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03.06.2024, 13:01 Uhr
Gabriele Bassermann-Jordan
Text & Debatte
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Jahrbuch-Cover 2023 (c) Allitera Verlag

Franz Kafka als Autor der Münchner Zweimonatsschrift "Hyperion"

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Franz Kafka um 1910, im Alter, nachdem er in der Münchner Zeitschrift "Hyperion" publiziert hatte.

Sechs Jahre nachdem die Literaturzeitschrift Die Insel eingestellt worden war, rief einer ihrer eifrigsten Mitarbeiter, Franz Blei, zusammen mit dem Schriftsteller Carl Sternheim die Literaturzeitschrift Hyperion ins Leben. Zwischen 1908 und 1910 wurden zwölf Hefte in zehn Ausgaben publiziert, allesamt in München herausgegeben. In der Zeitschrift wurden u.a. Texte von Carl Sternheim, Robert Musil, Hugo von Hofmannsthal, Heinrich Mann und Rainer Maria Rilke veröffentlicht. Bleis wichtigste literarische Entdeckung blieb allerdings der junge Franz Kafka, der mit acht Prosatexten im Hyperion debütierte. Vor genau 100 Jahren, am 3. Juni 1924, starb der heute inzwischen weltberühmte Dichter. Gabriele Bassermann-Jordan über das Verhältnis Franz Kafkas zu dieser Zeitschrift.

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Die frühesten Publikationen Franz Kafkas sind in der Münchner Zweimonatsschrift Hyperion erschienen. Im ersten Heft des Hyperion (März 1908) veröffentlicht Kafka acht Prosaminiaturen unter dem Titel Betrachtung, im März- / Aprilheft 1909 folgen das Gespräch mit dem Beter und das Gespräch mit dem Betrunkenen. Im März 1911 publiziert er in der Prager Tageszeitung Bohemia eine Rezension auf den Hyperion, nachdem die Zeitschrift im März 1910 ihr Erscheinen eingestellt hat.

In dieser Rezension, die den Titel Eine entschlafene Zeitschrift trägt, würdigt Kafka den Herausgeber Franz Blei als einen „bewundernswerte[n] Mann“ und den Verleger Hans von Weber als einen der „zielbewußtesten großen deutschen“ Verleger. Zugleich übt er harsche Kritik, die beiden hätten in „begeisterte[r] Verblendung“ eine Zeitschrift ins Leben gerufen, die keine „Notwendigkeit“ im Literaturbetrieb gehabt habe (S. 416). Eine Veröffentlichung im Hyperion habe den Autoren folglich „keinen besondern anderswo nicht zu erreichenden Gewinn“ eingebracht, stattdessen hätten sie sogar „peinliche Nachteile“ in Kauf nehmen müssen (S. 417f.). Die Zeitschrift sei also ihren Autoren nicht gerecht geworden – eine Veröffentlichung im Hyperion habe ihnen sogar geschadet, so Kafka. Dies sind erstaunliche Worte für einen jungen Autor, der dem Herausgeber der Zeitschrift Hyperion seine ersten Publikationsmöglichkeiten und damit den Eintritt in das Feld professioneller Autorschaft verdankt. Zu klären ist also, wie Kafka auf eine solche Argumentation kommen konnte.

In der Forschung fristen Kafkas früheste Publikationen im Hyperion und seine Rezension dieser Zeitschrift noch immer ein Schattendasein. Den wenigen Beiträgen zum ‚Nachruf‘ auf den Münchner Hyperion ist gemeinsam, dass sie Kafkas ungewöhnliche, ja widersprüchliche Argumentation zwar konstatieren, jedoch kaum eine überzeugende Erklärung dafür anbieten. Die ältere Forschung hat an der Rezension Kafkas „innere[] Freiheit“ der Zeitschrift gegenüber sowie die Mischung aus „Kritik, Ironie und Bewunderung“ betont.

In der neueren Forschung hat man die Rezension zum einen biographisch gelesen. Zum anderen ist Kafkas Hyperion-Rezension (März 1911) auf das in zeitlicher Nachbarschaft entstandene Schema <Über kleine Litteraturen> (Dezember 1911) sowie auf den Einleitungsvortrag über Jargon (Februar 1912) bezogen worden.

