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Zum 140. Geburtstag von Zenzl Mühsam

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Ehrengrab Zenzl Mühsams auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde (2007) © Mutter Erde/Wikipedia

Vor 140 Jahren, am 28. Juli 1884, kam Kreszentia (Zenzl) Elfinger im kleinen Dorf Haslach in der Hallertau zur Welt. Mit 29 Jahren lernte sie in München den Schriftsteller Erich Mühsam kennen, in dessen Leben sie zum festen Anker wurde. Nach seiner Ermordung im KZ Oranienburg gelang es ihr, den Großteil seines umfangreiches Werks zu retten.

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Zenzl Elfinger ist noch keine acht Jahre alt, als ein schwerer Schicksalsschlag ihre Familie trifft: Bei der Geburt des achten Kindes sterben Mutter und Neugeborenes kurz nacheinander. Der Vater heiratet erneut, zwei weitere Kinder kommen zur Welt. Doch Ende 1895 wird das elterliche Gastwirtsanwesen in Haslach versteigert. Die Familie zieht nach München ins Arbeiterviertel Schwanthalerhöhe, wo Augustin Elfinger fortan als Tagelöhner arbeitet.

Mit siebzehn Jahren wird Zenzl schwanger, am 16. Oktober 1902 bringt sie einen Sohn zur Welt, der den Namen Siegfried erhält. Da der leibliche Vater Josef Neumayer noch nicht volljährig ist, wird Zenzls Vater als Vormund eingesetzt. Als 1903, drei Jahre nach dem Tod der Stiefmutter, auch Augustin Elfinger stirbt, muss Zenzl ihren Sohn den Eltern des Kindsvaters überlassen, da sie Siegfried mit ihrem geringen Verdienst als Näherin nicht ernähren kann. Eine Heirat mit Josef Neumayer kommt für sie dennoch nicht infrage.

1905 begegnet Zenzl dem Bildhauer und Zeichner Ludwig Engler. Sie lebt mehrere Jahre ohne Trauschein mit ihm zusammen. Währenddessen tritt ein neuer Mann in ihr Leben: Am 8. Oktober 1913 lernt sie im Café Glasl in der Amalienstraße den bekannten Anarchisten und Schriftsteller Erich Mühsam kennen. Was für ihn anfangs nur eine flüchtige Liebelei war, entwickelt sich zur festen Beziehung. Am 15. September 1915 heiraten Zenzl und Erich. Den inzwischen dreizehnjährigen Siegfried nehmen sie zu sich.

Revolution, Verfolgung und Festungshaft

Im November 1918 nehmen beide aktiv an den Revolutionsereignissen teil, durch die Bayern zum Freistaat wird. Am 7. April 1919 wird unter Mühsams tatkräftiger Beteiligung die „Räterepublik Baiern“ ausgerufen. Sie endet sechs Tage später durch einen Putschversuch der Republikanischen Schutztruppe. Dabei kommen dreizehn Räterepublikaner in Haft, unter ihnen Erich Mühsam. Eine zweite Räteregierung, die noch am selben Tag unter Führung der Kommunisten proklamiert wird, schlagen Reichswehr- und Freikorpstruppen Anfang Mai mit brutaler Waffengewalt nieder.

In diesen unruhigen Tagen gerät Zenzl in höchste Gefahr und muss untertauchen. Als sie sich aus ihrem Versteck herauswagt, wird sie verhaftet. Nach einem quälend langen Verhör lässt man sie zwei Tage später frei. In der Zwischenzeit haben Konterrevolutionäre ihre Wohnung verwüstet und alle Kleider und Wäsche, Silberwaren und sonstigen Erbstücke geraubt.

Zenzl flieht mit ihrem Sohn in ihr Heimatdorf Haslach, doch niemand, nicht einmal ihr eigener Onkel, will sie bei sich aufnehmen. Verzweifelt schreibt sie an den dänischen Schriftsteller Martin Andersen Nexö:

Ich sehne mich nach Menschen, die mich lieben, ich kann nirgendwo hier im Lande in Frieden leben, wo ich auch hingehen werde, wird man erschreckte Augen machen, wenn man hört, ich bin die Gattin Erich Mühsams.

Am 12. Juli 1919 wird Mühsam vom Standgericht München zu fünfzehn Jahren Festungshaft verurteilt. In der Folgezeit erweist sich Zenzl als seine kompetente Stellvertreterin: Sie verhandelt mit Verlegern, nimmt Termine mit Rechtsanwälten wahr, sammelt Spenden, setzt sich für politische Gefangene und notleidende Menschen ein. Im Sommer 1924 erfährt Erich staunend, dass sie sogar mit Eugenio Pacelli, dem päpstlichen Nuntius, gesprochen hat, der zur Zeit der Revolution in München residierte.

