„München-Träume“. Von Nikolai Vogel (9)
München verändert sich dauernd – eine Stadt ist lebendig. Und in einer Stadt bleibt sich aber dauernd auch vieles gleich. Manches verschwindet fast unmerklich, anderes ist schlagartig weg. Neue Realitäten entstehen – wir schauen ihnen beim Gebautwerden zu oder entdecken sie im Vorbeigehen ganz unerwartet. Wie also geht der Wandel vonstatten? Wie geht es weiter? Wie öffnet sich Zukunft? In der Fortsetzung seiner Kolumne „München-Träume“ träumt der Autor und Künstler Nikolai Vogel davon, wie die Stadt, in der er seit vielen Jahren lebt, ihn immer wieder verblüfft ...
*
Oktoberfest das ganze Jahr
Ich steige aus der U2, Haltestelle Theresienstraße. Im Zwischengeschoss kommt mir ein offensichtlicher Tourist in Plastik-Lederhosen entgegen. „October festival“ fragt er mich. Hmm, denke ich, es ist erst Mai. Aber gut, ich weiß, dass es nicht selten vorkommt, dass Urlauber die Theresienwiese mit der Theresienstraße verwechselt haben und hier dann die Wiesn eben nicht finden. „Wrong time, wrong place“, sage ich achselzuckend und der in der Lederhose schaut traurig, fast fürchte ich, er könne gleich in Tränen ausbrechen. „But it should be here, are you sure“ setzt er trotzig nach – er scheint also noch nicht alle Hoffnung aufgegeben zu haben.
Ich lasse ihn stehen und fahre nach oben. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass er mir folgt. Was ist das für ein Gegröle? Über mir wie von vielen Stimmen und – das ist doch Blasmusik? Die Rolltreppe rollt mich die letzten Meter hoch. Oben torkelt einer, hält sich an mir fest, lacht. Er hält einen großen, wirklich großen Pappbecher in der Hand. „Maß to go“, lacht er mich an und hält es mir hin, damit ich den Schaum sehen kann. Da, wo die Straße ist, steht ein großes Festzelt. „Oktoberfest 2“ ist es in großen Lettern beschriftet.
Neben mir steht ein älterer Herr und schaut ungläubig in die Szenerie wie ich, obwohl er vom Outfit passt, mit seiner Krachledernen. „Was ist hier los“, frage ich ihn. „Nun“, sagt er, „es ist wohl entschieden. Wir haben jetzt das ganze Jahr Oktoberfest. Es war ja sehr umstritten und die Traditionalisten stemmten sich dagegen, aber die Steuereinnahmen für die Stadt gaben anscheinend den Ausschlag.“
„Aber warum jetzt hier“, frage ich ihn.
„Nicht nur hier“, sagt er, „das ist bloß die kleine Nebenstelle. Das eigentliche Fest ist natürlich nach wie vor auf der Theresienwiese, aber da die Wiesn ohnehin aus allen Nähten platzt, hat man hier halt auch ein Zelt hingestellt, damit sich niemand mehr verlaufen muss.“
„Gehen Sie rein“, frage ich ihn.
„Ich weiß nicht, die Bierpreise …“ Ich habe mir gestern erst ein kleines Becherle geleistet. Also Durst hätte ich schon, aber … In den Biergärten gibt es ja schon länger Halbe-Gläser, dieser Trend geht weiter, Viertel, Achtel, Sechzehntel. Und dann, nicht mal Glas, sondern aus Sicherheitsgründen Plastik. Der Preis für ein Sechzehntel-Literglas Wiesnbier liegt dieses Jahr bei 47,80 Euro – mit Trinkgeld wird empfohlen 60 zu geben, der Rest vom Hunderter reicht für eine halbe Tofuochsensemmel … – Oder eben die To-Go-Maß aus dem Einliter-Pappbecher, die liegt bei um die 500, ein Schnäppchen also.“
Er winkt ab und zuckt mit den Schultern, als wir eine ausgelassene Gruppe aus dem Zelt kommen sehen. Alle tragen sie diese komischen Hendlhüte, die man wohl nur aufsetzen kann, wenn man schon einen sitzen hat. „Die Hendlhüte, deren Flügel schlagen können, waren mir geläufig“, erklärt mir der Herr, „noch nicht gekannt habe ich aber die selbstsprechende Variante. Sie ist mit KI ausgestattet und in der Lage, ein vernünftiges Gespräch zu führen, auch wenn ihre Träger das längst nicht mehr hinbekommen. Im Festzelt habe ich eine Gruppe belauscht, deren Hendlhüte sich interessant unterhalten haben, während die Körper unter ihnen bis auf ein gelegentliches Armzucken und vernuscheltes ‚Gsuffa‘ nichts mehr rausbekamen. Erst ging es über Artenschutz und die verschiedensten neuen Möglichkeiten, die Brathendl aus dem 3D-Drucker zu holen, dann fingen sie zu meiner Überraschung an, über Prousts Recherche zu sprechen. Am Boden unter den Bierbänken und Tischen krabbelten derweil diese neuen, kleinen Aufräumroboter herum und manche wurden frech und zwickten das ein oder andere Bein gelegentlich neckisch – mich auch!