Im Folgenden soll Kafkas Rezension auf die Zeitschrift Hyperion selbst (die bisher kaum erforscht ist) bezogen werden. Diese Vorgehensweise erfordert es, die Zweimonatsschrift zunächst in Grundzügen vorzustellen und das intendierte, aber nicht verwirklichte Programm zu rekonstruieren. Hinweise darauf lassen sich dem Briefwechsel zwischen Franz Blei und Rudolf Borchardt entnehmen, der im Deutschen Literaturarchiv (Marbach) verwahrt wird. Die (scheinbaren) Widersprüche in Kafkas Rezension des Hyperion werden so als eine Ästhetik erkennbar, die neo-romantischen Maßstäben verpflichtet ist.  

Ausstattung und inhaltliche Zweiteilung der Münchner Zeitschrift Hyperion 

Die Zweimonatsschrift Hyperion erscheint von März 1908 bis März 1910 im Hyperion Verlag von Hans von Weber in München. Der für beide Jahrgänge verantwortliche Redakteur, Franz Blei, gibt den ersten Jahrgang gemeinsam mit Carl Sternheim heraus, der das Projekt finanziell mit 10.000 Mark unterstützt. Den zweiten Jahrgang des Hyperion gibt Blei allein heraus. 

Als Titel der Zeitschrift werden zunächst Das goldene Vlies, Die Horen und Die Hesperiden erwogen, bevor erst im Februar 1908, also kurz vor der Drucklegung des ersten Heftes, der Name Hyperion feststeht. Dieser lässt, wie auch die schließlich verworfenen Titel, den Anspruch der Herausgeber auf Klassizität erkennen. Dem entspricht die äußere Gestaltung: Von der Auflage von 1.050 Exemplaren werden 1.000 Stück auf Englischem Velin und 50 Stück auf Kaiserlich Japan gedruckt. Die Buchdecken für je 2 Doppelbände werden in der Wiener Werkstätte hergestellt, für die Luxusausgabe in Leder und für die allgemeine Ausgabe in olivgrünem Ganzleinen; sie zeigen in Großformat in Goldfarben den Sonnengott, dessen Beiname „Hyperion“ lautet, in seinem Wagen. Der Preis für das Abonnement beläuft sich im Jahr 1908 auf 100 Mark für die Luxusausgabe und auf 48 Mark für die allgemeine Ausgabe, der Preis für die Luxusausgabe erhöht sich im darauffolgenden Jahr auf 120 Mark. Einzelne Hefte können auch im Buchhandel erworben werden.

Inhaltlich ist der Hyperion aufgeteilt in einen Literatur- und einen Kunstteil. Der Literaturteil des Hyperion enthält lyrische, dramatische und erzählende Dichtung sowie Essays. Blei hat Spürsinn für literarische Talente und wagt es, Werke von jungen oder noch gänzlich unbekannten Autoren erstmals der Öffentlichkeit vorzustellen. Zu diesen Autoren gehören Franz Kafka und Robert Musil. Der Münchner Hyperion ist international ausgerichtet und bringt zudem eine Reihe von nichtdeutschen Autoren in Übersetzung.

Der Kunstteil, für den ab dem zweiten Jahrgang Alfred Walter Heymel verantwortlich ist, bringt Bildmaterial der Bremer Kunsthalle in hochwertigen Reproduktionen, was dem Anspruch entspricht, den der Name der Zeitschrift und die äußere Gestaltung vorgeben.  

