Info

Zum 90. Todestag von Erich Mühsam: „Jetzt haben sie mich einkasernt“

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/autorblog/2024/klein/ErichMhsam1919_500.jpg
Erich Mühsam in der Festungshaftanstalt Ansbach, 1919

Heute vor 90 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. Juli 1934, wurde der Schriftsteller und Anarchist Erich Mühsam im KZ Oranienburg ermordet. Seine Grundeinstellung, sich niemals „fremdem Zwang zu fügen“ und stets an den eigenen Überzeugungen festzuhalten, musste er teuer bezahlen: Bis zum Ende seines 56-jährigen Lebens brachte er insgesamt 85 Monate in Haftanstalten und Konzentrationslagern zu. 

*

Erstmals hinter Gittern

Am 6. April 1878 als Sohn jüdischer Eltern in Berlin geboren und in Lübeck aufgewachsen, hängt der Apothekergehilfe Erich Mühsam Anfang 1901 seinen Beruf an den Nagel und wird freier Schriftsteller in Berlin. Nach vier Wanderjahren, die ihn durch verschiedene Länder Europas führen, lässt er sich Ende 1908 in München nieder und gründet die anarchistische Gruppe „Tat“, eine Ortsgruppe des Sozialistischen Bundes von Gustav Landauer.

Am 21. Oktober 1909 detoniert in der Burgstraße eine Sprengstoffkapsel. Es stellt sich heraus, dass der siebzehnjährige Täter Heinrich Kellner Kontakt zu einigen Mitgliedern der Gruppe „Tat“ hat. Mühsam, der sich zum fraglichen Zeitpunkt gar nicht in München, sondern in Berlin aufhält, wird verhaftet und findet sich in einer Zelle des Gerichtsgefängnisses Charlottenburg wieder, die er später in seiner Zeitschrift Kain so beschreibt:

Die Zelle war vielleicht sechs Schritte lang und so schmal, dass ich die Arme noch nicht ganz auszustrecken brauchte, um an jede Wand eine flache Hand mit der ganzen Innenseite anzulehnen. Die Höhe war nicht gering. Gegenüber der Tür war das Fenster, dessen unterer Rand nahezu zwei Meter über dem Fußboden lag.

Nach elf Tagen Untersuchungshaft kommt Mühsam frei. Auch die Gerichtsverhandlung in München im Juni 1910 endet mit einem Freispruch.

Während des Ersten Weltkriegs gehört Mühsam zu den wenigen Menschen, die ihrer pazifistischen Haltung treu bleiben. In Kreszentia (Zenzl) Elfinger findet er eine Gesinnungsgenossin, die seine Werte und Ziele teilt. Er heiratet sie am 15. September 1915.

Verschärfte Festungshaft

Eine neue Zeit bricht an, als Kurt Eisner in der Nacht zum 8. November 1918 den Freistaat Bayern ausruft. Doch am 21. Februar 1919 fällt Eisner einem Attentat zum Opfer. In der Folge entsteht ein politisches Machtvakuum, das dazu führt, dass am 7. April die „Räterepublik Baiern“ ausgerufen wird. Erich Mühsam ist aktiv an diesem Geschehen beteiligt. Schon sechs Tage später scheitert die erste Räterepublik (die noch am selben Tag durch eine zweite abgelöst wird) durch einen gewaltsamen Vorstoß der Republikanischen Schutztruppe. Mühsam wird mit zwölf weiteren Personen verhaftet und ins Zuchthaus Ebrach eingeliefert:

Die Zelle, in der ich mich aufhalten muss, ist unbeheizt. Die Temperatur beträgt 11 °C. Auf dem Steinboden liegt keine Decke, sodass ich gezwungen bin, den Tag im Überzieher zuzubringen und trotzdem kalte Füße habe.

Im Juli 1919 verurteilt das Standgericht in München Erich Mühsam zu 15 Jahren Festungshaft. Er habe sich, so heißt es im Urteilsspruch, „durch seine Tätigkeit bei Aufmachung der ersten Räterepublik als das treibende Element erwiesen“. Das Standgericht billigt dem Angeklagten jedoch insofern „mildernde Umstände“ zu, als er „zeitlebens in ehrlicher Überzeugung, wenn auch mit einem an psychopathischen Zustand grenzenden Fanatismus die Durchführung seiner Ideen verfochten“ habe.

