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21.06.2024, 20:38 Uhr
Harald Beck
Text & Debatte

Der Gräfin Reventlows interessante Nachbarn: Die Douglassens

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Künstlerpublikum im Simplicissimus 1909 (c) Stadtarchiv München

Avantgardistin, Bohemienne, Verfechterin der freien Liebe, Freidenkerin – das war Franziska zu Reventlow (1871-1918). Über ihre autobiografischen Aufzeichnungen urteilte der Münchner Schriftsteller Karl Wolfskehl: „Das Tagebuch ist wirklich ein Echtheitsdokument von großer Reinheit, direkt und wahrhaftig, dabei ausgezeichnet im Wort.“ Im Folgenden veröffentlichen wir weitere Quellenfunde von Harald Beck zu Reventlows Tischnachbarn in der Künstlerkneipe Simplicissimus, der Familie Douglas.

*

Im Oktober 1908 trägt Fanny Reventlow in ihr Tagebuch ein[1]:

Am 10. endlich in die Wohnung mit Maja u dem Burschen eingerichtet. Immer noch wundervolles Wetter u weisse Kleider.

Franzl abgereist, einige Laufereien mit Adam und Friess, mit Douglassens Simplicissimus […]

„Simplicissimus“ gibt einen ersten Hinweis auf die mysteriösen „Douglassens“. In der von Joachim Ringelnatz herausgegebenen Festschrift Simplicissimus. Künstlerkneipe und Kathi Kobus[2] von 1909 erfahren wir:

Um denselben Tisch [den Tisch des Lyrikers Ludwig Scharf und seiner geistreichen Frau] gruppiert sich ein Kranz von Stammkünstlern und Stammgästen mit oder ohne Namen, willkürlich zusammengesetzt.

Da sitzt eine schmächtige, blasse Gestalt mit langem Kopf- und Barthaar, stechenden Augen und feinen Händen. Das ist Erich Mühsam, der Schriftsteller, der Skeptiker, der Pessimist, der Anarchist, dessen beißender Witz bekannt ist. […] Neben ihm hat die Gräfin Reventlow Platz genommen, das interessante Gesichtchen mit den klugen Augen. Sie spricht nicht viel, diese talentvolle außergewöhnliche Frau. Nur dann und wann richtet sie mit schelmischem Lächeln irgendeine Frage an Mühsam oder an ihre interessante Nachbarin, die Schriftstellerin Frau Andre-Douglas.

Amalie Clara Marie Martha Preischer[3], geboren am 25. Oktober 1867 in Gotha, lernte den Journalisten und späteren Schriftsteller Viktor Gustav Crofton André als 18-Jährige vermutlich in Dresden kennen.

Viktor André hatte im Frühjahr 1884 für Schlagzeilen in der amerikanischen und deutschen Presse gesorgt, weil eine junge Amerikanerin, als er sein Heiratsversprechen brach, auf einem Bahnsteig in New York am 12. Februar einen Mordanschlag auf ihn verübte und sich anschließend erschoss.[4] Er hatte einen Aufenthalt in Amerika mit einer Hauslehrertätigkeit verlängert und dabei das Mädchen kennengelernt. Trotz seiner schweren Verletzung überlebte er das Attentat und kehrte nach Dresden zurück.

Am 29. Dezember 1886 kam dort ein Sohn Egon Heinrich auf die Welt, den er anlässlich der Eheschließung mit Martha Preischer am 5. Oktober 1887 als seinen Sohn anerkannte. Der zweite Sohn, Ottokar, wurde am 4. Februar 1888 geboren, und neun Jahre später, am 7. November 1897 noch Edward Adalbert.

Die Ehe wurde schließlich am 11. März 1901 in Dresden geschieden. Martha André galt dabei als die unschuldige Partei. Im Dezember desselben Jahres verstarb der Sohn Egon Heinrich im Alter von 14 Jahren in der Wohnung der Mutter im Dresdner Vorort Blasewitz. Viktor André heiratete im folgenden Jahr in Berlin die junge Polin Stanislawa Ruszczynska.

