„München-Träume“. Von Nikolai Vogel (10)
München verändert sich dauernd – eine Stadt ist lebendig. Und in einer Stadt bleibt sich aber dauernd auch vieles gleich. Manches verschwindet fast unmerklich, anderes ist schlagartig weg. Neue Realitäten entstehen – wir schauen ihnen beim Gebautwerden zu oder entdecken sie im Vorbeigehen ganz unerwartet. Wie also geht der Wandel vonstatten? Wie geht es weiter? Wie öffnet sich Zukunft? In der Fortsetzung seiner Kolumne „München-Träume“ träumt der Autor und Künstler Nikolai Vogel davon, wie die Stadt, in der er seit vielen Jahren lebt, ihn immer wieder verblüfft ...
*
Olympiapark-Saurier
Der Park liegt vor mir mit seiner weltberühmten Glasdachkonstruktion, die sich voller Eleganz um das Olympiastadion schlängelt. Ich bin in einer eigenartigen Hochstimmung, ja einer Erwartung, die ich mir selbst nicht erklären kann. Der Himmel ist grau, aber von einer Leuchtkraft, als würden ihn Discolaser durchschneiden und sich an den Glaselementen brechen, die in Regenbogenfarben schimmern. Wie spät ist es wohl, frage ich mich und wundere mich, dass ich scheinbar alleine hier bin. Keine Radler, keine Passanten, niemand der Picknick macht. Die Hügellandschaft liegt vor mir wie aus einer anderen Zeit.
Mir ist dennoch, als bewege sich etwas – und tatsächlich, die Zeltdachkonstruktion, sie hat sich doch gerade gehoben und gesenkt? Wie von einem langsamen Atem beseelt. Eine optische Täuschung, sage ich mir, das muss von diesem eigenartigen Licht kommen, ein Widerschein wie von glimmender Lava. Aber wieder bewegt es sich, und jetzt muss ich mich ducken, das zeltartige Teilgebilde vor mir peitscht sirrend durch die Luft, schwingt hin und her und legt sich wieder zu Boden.
Ich schließe die Augen und mache sie wieder auf. Jetzt rührt sich das Ding auch weiter vorne, und ich sehe, das langgezogene Zeltdach hat Beine und ein Teil der Konstruktion spannt sich zu Flügeln auf. Der Kopf lag in einer Senke verborgen und hält jetzt Ausschau, wie nach langem Schlaf erwacht. Knackende, reibende Geräusche sind zu hören und der Boden vibriert, als sich das Tier aufsetzt.
Ich bin stehen geblieben und weiß nicht, was ich tun soll. Nicht bewegen, denke ich und bin verwundert, dass ich nicht mehr Angst verspüre. Es ist mehr so ein kribbelndes Gefühl, die Erwartung wie vor einem Wettkampf. Als hätte ich lange auf den Start hingefiebert, der endlich unmittelbar bevorsteht.
Auch die riesigen Zeltgebilde ein Stück weiter falten sich auseinander, lassen Hälse sehen und spreizen die Flügel. Also doch keine Weltarchitektur in München, denke ich, sondern nur eine Dinosaurier-Rast. Flugsaurier, gewaltiger als sie die Paläontologie bisher entdeckt hat. Und auch nicht Ausgrabung, sondern live und gegenwärtig. Und ich kann davon berichten, ich werde dabei gewesen sein, bei diesem erhabenen Schauspiel.
Ich sehe, den imposanten Dinosaurier, der um das Stadion gelegen hat, mit ein paar wenigen Schritten zum Olympiasee tappen. Er trinkt gierig. Die beiden anderen, kleineren, schauen ihm erst zu und tun es ihm dann nach. Der Wasserpegel geht merklich zurück. Auch mein Hals wirkt plötzlich wie ausgetrocknet.
Die drei Flugsaurier stehen jetzt abflugbereit da. Wo werden sie hinfliegen, frage ich mich. Werden sie zurückkommen? Was wird München ohne sie sein? Sie selbst scheinen sich das zu fragen, denn sie halten inne. Jetzt öffnen sie zeitgleich ihre Schnäbel wie in Zeitlupe. Meine Spannung erreicht ihren Höhepunkt. Und vor ihrem Start lassen sie einen Schrei ertönen, einen schneidenden Dreiklang, der die Luft aufreißt. Das klingt fast wie die Eurovisionsfanfare, nur schräger, denke ich, und so laut! Ich halte mir die Ohren zu –
– und wache auf ...
Nikolai Vogel (* 1971 in München) lebt in München als Schriftsteller und bildender Künstler. Er studierte Germanistik, Philosophie und Informatik an der LMU und war Finalist beim Open Mike 2004 sowie beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2005. Darüber hinaus war er Stipendiat der Autorenwerkstatt im Literarischen Colloquium Berlin (2005), Preisträger beim Bayerischen Kunstförderpreis (2007), Projektstipendiat für Bildende Kunst der Stadt München (2008) und Gewinner im Wettbewerb „Letʼs perform Kunst im öffentlichen Raum“ des Kulturreferats München (2012). Sein 2520 Verse umfassender Gedichtband fragmente zu einem langgedicht erschien 2019 im gutleut Verlag. 2020 las er in quarantäneähnlicher Zeit 40 Tage lang seinen noch unpublizierten Roman Angst, Saurier ein und veröffentlichte die Lesungsvideos täglich auf YouTube. 2021 erschien sein Gedichtband Anthropoem, 2023 dann Eine Sprache, die sagt, dass sie außer mir ist (beide Black Ink). Ein Detail aus seinem Text Große ungeordnete Aufzählung wurde 2022 als Edition auf zehn Porzellangefäßen innerhalb von Uli Aigners One Million-Projekt erstveröffentlicht.