Im August 1919, kurz bevor Erich Mühsam von Ebrach in die Festungshaftanstalt Ansbach überführt wird, entsteht mit dem Titel „Der Gefangene“ eines seiner berühmtesten Gedichte:

Ich hab’s mein Lebtag nicht gelernt, 
mich fremdem Zwang zu fügen. 
Jetzt haben sie mich einkasernt, 
von Heim und Weib und Werk entfernt. 
Doch ob sie mich erschlügen: 
Sich fügen heißt lügen!

In der Tat denkt Mühsam nicht daran, die bestehenden Haftbedingungen ohne Protest hinzunehmen. Schließlich ist die Festungshaft dem Gesetz nach für Verbrechen vorgesehen, denen eine „nicht unehrenhafte Gesinnung“ unterstellt wird, sodass sich die Eingriffe in die persönliche Freiheit auf das Mindestmaß beschränken sollten. Doch die Haftbedingungen für linke Revolutionäre unterscheiden sich grundlegend von denen politisch rechter Straftäter.

Am 15. Oktober 1920 wird Erich Mühsam in die Festungshaftanstalt Niederschönenfeld verlegt. Hier sieht er sich Schikanen und Willkür von noch größerem Ausmaß ausgesetzt. Die Liste der Strafen, die er bereits kennengelernt hat, erweitert sich um Verschärfungen wie Schreibverbot, Bettentzug, die Einschränkung auf Wasser und Brot und Besuchssperre auf unbestimmte Zeit – eine Maßnahme, die nicht nur ihn, sondern auch seine Frau besonders schwer trifft.

Mit Mühsams Gesundheit geht es fortan kontinuierlich bergab. Aufgrund einer Ohrerkrankung, die nicht behandelt wird, lässt sein Hörvermögen nach, bis sein rechtes Ohr schließlich taub ist. Auch quälende Herzbeschwerden treten auf, sie rufen Alpträume und Ängste hervor, die sich durch ein einschneidendes Ereignis verstärken: August Hagemeister, ein Mitgefangener, erleidet zu Beginn des Jahres 1923 eine schwere Herzattacke. Sie führt nach einigen Tagen zu seinem Tod, weil der Anstaltsarzt sich weigerte, seine Erkrankung ernst zu nehmen.

Es steht zu befürchten, dass Erich Mühsam dasselbe Schicksal erleidet, wenn er nicht bald aus der Haft entlassen wird. Doch als Ernst Toller – wie Mühsam einer der Protagonisten der Revolutions- und Rätezeit in Bayern – nach Beendigung seiner Haftstrafe in die Freiheit entlassen wird, erkennt Zenzl Mühsam darin eine neue Chance, sich für ihren Mann einzusetzen:

Wenn Erich nicht kommen sollte (aus der Festung), dann reise ich mit Toller durch ganz Deutschland, wir beide sind eine leise Sensation. Also, das wird für die Gefangenen ausgenützt.

Tatsächlich ist Zenzl schon öfter als Versammlungsrednerin aufgetreten und hat tausende Menschen auf die katastrophalen Haftbedingungen der Revolutionäre aufmerksam gemacht. In Erichs Auftrag hat sie sich zudem mehrmals an Rechtsanwälte gewandt. Doch immer wenn Hoffnung auf vorzeitige Entlassung aufkam, zerschlug sie sich nach kurzer Zeit.

Ausgerechnet durch den Putschisten Adolf Hitler, der unter komfortablen Bedingungen in der Festung Landsberg einsitzt, wendet sich schließlich das Blatt. Als Hitler knapp neun Monate nach seiner Verurteilung vorzeitig aus der Haft entlassen wird, kommen auch die inhaftierten Revolutionäre frei. Am Abend des 21. Dezember 1924 trifft Erich Mühsam in Berlin ein, wo er von jetzt an seinen Wohnsitz hat. Er ist überzeugt, dass er ein weiteres Jahr in Niederschönenfeld nicht überlebt hätte. Deshalb setzt er sich in den kommenden Jahren unermüdlich für politische Gefangene ein.