Zum (nicht verwirklichten) Programm des Hyperion 

Ein Programm wird im Hyperion nicht angekündigt. Es lässt sich jedoch erschließen aus den Briefen von Franz Blei an Rudolf Borchardt. Aus diesen Briefen, die zwischen Herbst 1907 und Winter 1909 zum Hyperion gewechselt werden, geht hervor, dass Blei ursprünglich beabsichtigt, die einzelnen Beiträge des Hyperion ästhetisch um Borchardts Schriften zu zentrieren. Am 20. September 1907 schreibt Blei an Borchardt: 

Dass ich für das nächste Jahr an eine Zweimonatsschrift denke, deren Programm in Ihrer Rede über Hofmannsthal steht, habe ich Ihnen das schon geschrieben? Ja, es soll eine […] Zeitschrift sein, mit dem verpflichtenden Titel Die Horen [später: Hyperion; G.v.B.J.], und soll Ihnen ganz zur Verfügung stehen.  

Diese Zeitschrift, so Blei am 23. Oktober 1907, solle sowohl dichterische Arbeiten enthalten als auch „politische“ und „religiöse Aufsätze“, die nicht etwa nur ein „Nebeneinander“ ergeben sollen, sondern ein „Miteinander“, getragen vom „Sinn des Ganzen“. Jedes einzelne Hyperion-Heft soll also ein „Ganze[s]“ sein, das nicht als bloße Summe der Einzelteile verstanden wird, sondern als eine harmonische Verbindung der einzelnen Beiträge untereinander, die auf vielfältige Weise – sei es inhaltlich, sei es formal – miteinander in Beziehung treten können.

In der von Blei am 20. September 1907 erwähnten Rede über Hofmannsthal reflektiert Borchardt im ersten Teil die Gesellschaft und die Literatur um 1900. Die moderne, durch die Revolution von 1848, die Reichsgründung von 1871 und die rasante Industrialisierung hervorgebrachte Gesellschaft befinde sich in einem „chaotischen“ Zustand – ihr fehle die „Einheit des Daseins“. Analog dazu zeichne sich die zeitgenössische Literatur durch den „absoluten Zusammenbruch aller Überlieferung der Formen und der Gattungen, des Urteils und des Geschmackes, des Theaters und des Publikums“ aus – die „Einheit des Daseins“ vermöge sie folglich nicht zu repräsentieren. 

Hugo von Hofmannsthal, so Borchardt weiter, bündele in seinem Werk die zentrifugalen Kräfte der modernen Gesellschaft und suche den ästhetischen Wildwuchs der modernen Literatur zur Einheit zu synthetisieren. So, wie dem „eigenen Dasein[]“ Hofmannsthals in verkleinertem Maßstab das „Erhabene wie das Winzige des Menschendaseins“ unterliege, kommen im Werk des Dichters die Themen der ganzen Epoche zur Sprache. In Hofmannsthals Werk spiegelten sich, so Borchardt, in unendlichen Verweisungen und Vermittlungen, der Autor, die Konflikte der Zeit und der modernen Literatur, was auch Fragen nach dem Sprachstil und nach der Gestalt des Werkes mit einschließe. Die Tendenzen der modernen Zeit und Literatur (die „freie Vielfalt des Lebens“) kristallisierten sich im Werk Hofmannsthals zu einer lebendigen „Einheit des Lebens“. 

Vor diesem Hintergrund lässt sich das Programm der von Franz Blei geplanten Zeitschrift folgendermaßen rekonstruieren: Die Systemstelle, die in der Rede Hofmannsthal zukommt, soll im Hyperion Borchardt einnehmen. Seine dichterischen bzw. essayistischen Beiträge sollen Kristallisationspunkt des „Ganzen“ eines jeden Heftes der Zeitschrift sein und auf vielfältige Weise mit den Beiträgen der weiteren Autoren des jeweiligen Heftes korrespondieren. Im einzelnen denkt Blei etwa an Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann, Arthur Schnitzler, Eduard Graf Keyserling, Heinrich Mann, Max Brod, Rainer Maria Rilke, Maximilian Dauthendey, aber auch an die französischen Autoren André Gide und Paul Claudel, an die englischen Autoren George Meredith und Gilbert K. Chesterton sowie an die Gedichte von Algernon Charles Swinburne, Alexander Block, Edgar Allen Poe oder Gabriele d’Annunzio. Die dichterischen Arbeiten sowie die Essays dieser Autoren sollen, nach Blei, die gesellschaftlichen Zustände sowie die Literatur um 1900 abbilden und die verschiedenen Stile, Themen und Debatten der Zeit sowie der Literatur zur Sprache bringen. Zugleich sollen sich diese unterschiedlichen Beiträge eines jeden Hefts in einem Beitrag Borchardts – als Zentrum des „Ganzen“ – bündeln, um von diesem Zentrum wieder zurückzustrahlen. Auf diese Weise können die Schriften Borchardts und die der anderen Autoren in einem unendlichen Verweisungssystem auf einander Bezug nehmen und so ein „Miteinander“ ergeben. Jedes Heft des Hyperion ist somit als eine Repräsentation der „Einheit des Lebens“ geplant, im Sinn eines lebendigen „Ganzen“ . Die Klassizität des Hyperion soll sich also, nach den Vorstellungen Franz Bleis, nicht nur im Namen und in der äußeren Gestaltung der Zeitschrift manifestieren, sondern auch in einer konservativen Ästhetik.