Zenzl fragte ihn, ob er unter den ‚Greueln‘ der Räterepublik persönlich zu leiden gehabt habe. Durchaus nicht! erklärte der Nuntius […]. Zenzl hat aber noch mehr getan. Es haben in der letzten Zeit mehrfach Veranstaltungen in Berlin stattgefunden, zumeist Mühsam-Matinees, da ist die prächtige Frau sogar als Volksrednerin aufgetreten. Vergangenen Sonntag hat sie über 1 Stunde lang öffentlich gesprochen.

Im Herbst 1924 befindet sich Mühsam noch immer in der Festungshaftanstalt Niederschönenfeld. Die Hoffnung auf vorzeitige Freilassung ist bisher nicht in Erfüllung gegangen. Um seine Frau zu trösten, verfasst Erich zum neunten Hochzeitstag für sie ein Bilderbuch mit liebevoll illustrierten Gedichten:

Wer nie vor einem Herzen gekniet
und hat ihm ein Blümlein dargebracht,
der ist so arm, dass die Sonne ihn flieht;
der kennt nicht der Liebe himmlische Macht.

Die Mühsams in Berlin

Am 20. Dezember 1924 kommt Erich Mühsam durch eine Amnestie frei und zieht nach Berlin, wo Zenzl schon seit einem Jahr lebt. In den nächsten Monaten ist sie stets an seiner Seite, während er landauf, landab reist, um für politische Gefangene einzutreten.

Obwohl die Mühsams gleiche Werte und Ziele teilen, hat ihre Beziehung Risse bekommen. Denn Zenzls Auffassung von ehelicher Treue stand schon immer in deutlichem Gegensatz zu Erichs anarchistischem Bekenntnis zur freien Liebe. Es überrascht daher wenig, dass Mühsam in seinem Notizbuch immer wieder heftige Konflikte erwähnt: „Schreckliche nächtliche Szene.“ – „Neue qualvolle Auseinandersetzungen mit Zenzl.“ – „Ehekrise.“ Dabei ist sich der notorische Schürzenjäger bewusst, wie sehr Zenzl unter seinen Eskapaden leidet. Zum fünfzehnten Hochzeitstag schreibt er ihr reumütig:

Mein ganzes Herz ist voll von Dir, und ich wünschte nur eines, dass Du das immer spürtest, obwohl mein Herz so anders zu sein scheint als das anderer Menschen. Ich liebe Dich mit Deiner ganzen Art zu sein, und wenn ich weiß, dass die 15 Jahre, die jetzt hinter uns liegen, für mich ein einziger unbezahlbarer Gewinn waren, so ist mein Glück darum nur deswegen getrübt, weil ich es Dir so oft nicht zum Gewinn [zu] machen wusste.

Mit Sorge verfolgen die Mühsams das Erstarken des Nationalsozialismus. Während Erich Mühsam versucht, die Opposition auf eine Einheitsfront einzuschwören, ruft Joseph Goebbels offen zu seiner Ermordung auf. Die Drohungen anonymer Anrufer und Briefeschreiber häufen sich. Als sich Mühsam endlich zur Flucht entschließen kann, ist es zu spät. Am Morgen des 28. Februar 1933 wird er verhaftet. Sein Leidensweg führt über das Zellengefängnis Lehrter Straße, das KZ Sonnenburg, das Gefängnis Plötzensee und das KZ Brandenburg schließlich ins KZ Oranienburg. Er wird unzählige Male entsetzlich gefoltert, bevor man ihn in der Nacht zum 10. Juli 1934 erhängt und die Tat als Selbstmord ausgibt. Der folgende Tag, an dem Zenzl Mühsam ins Polizeirevier gerufen wird, brennt sich für immer in ihr Gedächtnis ein:

Auf Zimmer 29 sagte ein Kommissar zu mir: ‚Frau Mühsam, ich habe die Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Mann gestorben ist. Sie können nach Oranienburg fahren und die Leiche holen.‘ Ich schrie den Kommissar an: ‚Mein Mann ist ermordet worden!‘

Zenzls Flucht in die Gefangenschaft

Am Tag von Erichs Beerdigung muss Zenzl fliehen. Da sie durch ihre Besuche im KZ Augenzeugin der Torturen ihres Mannes wurde, schwebt sie in größter Gefahr, verhaftet zu werden. Nach ihrer Ankunft in Prag verfasst sie die Broschüre „Der Leidensweg Erich Mühsams“, in der sie detailliert über die KZ-Haft und Ermordung ihres Mannes berichtet. Doch ihre Hauptaufgabe sieht sie darin, seine aus Deutschland herausgeretteten Schriften zu publizieren, so etwa

die Tagebücher, die systematisch geführt sind von 1911/12 bis 1925. Sie enthalten außerordentlich interessante Betrachtungen Erichs über die jeweiligen Zustände, im Kriege, in der Revolution, 1919, und die ganze Haftzeit Niederschönenfeld. […] Außerdem ist da noch ein ungedrucktes Kriegsbuch: Abrechnung! Und der Roman: ‚Ein Mann des Volkes‘. Unvollendet. Satire. Man kann es als Novelle herausgeben, da der erste Abschnitt in sich abgeschlossen ist.