1903 veröffentlichte Martha André ihr erstes Buch, die Novellensammlung Wie das so ist, im Verlag E. Pierson in Dresden. Die Literarische Warte: Monatsschrift für schöne Literatur rezensierte wie folgt:

Ich habe nicht leicht ein abstoßenderes Buch gelesen als dieses. Die Verfasserin will um jeden Preis modern sein und wird dabei höchst lasziv. Allerdings mögen die Helden der 1. und 3. Novelle: hier ein abenteuerlustiger Ehemann, dort eine männertolle Frau ein pikantes Lesefutter für die Lebewelt bilden; andere Leute aber widern sie förmlich an. Für diese Sorte von Schriftstellerinnen (falls Martha André nicht doch das Pseudonym für einen hypermodernen Schriftsteller ist) passen Schillers Worte: „Da werden Weiber zu Hyänen!“

Seltsamerweise wird in einer Besprechung von Viktor Andrés Novellenband Das stärkere Geschlecht (Stuttgart: Bonz, 1890) der umgekehrte Verdacht geäußert[5]:

Übrigens ist das Buch flüssig geschrieben und lesbar; man möchte es für Frauenarbeit halten, was auch die Haltung der Männergestalten erklären würde.

Die nächsten beiden Werke, Die Kunst des Gebens und Ein Kartenhaus aus dem Jahr 1904 sind Dramen.

Am 28. September 1905 zieht Martha André schließlich mit ihrem achtjährigen Sohn Adalbert, genannt Ad(d)i, nach München in die Ungererstraße.

Noch ist unklar, warum Ringelnatz Reventlows Tischnachbarin den Doppelnamen André-Douglas gibt und warum Reventlow von den Douglassens spricht. Ein Blick ins Münchner Adreßbuch von 1909 fügt Ringelnatz‘ Formulierung „ihre interessante Nachbarin" eine weitere Bedeutung zu:

Die Gräfin Reventlow und Martha André wohnten zu dieser Zeit in benachbarten Häusern in der Helmtrudenstraße in Schwabing. Ein Jahr später lautet der Eintrag für die Nummer 9:

Martha André hatte in zweiter Ehe am 14. November 1908 den dreizehn Jahre jüngeren Biologen Dr. Robert Douglas geheiratet.[6] Douglas, geboren in Danzig am 30. Dezember 1880, war Sohn eines preußischen Landbesitzers aus Powayen und im März 1904 nach München gekommen, um an der Universität Biologie zu studieren. Im Jahr 1909 gründete er den Verlag R. Douglas, der überwiegend der Publikation und Re-Publikation der literarischen Werke seiner Frau diente[7]. Seltsamerweise bewirbt der Verlag die Werke von Martha André alias M.C. André als die eines Mannes[8]:

Eine ausführliche Verlagswerbung[9] für das nächste Werk, Mensch: Erkenne dich selbst! Eine Vagantenhistorie, informiert eingangs über seinen Inhalt:

Der Jahrmarkt mit seinen zahllosen Buden, ein „anatomisches, pathologisches und ethnologisches Museum, ein „Panoptikum“, ein „Fürstensaal“, eine „Verbrecherkammer“ und ein „Opferzimmer“, der Zirkus, Kunstreiter, Akrobaten, Schlangenmenschen und Tierbändiger, die Schau-, Schieß- und Würfelbuden usw. bilden den Stoff.

Und gibt im Weiteren vor, ein Interview mit dem Verfasser (!) geführt zu haben. Unterzeichnet ist der Text von Dr. Douglas. Diese Inhaltsangabe mag erklären, warum Mühsams Freundin Lotte Pritzel die Autorin „Zirkusdame“ nannte, und weist eindeutig auf den biographischen Hintergrund der Vagantenhistorie hin: Die Heiratsurkunde von 1887 gibt den Beruf von Martha Preischers Vater Hermann Robert[10] als „Museumsbesitzer“ an. Hermann Präuscher (*22.1.1839 Gotha, †10.6.1896 Bad Gleichenberg), ursprünglich als Tierbändiger tätig, besaß im Wiener Prater in den 1870ern ein „weltberühmtes anatomisches Museum“ und ein Panoptikum, das „täglich für Erwachsene geöffnet“ war[11]. Das Vorwort zu seinem Führer durch das anatomische, pathologische und ethnologische Museum von H. Präuscher (Dresden 1885) trägt das Motto: „Erkenne dich selbst!“

Verleger Douglas ist vorbeugend bemüht, den Vorwurf von Unmoral für die Vagantenhistorie zu entkräften:

Dem oberflächlichen Leser mag das Werk frivol erscheinen; für Kinder und unreife Menschen ist es ja auch nicht geschrieben. Der ernste Leser aber wird manche Stelle in dem Buch finden, die ihm zeigt, wieviel man zu Grabe getragen haben muß, um ein Recht zu solcher Weltanschauung zu erlangen.

