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28.06.2024, 09:00 Uhr
Nikolai Vogel
Text & Debatte

„München-Träume“. Von Nikolai Vogel (11)

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Links: die Sant’Andrea della Valle in Rom, Mutterkirche des Theatinerordens. Rechts: die Theatinerkirche in München.

München verändert sich dauernd – eine Stadt ist lebendig. Und in einer Stadt bleibt sich aber dauernd auch vieles gleich. Manches verschwindet fast unmerklich, anderes ist schlagartig weg. Neue Realitäten entstehen – wir schauen ihnen beim Gebautwerden zu oder entdecken sie im Vorbeigehen ganz unerwartet. Wie also geht der Wandel vonstatten? Wie geht es weiter? Wie öffnet sich Zukunft? In der Fortsetzung seiner Kolumne „München-Träume“ träumt der Autor und Künstler Nikolai Vogel davon, wie die Stadt, in der er seit vielen Jahren lebt, ihn immer wieder verblüfft ...

*

Die Portale der Stadt

 

Ich stehe vor dem Neuen Rathaus am Rathausturm. Wo ist das Glockenspiel, frage ich mich und drehe mich um. Der Platz ist anders? Wo bin ich hier? Das kenne ich doch? Brüssel, das ist Brüssel, der Grote Markt oder Grand-Place! Ich schaue mich um und bewundere die alten Zunfthäuser. Leider beginnt es zu regnen, also beschließe ich, ein andermal wiederzukommen. Ich blicke wieder zum Rathausturm und konzentriere mich auf München. Es hat geklappt, merke ich, denn es regnet nicht mehr und über mir erspähe ich das Glockenspiel.

Ich bin aufgeregt und freue mich über meine tolle Entdeckung. Ich nehme den Weg vom Marienplatz über die Dienerstraße Richtung Odeonsplatz. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen von meinem Geheimnis. Jetzt setzt auch hier der Regen ein, aber er hält mich nicht ab, zu groß ist meine Neugier. Angekommen stolpere ich hoch zur Feldherrnhalle und meine Vermutung bestätigt sich, als ich mich umdrehe. Ich sehe Michelangelos riesenhaften David, ich bin in Florenz! Glück gehabt, denn das Wetter ist besser, ich hänge meine Jacke über die Schulter und schreite munter aus. Was für ein Spaziergang, denke ich, leiste mir ein teures Schleckeis und nehme den Weg über den Ponte Vecchio zum Palazzo Pitti. Dort muss ich mich eine Weile konzentrieren, beim ersten Versuch klappt es nicht gleich. Dann aber schaue ich die ungeschlachten, großen Mauersteine an, als schaute ich hindurch, drehe mich um – und bin wie erwartet am Max-Joseph-Platz vor der Münchner Residenz. Toll ist das, diese Portale der Stadt zu durchschreiten, und kaum ein Mensch kennt sie!

Ich betrete die Theatinerkirche und lasse mir Zeit, stecke auch eine Kerze an, denke an meine Liebsten. Nach diesem Moment des Innehaltens trete ich hinaus, trete aus der Basilika Sant’Andrea della Valle in Rom und stehe auf der gleichnamigen Piazza. Zeit für einen Kaffee, denke ich und spaziere geradewegs los. Es wird ein Caffè Shakerato, da es wirklich schön warm und sonnig ist. Nach dieser Erfrischung finde ich mich einige Minuten später die Via dei Condoti entlangschreitend. Leider kenne ich hier keine Abkürzung zur Maximilianstraße, was sehr praktisch wäre, aber gut, muss ich halt noch etwas weiter, dafür kann ich mal wieder einen Blick auf das Kolosseum werfen. Und gleich dort gibt es doch ein Portal zurück! Beschwingt bummle ich durch die belebte Stadt und finde tatsächlich auf Anhieb den richtigen Weg. Da haben wir ihn ja, den Konstantinsbogen. Er ist von einem Gitter umgeben, durchschreiten kann ich ihn also nicht, aber einfach daran vorbei und ihn dann umrunden müsste gehen? Ich versuche es, konzentriere mich und schaue dabei immer nur ein gutes Stück vor meine Schritte – und habe jetzt das Siegestor in meinem Rücken die Ludwigstraße vor mir, laufe wieder in Richtung Münchner Innenstadt. Der Regen hat zum Glück unterdessen nachgelassen.

Ja, die Alten wussten schon, warum sie Gebäude kopieren, und haben sie so kopiert, dass sie nicht nur die gleichen, sondern irgendwie doch auch die selben sind, aber dass diese dann Verbindungstore sind, haben wir irgendwann vergessen, so wie auch diesen Unterschied. Oder vielleicht auch nicht, überlege ich ein Stück weiter, als ich am Hofbräuhaus vorbeikomme, aus dem gerade eine große Gruppe Amerikaner kommt. Vielleicht funktioniert es ja auch anders herum, mit Nachbauten von Münchner Originalen? Soll ich sie ansprechen, frage ich mich. Aber eigentlich weiß ich es schon. Sie sind aus Las Vegas, hatten dort ihr erstes Bier und fanden sich dann hier wieder. Also auf nach Las Vegas, sage ich mir, und erst mal ins Hofbräuhaus dort. Beschwingt trete ich ein, will mich gar nicht erst setzen, sondern drehe nur eine kleine Runde und verlasse es dann wieder und stelle enttäuscht fest, ich stehe immer noch am Platzl und ein Platzregen prasselt. Wohin denn nun, frage ich mich – 

– und wache auf ...

 

 

Nikolai Vogel (* 1971 in München) lebt in München als Schriftsteller und bildender Künstler. Er studierte Germanistik, Philosophie und Informatik an der LMU und war Finalist beim Open Mike 2004 sowie beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2005. Darüber hinaus war er Stipendiat der Autorenwerkstatt im Literarischen Colloquium Berlin (2005), Preisträger beim Bayerischen Kunstförderpreis (2007), Projektstipendiat für Bildende Kunst der Stadt München (2008) und Gewinner im Wettbewerb „Letʼs perform Kunst im öffentlichen Raum“ des Kulturreferats München (2012). Sein 2520 Verse umfassender Gedichtband fragmente zu einem langgedicht erschien 2019 im gutleut Verlag. 2020 las er in quarantäneähnlicher Zeit 40 Tage lang seinen noch unpublizierten Roman Angst, Saurier ein und veröffentlichte die Lesungsvideos täglich auf YouTube. 2021 erschien sein Gedichtband Anthropoem, 2023 dann Eine Sprache, die sagt, dass sie außer mir ist (beide Black Ink). Ein Detail aus seinem Text Große ungeordnete Aufzählung wurde 2022 als Edition auf zehn Porzellangefäßen innerhalb von Uli Aigners One Million-Projekt erstveröffentlicht.