träume“ träumt der Autor und Künstler Nikolai Vogel davon, wie die Stadt, in der er seit vielen Jahren lebt, ihn immer wieder verblüfft ...

*

Am Ende der Zukunft

 

Gebäude wachsen rings um mich, Straßen werden gepflastert, wieder aufgerissen, verbreitert, neu asphaltiert. Die Autos schieben sich vorbei, sich verändernde Farben, Scheiben verspiegelt, jetzt schweben manche, auch über mir ist was los. Mehr Bäume und von oben hängende Gärten, es ist wärmer geworden. Künstlicher Regen sprüht herab und mir ins Gesicht.

Um mich herum wuseln kleine Gerätschaften durch die Luft, tragen Päckchen. Die Autos sind eigenartigen Hüllen gewichen, in denen man Platz nehmen kann. Ich versuche Menschen in die Augen zu sehen, aber die Sinne haben sich wohl verändert.

Ich gehe zum Fluss, meine Füße kennen den Weg noch. Da wo die Isar war, ist jetzt ein silbriges Leuchten. Immer noch setzen sich Menschen hierher, aber essen und trinken sehe ich niemanden, kein Bier, keine Boombox, manche legen den Kopf in den Nacken und es wirkt, als bekämen sie unsichtbar Nahrung von oben. Der Himmel sieht diffus aus, als wäre eine Gaze in ihn gespannt. Ich weiß nicht, wie sie befestigt ist oder ob sie fliegt, aber sie ist dort wohl gegen die UV-Strahlung positioniert. Trotzdem tragen alle Enganliegendes.

Ich suche die U-Bahn, aber diese Schächte sind dunkel. Ich ahne, dass auch dort etwas vor sich geht, traue mich aber nach ein paar Schritten nicht weiter hinein – meine Hand hat in etwas Feuchtes, Glitschiges gelangt und mir war, als hätte mich etwas angeatmet.

Die Pinakotheken, denke ich, da komme ich zur Besinnung! Es ist nicht allzu weit, aber die Gebäude dort scheinen nun ein einziges zu sein, eine Art riesige Kuppel. Ich trete ein, Eintritt frei, aber finde dort keine Bilder, ich finde mich getaucht in ein Licht, das mich aufnimmt und davonträgt. Eine Weile lang bin ich glücklich.

Draußen finde ich mich wieder und sehe die Türme der Frauenkirche in der Luft stehen, weit oben, wie eine Fata Morgana. Ansonsten sind all die bekannten Plätze weg, ich finde weder den Königs- noch den Marienplatz wieder. Der Lauf der Geschichte, denke ich, alles verändert sich, nichts bleibt sich gleich – oder ist es irgendwie doch andersherum?

Staub, immer mehr Staub. Gebäude verwittern, von den Fassaden bröckelt es. Fenstergläser werden blind. Ich höre nur noch den Wind pfeifen und verspüre Sehnsucht nach dem Geräusch des Laubes, nach einem Wasser, das plätschert. Längst ist der Asphalt verschwunden, auch von der Kanalisation darunter, von Rohren und Leitungen keine Spur mehr, die Zeit hat alles vertilgt.

Die Sonne steht groß da, sie leuchtet anders. Und das Antlitz des Mondes trägt neue Krater. Weiter dreht sich die Welt, und ich frage mich, wie sieht es aus in anderen Städten? Planet Erde, wer wird berichten von dir, wer weiß deine Geschichten? Wer trägt sie ins All? Mein Blick reicht jetzt, da längst alle Gebäude weggebröselt sind, weiter. Die Kelten, die Römer, die Goten, Bajuwaren, Munih, Münch, Mönch, Munichen, Monachia, Minga, München … Jetzt eine Ebene, wüst und leer. Eine Gestalt nähert sich. Sie setzt sich vor mich. Jetzt kann ich sie fragen, jetzt werde ich alles erfahren, denke ich – 

– und wache auf ...

 

 

Nikolai Vogel (* 1971 in München) lebt in München als Schriftsteller und bildender Künstler. Er studierte Germanistik, Philosophie und Informatik an der LMU und war Finalist beim Open Mike 2004 sowie beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2005. Darüber hinaus war er Stipendiat der Autorenwerkstatt im Literarischen Colloquium Berlin (2005), Preisträger beim Bayerischen Kunstförderpreis (2007), Projektstipendiat für Bildende Kunst der Stadt München (2008) und Gewinner im Wettbewerb „Letʼs perform Kunst im öffentlichen Raum“ des Kulturreferats München (2012). Sein 2520 Verse umfassender Gedichtband fragmente zu einem langgedicht erschien 2019 im gutleut Verlag. 2020 las er in quarantäneähnlicher Zeit 40 Tage lang seinen noch unpublizierten Roman Angst, Saurier ein und veröffentlichte die Lesungsvideos täglich auf YouTube. 2021 erschien sein Gedichtband Anthropoem, 2023 dann Eine Sprache, die sagt, dass sie außer mir ist (beide Black Ink). Ein Detail aus seinem Text Große ungeordnete Aufzählung wurde 2022 als Edition auf zehn Porzellangefäßen innerhalb von Uli Aigners One Million-Projekt erstveröffentlicht.