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10.07.2024, 14:21 Uhr
Semier Insayif
Text & Debatte
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(c) Michael Memminger

Rezension zu Karin Fellners Lyrikband „Polle und Fu“

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(c) parasitenpresse Köln

Die Münchner Lyrikerin Karin Fellner legt in diesem Jahr ihren neuen Gedichtband Polle und Fu, erschienen bei parasitenpresse Köln, vor, in dem sie sich einmal mehr als eine sensible, an der poetischen Weltwahrnehmung und dem lyrischen Formenspiel geschulte Dichterin erweist. Der österreichische Lyriker Semier Insayif hat diesen Band für das Literaturportal gelesen.  

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Wer ist nun Polle und wer ist gar Fu?

Wir gleiten, hoppeln, springen, fliegen, laufen, kriechen, schwimmen durch und in Sprache, in Form und Gestalt von Gedichten und erleben eine phantasievolle, ja, eine phantastische Gefährtenschaft und Reise mit den beiden Haupt- und Titel-Figuren „Polle und Fu“.  

Schon im ersten Gedicht wird im Titel die unbeantwortbare  oder anders gesagt, die nur vielfach beantwortbare Frage gestellt: „WER IST POLLE UND FU?“.  Als mögliche fragmentarische Antwortangebote erhalten wir, wenn wir gleich im ersten Gedicht weiterlesen folgende Angaben: „Fragst du die Brotfische, sagen sie: stoff-/wechselnde Namen, die sich mal so, mal so/aneinander klammern, stoßen, freuen.“

Weitere mögliche Hinweise sind z.B. : „Polle kommt vor, Fu geht nach.“ oder „In ihrer thermischen Form/wenden sie sich zu/um,/wandeln einander in/an.“ In welchem Aggregatzustand sich dieses poetische Paar befindet, ist kaum festzumachen, kaum festzustellen, nicht mal am Festgeschriebenen ablesbar, weil es vielfach an unterschiedlichsten Stellen variiert. Folgerichtig könnte man meinen, dass die Identität der beiden, ihre Materialität und Befindlichkeit, sich fortwährend und ununterbrochen ändert oder wechselt.


Poetische Transformationsästhetik

Und dies führt uns zum Anfang des Gedichtbandes Polle und Fu  (parasitenpresse, Köln Leipzig 2024) von Karin Fellner. Denn noch vor dem ersten Gedicht, ist ein Zitat zu lesen. Und das Zentrum dieses Zitates ist darin das erste Wort:  „WECHSELN, verb. eins an die stelle des andern treten lassen, tauschen, ändern, sich verändern, im wechsel stehen usw. …  Grimms Wörterbuch“. Dieser Hinweis scheint mir wesentlich und bedeutsam für die Grundidee, ja vielleicht für die gesamte Konzeption des Buches. Sowohl was Inhalte, Motive, Figuren usw. anlangt, als auch sprachlich poetische Verfahrensweisen und Formales. Ja, man könnte sogar sagen, dass die grundsätzliche Ästhetik des Buches selbst in ihrem Kern davon durchdrungen oder getragen ist.  

Polle und Fu, Leserinnen und Leser, sprachlich prozessuale Entitäten


Dies führt zu einer beinahe anarchisch konstruktivistischen Dichtung, die schwer zu fassen ist und beim Lesen dadurch möglicherweise eine freudig ver/rückte Fassungslosigkeit auszulösen im Stande ist. Kaum ertastet oder greift man sich als aufmerksamer Leser, als wachsame Leserin mit den Augen, mit den Händen, mit den Windungen des Gehirns einen Begriff, eine Verszeile, eine Buchseite, ist man schon im Begriff selbigen und alles Weitere sonst wieder zu verlieren. Alles verwandelt sich beim Zugreifen und Öffnen der Augen in ein Nächstes, in ein Neues, in ein Anderes. Und dies scheint gleichzeitig das eigentliche Vergnügen zu sein.