Einer der wenigen Titel des Verlags, der nicht von M.C. André stammte, war 1910 Paul de Kocks La Fille aux trois jupons/Mädchen mit den drei Unterröcken in der Übersetzung von Ludwig Scharfs Frau Ella, geborene Somsich[12]. Erich Mühsam war kurzfristig als Lektor für Douglas tätig. Da seine Vorschläge für neue Autoren wie Paul Scheerbart und Stanislaw Przybyszewsky vom Ehepaar Douglas aber zurückgewiesen wurden, kündigte er diese Tätigkeit. Als er einen Vorschuss von 100 Mark, den er dafür erhalten hatte, nicht zurückzahlen wollte, wurde er von Douglas geohrfeigt.

Am 19. Juli 1911 notiert Mühsam eine unerwartete Wendung in dieser Angelegenheit[13]:

Im Stefanie erzählte mir Scharf, daß Dr. Robert Douglas gestorben ist. Damit ist die Ohrfeige, die ich von ihm bezog, aus der Welt geschafft. Er war ein schwer nierenkranker Mensch, und er hat Glück gehabt, daß der Tod verhältnismäßig milde Formen hatte. Nachtrauern kann ich ihm nicht, dazu sind wir uns immer zu fremd gewesen, dazu hat vor allem unsere Bekanntschaft zu unerquicklich geendet. Doch werde ich seiner Witwe schreiben. Für diese meschuggene Zirkusdame habe ich doch irgendwelche Sympathien, und für ihren kleinen Addi auch heute noch zärtlichste Freundschaftsgefühle. Ich würde mich freuen, wenn der süße Junge wieder an mich glauben lernte.

Die Aufmerksamkeit, die das ungleiche Paar in Kreisen der Schwabinger Boheme erregte, war durchaus auch dem Sohn Ad(d)i aus erster Ehe geschuldet. Erich Mühsam schreibt über ihn:

[…] das schönste Kind, das ich je gekannt habe, und mir mit öfters fast peinlicher Zärtlichkeit zugetan. Kam er mit seiner Mutter und seinem Stiefvater Douglas ins Café, sprang er auf mich zu, küßte mich und turnte an mir herum.

Else Lasker-Schüler war gleichfalls tief beeindruckt von dem Jungen und widmete ihm ihr Gedicht „Antinous“, das im Juli 1911 in Herwarth Waldens Zeitschrift Der Sturm erschien:

 

Drei Briefe Martha Andrés vom Frühjahr 1913 aus dem Nachlass des in Vergessenheit geratenen Schriftstellers Wilhelm Walloth (1854-1932)[14] zeigen sie als eine vom Wert ihrer Werke zutiefst überzeugte Autorin von staunenswerter Arroganz gegenüber Ihrem literarischen Umfeld.

Am 4. August 1914 schildert Erich Mühsam in seinem Tagebuch eine bizarre Begebenheit mit ihr aus den ersten Tagen des Weltkriegs:

Die Massen sind durch die Aufregung dieser Tage in wahre Hysterie geraten. Überall werden Spione gewittert. Dann rennen die Menschen in Haufen zusammen, mißhandeln die Unglücklichen und übergeben sie der Polizei […]. Gestern rettete ich die übermäßig geschminkte Frau Dr. Douglas-Andree aus der Situation. Sie wurde für einen verkleideten Mann gehalten. Ich kam hinzu, legitimierte sie und ging mit ihr und dem armen Addi, der bei ihr war, ihrem 15jährigen Sohn, zum nächsten Auto, gefolgt von johlenden, schimpfenden, maßlos erregten Menschenmengen. Kaum saß sie im Wagen und wollte abfahren, da stellten sich die Leute in den Weg, und obwohl ich und die Kellner des Stefanie erklärten, die Frau zu kennen, wurden zwei Soldaten requiriert, die sie im Auto zur Kaserne begleiteten.

Knapp dreizehn Jahre nach dem frühen Tod ihres zweiten Mannes verlor Martha André-Douglas schließlich in Mühsams Worten „ihr Alles“[15]. Am 23. Juni 1924 verunglückte der 26-jährige Filmschauspieler[16] und Kaufmann Adalbert Andre/Douglas mit seinem Motorrad bei einem Zusammenstoß mit einem Holzfuhrwerk[17] in der Ungererstraße[18] und starb noch am selben Tag im Schwabinger Krankenhaus[19]. Der Zeitungsbericht des Rosenheimer Anzeigers[20] schließt mit den Worten:

[…] nun hat den Kühnen, bei dessen Sprüngen im Film Millionen den Atem verloren haben, ein so kleinlich-trauriges Schicksal auf der Landstraße erreicht.