Ich spüre wie sich von hinten ein fester Griff um meinen Hals legt. „Wean hoba wia den nachod do“, fragt eine sich bemüht bairisch gebende Stimme. „Scho wiada oana ohni Drocht! Kummst wieda, wennsd gscheid ozoaga bisd!“ Er schubst mich Richtung Ausgang und ich stolpere fast –
– und wache auf ...
Nikolai Vogel (* 1971 in München) lebt in München als Schriftsteller und bildender Künstler. Er studierte Germanistik, Philosophie und Informatik an der LMU und war Finalist beim Open Mike 2004 sowie beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2005. Darüber hinaus war er Stipendiat der Autorenwerkstatt im Literarischen Colloquium Berlin (2005), Preisträger beim Bayerischen Kunstförderpreis (2007), Projektstipendiat für Bildende Kunst der Stadt München (2008) und Gewinner im Wettbewerb „Letʼs perform Kunst im öffentlichen Raum“ des Kulturreferats München (2012). Sein 2520 Verse umfassender Gedichtband fragmente zu einem langgedicht erschien 2019 im gutleut Verlag. 2020 las er in quarantäneähnlicher Zeit 40 Tage lang seinen noch unpublizierten Roman Angst, Saurier ein und veröffentlichte die Lesungsvideos täglich auf YouTube. 2021 erschien sein Gedichtband Anthropoem, 2023 dann Eine Sprache, die sagt, dass sie außer mir ist (beide Black Ink). Ein Detail aus seinem Text Große ungeordnete Aufzählung wurde 2022 als Edition auf zehn Porzellangefäßen innerhalb von Uli Aigners One Million-Projekt erstveröffentlicht.
„München-Träume“. Von Nikolai Vogel (9)>
München verändert sich dauernd – eine Stadt ist lebendig. Und in einer Stadt bleibt sich aber dauernd auch vieles gleich. Manches verschwindet fast unmerklich, anderes ist schlagartig weg. Neue Realitäten entstehen – wir schauen ihnen beim Gebautwerden zu oder entdecken sie im Vorbeigehen ganz unerwartet. Wie also geht der Wandel vonstatten? Wie geht es weiter? Wie öffnet sich Zukunft? In der Fortsetzung seiner Kolumne „München-Träume“ träumt der Autor und Künstler Nikolai Vogel davon, wie die Stadt, in der er seit vielen Jahren lebt, ihn immer wieder verblüfft ...
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Oktoberfest das ganze Jahr
Ich steige aus der U2, Haltestelle Theresienstraße. Im Zwischengeschoss kommt mir ein offensichtlicher Tourist in Plastik-Lederhosen entgegen. „October festival“ fragt er mich. Hmm, denke ich, es ist erst Mai. Aber gut, ich weiß, dass es nicht selten vorkommt, dass Urlauber die Theresienwiese mit der Theresienstraße verwechselt haben und hier dann die Wiesn eben nicht finden. „Wrong time, wrong place“, sage ich achselzuckend und der in der Lederhose schaut traurig, fast fürchte ich, er könne gleich in Tränen ausbrechen. „But it should be here, are you sure“ setzt er trotzig nach – er scheint also noch nicht alle Hoffnung aufgegeben zu haben.
Ich lasse ihn stehen und fahre nach oben. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass er mir folgt. Was ist das für ein Gegröle? Über mir wie von vielen Stimmen und – das ist doch Blasmusik? Die Rolltreppe rollt mich die letzten Meter hoch. Oben torkelt einer, hält sich an mir fest, lacht. Er hält einen großen, wirklich großen Pappbecher in der Hand. „Maß to go“, lacht er mich an und hält es mir hin, damit ich den Schaum sehen kann. Da, wo die Straße ist, steht ein großes Festzelt. „Oktoberfest 2“ ist es in großen Lettern beschriftet.