Polle und Fu, Leserinnen und Leser und überhaupt die Spezies Mensch, wir alle also, sind im Wort, sind in der Sprache und werden erst durch und in Sprache zu denjenigen, die wir zu sein glauben.  Und unsere gesamte Existenz ist ein im ständigen Werden befindliches Sein. Ob wir Menschen Sprache verwenden, übrigens unter Umständen, die nicht restlos zu klären sind, oder wir von Sprache verwendet, hergestellt und gemacht werden oder all die Gegebenheiten als eine Zirkularität der Gleichzeitigkeit zu beschreiben sind, wurde  und wird weiter diskutiert werden. So manifestiert sich der Umstand, dass Sprache ein konstitutives Phänomen ist in diesem Gedichtband poetisch und bezeugt unsere Existenz als eine zumindest in wesentlichen und tiefgreifenden Teilen zutiefst sprachliche. 


Die sinnliche Erfahrbarkeit närrischer Ernsthaftigkeit


Diese Haltung und dieses Verfahren spielt also mit dichterischen Mitteln, um Sprache in all ihrer klärenden Unklarheit, in ihrer polyvalenten poetischen Kraft auf eine närrische Spitze zu treiben, die einerseits tierisch teuflisches Vergnügen bereiten kann oder einen überfordernd abwirft, weil man an ihr abzugleiten oder gar abzustürzen droht. Aber gleichzeitig ist auch erlebbar wie man in ungeahnte Höhen gerät, wie nur Sprache, Vorstellungskraft und  Phantasie in der Lage sind, uns zu befördern. „Es dünkte uns, etwas von hüben, von drüben höbe das Meer/ auf, dass es uns blühte, uns schleifte ins Ungeprüfte, so schiens.“

Es ist hier nicht nur ein Leichtes ein Meer aufzuheben, natürlich in doppelter Bedeutung des Wortes „aufheben“, sondern all das auch auf einer vielfältigen lautlichen Ebene, mit Reimen, Assonanzen und Rhythmisierungen, spürbar zu machen. Diese sinnliche Erfahrbarkeit durch musikalisch poetische Setzung gibt uns die Chance, Dichtung und Sprache ganzheitlich-körperlich, als ein sich ereignendes Phänomen zu erfahren. „ohne Verärgerung brach/schließlich alles auf zum/Fest des Fluiden.“ Man beachte die Wörter „aufbrechen“ im Sinne von sich auf den Weg machen und „aufbrechen“  im Sinne von brechen und damit lösen von verfestigten Dingen und Strukturen. Festes kann man brechen, um vielleicht fluid zu werden, aber natürlich ist das Fest des Fluiden Flüssigen ein Fest auf dem gefeiert wird und alles Feste bricht.

Diese Anhäufung ständiger Wortsinn-Hinterfragung oder Fruchtbarmachung der sprachlichen Vieldeutigkeit führt zu einer Art Möglichkeitsexplosion oder im konstruktivistischen Sinne zu einer Möglichkeitsinfektion, die lustvoll bis zur Unerträglichkeit ansteckend zerstäubt. Dies alles kann aber nur durch eine sehr präzise Setzung geschehen. Die poetische Präzision ist entgegen der mathematischen keine schließende im Sinne von schlussfolgernd, sondern eine öffnende im Sinne von vermehrend. Wir werden also sprachliche Grenzgänger, kein Boden trägt mehr oder wir geraten in die Luft oder in Gewässer, die nur dann schwebend tragen, wenn wir sprach-skeptisches Vertrauen generieren und das möglicherweise über die Dichtung von Karin Fellners Polle und Fu

Sprachphilosophie und Spiel

Eine existentielle Entgrenzungspoesie könnte man das nennen entlang einer sprachmaterialistischen Wortwörtlichkeit. Diese Bewusstheit für das Material Sprache und das immanent sprachreflexive Moment gepaart mit einem hohen spielerischen Anteil, lässt an die Wurzeln der konkreten Poesie der Wiener Gruppe denken und erinnern. Allerdings in einem anderen eigenständigen Duktus und Ton. Dass dies keine lyrischen Flausen sind, sondern existentielle Perspektiven, die wir auch im Alltag ständig erleben, erleiden oder uns daran erfreuen können, oft ohne es zu bemerken, könnte eine poetische Erkenntnis sein, die man in den Gedichten wiederfinden kann. Allerdings Vorsicht mit zu frühen Erkenntnissicherheiten. Es ist stets zu früh, zu glauben verstanden zu haben, heißt es in beraterischen und therapeutischen Prozessen. Dies gilt für Poesie schon lange und für diese Art der Dichtung speziell. 