Als Andre Douglas hatte er 1920/21 Hauptrollen in Filmen wie Der Todesschacht, Ciska Barna, die Zigeunerin und Das Milliardentestament.

Am 22. Oktober 1924 ließ Martha André den Eintrag des Robert Douglas Verlags löschen. Im Juli 1926 zog sie in die Ohmstraße 5/4. Das Münchner Adressbuch listet sie 1943 dort noch als Martha Douglas, Verlagsbuchhändlerswitwe, dann verliert sich ihre Spur. Die Meldeunterlagen im Stadtarchiv weisen kein Todesdatum auf, auch die Grabsuche der Gräberverwaltung war ohne Ergebnis; abgesehen von der rätselhaften Entdeckung, dass die Urne des Sohnes zu einem unbekannten Zeitpunkt nach Wien überführt wurde.

 

Der Verfasser dankt Walter Hettche, Anton Löffelmeier vom Stadtarchiv und John Simpson für tatkräftige Unterstützung bei den „Ausgrabungen“ zu den „Douglassens“.

 


[1] „Wir sehen uns ins Auge, das Leben und ich.“ F. Gräfin zu Reventlow, Tagebücher 1895-1910, hg. Irene Weiser und Jürgen Gutsch, Passau 2007, S. 498.

[2] In einem fingierten Brief mit dem Titel „Viellieber Freund!“ wird das Stammpublikum des Simplicissimus beschrieben.

[3] Ihr Vater war Hermann Präuscher. Wie es zu der Namensänderung kam, ist unbekannt.

[4] Der Deutsche Correspondent (Baltimore, Md.), 13 Feb. 1884, S. 1 und Augsburger Abendzeitung, 2. März 1884, S. 5.

[5] Vorarlberger Landeszeitung vom  11. Juli 1890, S. 3.

[6] Es gibt zu denken, dass Martha André in den Meldeunterlagen in München nur den Sohn Adalbert angibt.

[7] So 1910 Mensch, erkenne dich selbst! Eine Vagantenhistorie, Roman.

[8] Das literarische Echo, 1909, Band 11.

[9] Süddeutsche Monatshefte, 1909, Band 6, ausgaben 7-12, S. XXVIII.

[10] Es mag seine Tochter beindruckt haben, dass ihr zweiter Mann die Vornamen Robert Hermann trug.

[11] Siehe Veigl, Hans (2014): Morbides Wien: Die dunklen Bezirke der Stadt und ihrer Bewohner, S. 124.

[12] In seiner Besprechung der Ausgabe in Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit I, April 1911, S. 27 stellt Mühsam fest: „Übersetzt ist das Buch vortrefflich, auch die Ausstattung ist recht gut“, aber er kritisiert das „neckische“ Vorwort, das Robert Douglas beisteuerte, und charakterisiert de Kock als einen Schriftsteller, „der es darauf anlegte, in der Art zu zoten, wie an kannegiesserischen Stammtischen gezotet wird: ohne echte Derbheit, aber mit dem stillen Feixen, das den Bürger ziert, wenn er verbotene Wege wandelt.“

[13] Hier und im Folgenden wird nach der Online-Edition der Tagebücher Erich Mühsams von Chris Hirte und Conrad Piens zitiert.

[14] Monacensia.

[15] Tagebucheintrag vom 3. August 1924.

[16] Siehe Kinoanzeige in den Münchner neuesten Nachrichten: Wirtschaftsblatt, alpine und Sport-Zeitung, Theater- und Kunst-Chronik. 1920, S. 3, und Bericht der Münchner Neuesten Nachrichten vom 24. Juni 1924, S. 4.

[17] Die u.a. auch von Erich Mühsam übernommene Version, er sei mit einer Straßenbahn kollidiert, beruht auf einem Irrtum, da sich an diesem Tag zwei schwere Unfälle mit Krafträdern ereigneten.

[18] Die gemeinsame Wohnung von Mutter und Sohn lag in der Antwerpenerstraße, einer Seitenstraße.

[19] Der Eintrag im Standesamt vom 25. Juni 1924 gibt als Namen des Verstorbenen Adalbert André an.

[20] 26. Juni 1924, o.S.