In den Händen der braunen Barbaren

Mehr und mehr widmet sich Mühsam auch dem Kampf gegen den aufkommenden Nationalsozialismus. Die Nazis, deren erklärter Hassgegner er ist, verbreiten ihrerseits die infame Lüge, Mühsam sei 1919 der Initiator der sogenannten Geiselmorde gewesen. Damals, als die weißen Truppen gegen München vorrückten, um die zweite Räterepublik blutig niederzuschlagen, wurden zehn inhaftierte Revolutionsgegner von Rotgardisten erschossen. Erich Mühsam hatte mit diesem Vorgehen nicht das Geringste zu tun, da er zum fraglichen Zeitpunkt längst im Zuchthaus Ebrach saß. Ungeachtet dessen fordert Joseph Goebbels nun: „Das rote Judenaas muss krepieren.“

In den frühen Morgenstunden des 28. Februar 1933, unmittelbar nach dem Reichstagsbrand, wird Erich Mühsam aus dem Bett heraus verhaftet und ins Zellengefängnis Lehrter Straße gebracht. Später überführt man ihn ins Konzentrationslager Sonnenburg, wo er schwere Misshandlungen erfährt. Zenzl Mühsam sucht verzweifelt nach Wegen zu seiner Rettung. Zu ihrer Unterstützung wendet sich Meta Kraus-Fessel, eine Freundin der Mühsams, an den Arzt Fritz Brupbacher in Zürich:

Zenzl Mühsam hat […] ausdrücklich ihre Zustimmung gegeben, dass im Auslande eine Kampagne für ihn geführt wird. Denn sie sieht darin die einzige Möglichkeit, ihn vielleicht noch vor dem Untergang zu retten. Offenbar hat man vor, ihn im Zuchthaus zu „erledigen“ [...]. Es handelt sich darum, die Presse, soweit sie für diesen Fall zugänglich ist, zu mobilisieren. Jude und Revolutionär, das ist für das heutige Deutschland zu viel, um am Leben zu bleiben.

Doch alle Bemühungen verlaufen im Sande. Am 8. September wird Erich Mühsam in das Konzentrationslager Brandenburg eingeliefert, wo ihn die Hölle erwartet. Denn hier dient die Geiselmörderlüge gezielt dazu, ihn besonders grausamen Torturen auszusetzen. Als Zenzl davon erfährt, schreibt sie einen flehenden Brief an den Lagerkommandanten, in dem sie wieder und wieder beteuert, ihr Mann sei ein guter und aufrichtiger Mensch.

Er lügt nicht. Hätte er mit dem Geiselmord etwas zu tun gehabt, er würde sich dazu bekennen, das glauben Sie mir. Also, Herr Kommandant, ich bitte Sie darum, sich die Akten aus München kommen zu lassen, Sie werden sehen, dass das die reine Wahrheit ist.

Drei Tage später erhält sie eine Antwort, die an Zynismus kaum zu überbieten ist:

[Ich teile] Ihnen mit, dass sich Ihr Mann der größten Gesundheit erfreut und Sie sich dieserhalb keine Gedanken zu machen brauchen … In Zukunft bitte ich, mich nicht mehr mit derartigen Schreiben zu belästigen. Ich stelle Ihnen daher anheim, sich wegen der Unschuld Ihres Mannes an das Geheime Staatspolizeiamt Berlin S.W. 11 Prinz Albrechtstr. 8 zu wenden.

Als das Lager Brandenburg im Februar 1934 aufgelöst wird, kommt Erich Mühsam ins KZ Oranienburg. Zenzl scheut nach wie vor keine Gefahr, ihn so oft wie möglich zu besuchen. Im Sommer 1934 übernimmt die SS das Lager. Mühsam wird zum Selbstmord aufgefordert, er weigert sich. Am Abend des 9. Juli sondert man ihn von den anderen Häftlingen ab, am nächsten Morgen finden ihn Mitgefangene erhängt in der Latrine auf.

Sekundärliteratur:

Steininger, Rita (2024): Weil ich den Menschen spüre, den ich suche. Zenzl und Erich Mühsam. Bremen. 

Quellen:

Brandenburgisches Landeshauptarchiv, 35G KZ Oranienburg 3/23. 

IISG Amsterdam, Fritz Brupbacher Papers 143.

Staatsarchiv München, Pol.Dir.Mü. 15590/6.

Primärliteratur:

Gerd W. Jungblut (Hg.): In meiner Posaune muß ein Sandkorn sein. Erich Mühsam Briefe 1900-1935. 2 Bde. Vaduz/Liechtenstein 1984.

Erich Mühsam: Tagebuch aus dem Gefängnis. In: Ders. (Hg.): Kain – Zeitschrift für Menschlichkeit, 1. Jg., No. 6, September 1911.

Ders.: Tagebücher. Hg. von Chris Hirte und Conrad Piens. 15 Bde. Berlin 2012–2019. Digitale Ausgabe, URL:  https://www.mühsam-tagebuch.de/tb/index.php.

Ders. (1920): Brennende Erde. Verse eines Kämpfers. München.