„München-Träume“. Von Nikolai Vogel (10)>
München verändert sich dauernd – eine Stadt ist lebendig. Und in einer Stadt bleibt sich aber dauernd auch vieles gleich. Manches verschwindet fast unmerklich, anderes ist schlagartig weg. Neue Realitäten entstehen – wir schauen ihnen beim Gebautwerden zu oder entdecken sie im Vorbeigehen ganz unerwartet. Wie also geht der Wandel vonstatten? Wie geht es weiter? Wie öffnet sich Zukunft? In der Fortsetzung seiner Kolumne „München-Träume“ träumt der Autor und Künstler Nikolai Vogel davon, wie die Stadt, in der er seit vielen Jahren lebt, ihn immer wieder verblüfft ...
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Olympiapark-Saurier
Der Park liegt vor mir mit seiner weltberühmten Glasdachkonstruktion, die sich voller Eleganz um das Olympiastadion schlängelt. Ich bin in einer eigenartigen Hochstimmung, ja einer Erwartung, die ich mir selbst nicht erklären kann. Der Himmel ist grau, aber von einer Leuchtkraft, als würden ihn Discolaser durchschneiden und sich an den Glaselementen brechen, die in Regenbogenfarben schimmern. Wie spät ist es wohl, frage ich mich und wundere mich, dass ich scheinbar alleine hier bin. Keine Radler, keine Passanten, niemand der Picknick macht. Die Hügellandschaft liegt vor mir wie aus einer anderen Zeit.
Mir ist dennoch, als bewege sich etwas – und tatsächlich, die Zeltdachkonstruktion, sie hat sich doch gerade gehoben und gesenkt? Wie von einem langsamen Atem beseelt. Eine optische Täuschung, sage ich mir, das muss von diesem eigenartigen Licht kommen, ein Widerschein wie von glimmender Lava. Aber wieder bewegt es sich, und jetzt muss ich mich ducken, das zeltartige Teilgebilde vor mir peitscht sirrend durch die Luft, schwingt hin und her und legt sich wieder zu Boden.
Ich schließe die Augen und mache sie wieder auf. Jetzt rührt sich das Ding auch weiter vorne, und ich sehe, das langgezogene Zeltdach hat Beine und ein Teil der Konstruktion spannt sich zu Flügeln auf. Der Kopf lag in einer Senke verborgen und hält jetzt Ausschau, wie nach langem Schlaf erwacht. Knackende, reibende Geräusche sind zu hören und der Boden vibriert, als sich das Tier aufsetzt.
Ich bin stehen geblieben und weiß nicht, was ich tun soll. Nicht bewegen, denke ich und bin verwundert, dass ich nicht mehr Angst verspüre. Es ist mehr so ein kribbelndes Gefühl, die Erwartung wie vor einem Wettkampf. Als hätte ich lange auf den Start hingefiebert, der endlich unmittelbar bevorsteht.
Auch die riesigen Zeltgebilde ein Stück weiter falten sich auseinander, lassen Hälse sehen und spreizen die Flügel. Also doch keine Weltarchitektur in München, denke ich, sondern nur eine Dinosaurier-Rast. Flugsaurier, gewaltiger als sie die Paläontologie bisher entdeckt hat. Und auch nicht Ausgrabung, sondern live und gegenwärtig. Und ich kann davon berichten, ich werde dabei gewesen sein, bei diesem erhabenen Schauspiel.
Ich sehe, den imposanten Dinosaurier, der um das Stadion gelegen hat, mit ein paar wenigen Schritten zum Olympiasee tappen. Er trinkt gierig. Die beiden anderen, kleineren, schauen ihm erst zu und tun es ihm dann nach. Der Wasserpegel geht merklich zurück. Auch mein Hals wirkt plötzlich wie ausgetrocknet.
Die drei Flugsaurier stehen jetzt abflugbereit da. Wo werden sie hinfliegen, frage ich mich. Werden sie zurückkommen? Was wird München ohne sie sein? Sie selbst scheinen sich das zu fragen, denn sie halten inne. Jetzt öffnen sie zeitgleich ihre Schnäbel wie in Zeitlupe. Meine Spannung erreicht ihren Höhepunkt. Und vor ihrem Start lassen sie einen Schrei ertönen, einen schneidenden Dreiklang, der die Luft aufreißt. Das klingt fast wie die Eurovisionsfanfare, nur schräger, denke ich, und so laut! Ich halte mir die Ohren zu –
– und wache auf ...
Nikolai Vogel (* 1971 in München) lebt in München als Schriftsteller und bildender Künstler. Er studierte Germanistik, Philosophie und Informatik an der LMU und war Finalist beim Open Mike 2004 sowie beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2005. Darüber hinaus war er Stipendiat der Autorenwerkstatt im Literarischen Colloquium Berlin (2005), Preisträger beim Bayerischen Kunstförderpreis (2007), Projektstipendiat für Bildende Kunst der Stadt München (2008) und Gewinner im Wettbewerb „Letʼs perform Kunst im öffentlichen Raum“ des Kulturreferats München (2012). Sein 2520 Verse umfassender Gedichtband fragmente zu einem langgedicht erschien 2019 im gutleut Verlag. 2020 las er in quarantäneähnlicher Zeit 40 Tage lang seinen noch unpublizierten Roman Angst, Saurier ein und veröffentlichte die Lesungsvideos täglich auf YouTube. 2021 erschien sein Gedichtband Anthropoem, 2023 dann Eine Sprache, die sagt, dass sie außer mir ist (beide Black Ink). Ein Detail aus seinem Text Große ungeordnete Aufzählung wurde 2022 als Edition auf zehn Porzellangefäßen innerhalb von Uli Aigners One Million-Projekt erstveröffentlicht.