Daten zu Struktur und Oberfläche

Der Gedichtband beinhaltet neununddreißig Gedichte in sechs Kapiteln, Abschnitten oder Zyklen. Dort wird  von verschiedenartigen Lebewesen berichtet, von Topographien, Strukturen und Ordnungsprinzipien: „Ein Riemen ist ein halber Lachs, / ein Remel aber ein Bund Flachs.“ Ein Fisch will zu den Mu-Tieren gehen, „Maschinen dröhnen. Drohnen marschieren“.
Dabei seien noch die künstlerischen Arbeiten von Simone Cayé erwähnt. Diese scheinbar mit Tusche gezeichneten Linien, Strukturen und „amorphen“ Gebilde von Punkten, Flecken und meist rund geometrischen Figuren, verstärken die phantastisch imaginierten Umgebungen der Gedichte durch bewegliche, in steter Veränderung befindliche Körper. Sie scheinen zu fliegen, zu verrinnen, wie Schlieren zu transformieren und somit auch unterschiedlichste Formen und Aggregatzustände einzunehmen. Sowohl am Cover als auch in den fünf Zwischenräumen der sechs Kapitel sind sie ein geradezu ideales Habitat für Polle und Fu und für Karin Fellners Dichtung.


Zur Lesbarkeit von Polle und Fu und von Dichtung im Allgemeinen


Wie soll man diese Gedichte lesen, könnte man sich also fragen.

Natürlich kann einem das niemand sagen oder gar vorschreiben, das muss oder soll man mit Freude schon selbst herausfinden. Ganz subjektiv kann ich von  Leseeindrücken erzählen, die ganz meiner grundsätzlichen Annäherung an Poesie entspricht. Abwechselnd laut und leise lesen. Mal wie Musik, überhaupt nicht mit dem Sinn, mit dem Verstehen beschäftigt sein, sondern ausschließlich mit den Sinnen, dem akustischen und rhythmisch melodischen Genuss. Dann wieder den Wortbedeutungen akribisch auf der Spur sein, um bei einem nächsten Lesen alle Komponenten zusammenbringen.

In jedem Fall möglichst vielen Schichten begegnen, den ernsthaften, humorvollen, tragischen, kritischen, spielerischen etc. Also jedes Gedicht öfter lesen, mehrmals hintereinander und an unterschiedlichen Tagen und Nächten. Auch in den verschiedensten Gemütszuständen, vielleicht auch Aggregatzuständen des eigenen Seins, um somit sich selbst und den Gedichten verschiedenartige Begegnungsvariationen zu ermöglichen.

Und vielleicht könnte es dabei passieren, dass sie ganz plötzlich, ohne Vorwarnung,  in ihrem Leben, auf der Straße auf einmal Polle oder Fu zu erkennen glauben. Oder gar am Morgen oder Abend einen Augenblick lang in den Spiegel schauen und die beiden ihnen  für einen kurzen Moment fröhlich entgegenblinzeln. Nach so einem Erleben seien Sie sich dessen gewahr, dass Sie nah an philosophischen Erkenntnissen sind, Heraklit nicht weit ist und sich die poetische Kraft von Polle und Fu lächelnd in ihr Leben geschmuggelt hat.

Heißt es doch an einer Stelle: „Es gibt kein Einssein mit sich, sagtest du, denn/alles rhei rhei rhei, den Rhein hinunter flossen wir und warn ein stockbesoffenes Boot.“  Der Genuss dieser Dichtung führt zur einfachen und unmöglichen Aufforderung fürs Leben oder wenigstens fürs Lesen: „Deine Aufgabe ist es,/dich selbst aufzugeben/“.