Neben mir steht ein älterer Herr und schaut ungläubig in die Szenerie wie ich, obwohl er vom Outfit passt, mit seiner Krachledernen. „Was ist hier los“, frage ich ihn. „Nun“, sagt er, „es ist wohl entschieden. Wir haben jetzt das ganze Jahr Oktoberfest. Es war ja sehr umstritten und die Traditionalisten stemmten sich dagegen, aber die Steuereinnahmen für die Stadt gaben anscheinend den Ausschlag.“
„Aber warum jetzt hier“, frage ich ihn.
„Nicht nur hier“, sagt er, „das ist bloß die kleine Nebenstelle. Das eigentliche Fest ist natürlich nach wie vor auf der Theresienwiese, aber da die Wiesn ohnehin aus allen Nähten platzt, hat man hier halt auch ein Zelt hingestellt, damit sich niemand mehr verlaufen muss.“
„Gehen Sie rein“, frage ich ihn.
„Ich weiß nicht, die Bierpreise …“ Ich habe mir gestern erst ein kleines Becherle geleistet. Also Durst hätte ich schon, aber … In den Biergärten gibt es ja schon länger Halbe-Gläser, dieser Trend geht weiter, Viertel, Achtel, Sechzehntel. Und dann, nicht mal Glas, sondern aus Sicherheitsgründen Plastik. Der Preis für ein Sechzehntel-Literglas Wiesnbier liegt dieses Jahr bei 47,80 Euro – mit Trinkgeld wird empfohlen 60 zu geben, der Rest vom Hunderter reicht für eine halbe Tofuochsensemmel … – Oder eben die To-Go-Maß aus dem Einliter-Pappbecher, die liegt bei um die 500, ein Schnäppchen also.“
Er winkt ab und zuckt mit den Schultern, als wir eine ausgelassene Gruppe aus dem Zelt kommen sehen. Alle tragen sie diese komischen Hendlhüte, die man wohl nur aufsetzen kann, wenn man schon einen sitzen hat. „Die Hendlhüte, deren Flügel schlagen können, waren mir geläufig“, erklärt mir der Herr, „noch nicht gekannt habe ich aber die selbstsprechende Variante. Sie ist mit KI ausgestattet und in der Lage, ein vernünftiges Gespräch zu führen, auch wenn ihre Träger das längst nicht mehr hinbekommen. Im Festzelt habe ich eine Gruppe belauscht, deren Hendlhüte sich interessant unterhalten haben, während die Körper unter ihnen bis auf ein gelegentliches Armzucken und vernuscheltes ‚Gsuffa‘ nichts mehr rausbekamen. Erst ging es über Artenschutz und die verschiedensten neuen Möglichkeiten, die Brathendl aus dem 3D-Drucker zu holen, dann fingen sie zu meiner Überraschung an, über Prousts Recherche zu sprechen. Am Boden unter den Bierbänken und Tischen krabbelten derweil diese neuen, kleinen Aufräumroboter herum und manche wurden frech und zwickten das ein oder andere Bein gelegentlich neckisch – mich auch!
Ich spüre wie sich von hinten ein fester Griff um meinen Hals legt. „Wean hoba wia den nachod do“, fragt eine sich bemüht bairisch gebende Stimme. „Scho wiada oana ohni Drocht! Kummst wieda, wennsd gscheid ozoaga bisd!“ Er schubst mich Richtung Ausgang und ich stolpere fast –
– und wache auf ...
Nikolai Vogel (* 1971 in München) lebt in München als Schriftsteller und bildender Künstler. Er studierte Germanistik, Philosophie und Informatik an der LMU und war Finalist beim Open Mike 2004 sowie beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2005. Darüber hinaus war er Stipendiat der Autorenwerkstatt im Literarischen Colloquium Berlin (2005), Preisträger beim Bayerischen Kunstförderpreis (2007), Projektstipendiat für Bildende Kunst der Stadt München (2008) und Gewinner im Wettbewerb „Letʼs perform Kunst im öffentlichen Raum“ des Kulturreferats München (2012). Sein 2520 Verse umfassender Gedichtband fragmente zu einem langgedicht erschien 2019 im gutleut Verlag. 2020 las er in quarantäneähnlicher Zeit 40 Tage lang seinen noch unpublizierten Roman Angst, Saurier ein und veröffentlichte die Lesungsvideos täglich auf YouTube. 2021 erschien sein Gedichtband Anthropoem, 2023 dann Eine Sprache, die sagt, dass sie außer mir ist (beide Black Ink). Ein Detail aus seinem Text Große ungeordnete Aufzählung wurde 2022 als Edition auf zehn Porzellangefäßen innerhalb von Uli Aigners One Million-Projekt erstveröffentlicht.