Die Verlagssuche erweist sich indessen als aussichtslos. Deshalb nimmt Zenzl 1935 eine Einladung nach Moskau an, wo ihr die Veröffentlichung der Werke ihres Mannes in Aussicht gestellt wird. Doch kaum befindet sich Mühsams Nachlass in den Händen der sowjetischen Behörden, gerät Zenzl in den Strudel der stalinistischen Säuberungen und wird unter dem Vorwurf, eine „trotzkistische Spionin“ zu sein, verhaftet. Dank internationaler Proteste kommt sie kurzzeitig frei. Dann wird sie erneut festgenommen, im Gefängnis unter Folter verhört, zu achtjähriger Lagerhaft verurteilt und nach einer dritten Verhaftung schließlich in die Verbannung nach Sibirien geschickt.

Erst 1955 darf Zenzl Mühsam nach Ostberlin ausreisen. Obwohl krank und schwer gezeichnet, gönnt sie sich keine Erholung. Stattdessen bittet sie bei einer Überprüfung in der Abteilung für Kaderfragen des Zentralkomitees, dafür zu sorgen, dass Mühsams schriftlicher Nachlass, der im Maxim-Gorki-Institut in Moskau aufbewahrt wird, in Kopien nach Ostberlin übersandt wird. Bald trifft umfangreiches Mikrofilmmaterial ein, das jedoch nicht an die unbeugsame Witwe, sondern an die Akademie der Künste in Ostberlin weitergereicht wird. Dabei stellt sich heraus, dass die Mikrofilme Lücken aufweisen: Es fehlen die Tagebucheinträge von Ende Oktober 1916 bis Mitte April 1919, in denen Mühsam die revolutionären Vorgänge in Deutschland ausführlich dokumentiert hat. Zu ihrer Enttäuschung gelingt es Zenzl auch nicht, die Veröffentlichung seines Gesamtwerks durchzusetzen. Erst 1958 publiziert der Verlag „Volk und Welt“ eine Auswahl seiner Gedichte; eine erweiterte Ausgabe erscheint 1961.

Im Herbst 1961 erkrankt Zenzl an Lungenkrebs. Monate später willigt sie überraschend ein, ihre Rechte am Werk ihres Mannes an die Akademie der Künste abzutreten – zu einem Zeitpunkt, in dem sie vermutlich nicht mehr testierfähig ist. Am 10. März 1962, eine Woche nach der Testamentsänderung, stirbt Zenzl Mühsam im Alter von 77 Jahren. Sie wird auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde in einem Ehrengrab bestattet. Nach der deutschen Wiedervereinigung überführt man ihre Urne auf den Waldfriedhof Dahlem in das Ehrengrab ihres Mannes. Auf dem Grabstein ist ihr Geburtstag irrtümlicherweise mit dem 27. statt 28. Juli angegeben. In der Binzstraße 17 in Pankow, ihrer letzten Wohnadresse, und an ihrem Geburtshaus in Haslach erinnert jeweils eine Gedenktafel an sie.

Sekundärliteratur:

Steininger, Rita (2024): Weil ich den Menschen spüre, den ich suche. Zenzl und Erich Mühsam. Bremen.

Quellen:

Akademie der Künste Berlin, Erich-Mühsam-Archiv, III 3034.

IISG Amsterdam, Alexander Berkman Papers 50.

Primärliteratur:

Gustav Landauer Initiative (Hg.) (2023): Erich Mühsam Notizbücher. 2 Bde. Berlin.

Mühsam, Erich (1975): Bilder und Verse für Zenzl. Leipzig.

Ders. (2012-2019): Tagebücher. 15 Bände. Hg. von Chris Hirte und Conrad Piens. Berlin. Digitale Ausgabe. URL: https://www.mühsam-tagebuch.de/tb/index.php.

Mühsam, Kreszentia (1935): Der Leidensweg Erich Mühsams. Zürich und Paris.

Otten, Uschi; Hirte, Chris (Hg.) (1955): Zenzl Mühsam. Eine Auswahl aus ihren Briefen. Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft Heft 9. Lübeck.