Aber: Borchardt nimmt Bleis wiederholt und nachdrücklich vorgetragenes Angebot, den Textteil des Hyperion wesentlich zu bestimmen, nicht an. Als er Bleis Brief erhält, beabsichtigt er, gemeinsam mit Alfred Walter Heymel im Insel Verlag eine eigene Quartalsschrift herauszugeben. Als Titel werden Hesperus, Heimkehr und schließlich Das Schiff erwogen. Mit den „Plänen einer eigenen Revue“ begründet Borchardt Blei gegenüber seine Absage. An Rudolf Alexander Schröder schreibt Borchardt über Bleis Hyperion-Angebot: „[…] ich arbeite nicht mehr an Zeitschriften die ich nicht mitredigiere“.

Für Franz Blei bedeutet dies, dass sich das geplante Programm, eine um Borchardt zentrierte Zeitschrift herauszugeben, nicht realisieren lässt. Bedauernd spricht er von einem „Torso“, den der Hyperion nun, ohne Borchardts Schriften als ästhetisches Zentrum, darstellen müsse. Mit Borchardts Absage fehlt der Zeitschrift ihr ästhetischer Kristallisationspunkt. Blei hält zwar am Hyperion-Projekt fest und vermag die Autoren, die er von Anfang an im Blick hat, zur Mitarbeit zu gewinnen. Aber: Diese Autoren, die, bezogen auf den Kristallisationspunkt ‚Borchardt‘, ein gemeinsames „Miteinander“ im „Sinn des Ganzen“ hätten bilden sollen, verbleiben nun, unverbunden, in dem von Blei befürchteten „Nebeneinander“. Von Anfang an droht die Zeitschrift zu einem ästhetischen Wildwuchs zu zerfallen.

In dem Umstand, dass der Hyperion ein von Anfang an verfehltes Projekt ist, wird man den Hauptgrund dafür erkennen können, dass die Zeitschrift nur zwei Jahre Bestand hat – auch wenn Blei selbst im letzten Heft in seinem Beitrag Abschied an den Leser den Sachverhalt so darstellt, als wäre es „vom Beginn an die Absicht gewesen“, die „Zeitschrift zwei Jahre und nicht länger zu führen“. 

Franz Kafkas Rezension des Hyperion: Eine entschlafene Zeitschrift (1911) und die implizierte Ästhetik 

Wie eingangs festgestellt – Kafkas Rezension der Zeitschrift Hyperion liest sich widersprüchlich. Kafka findet einerseits anerkennende Worte für den Herausgeber des Hyperion, Franz Blei, und für den Verleger der Zeitschrift, Hans von Weber – beiden gesteht er „Willen“, „Kraft“ und „Opfermut“ zu. Andererseits spricht er von ihrer „begeisterte[n] Verblendung“ (S. 418). Diese ambivalente Formel wird nur verständlich, wenn sie auf das ursprüngliche, jedoch nicht verwirklichte Programm der Zeitschrift bezieht. Kafka entwickelt seine kritische Sicht, indem er den Hyperion mit der Vorgängerzeitschrift Der Pan vergleicht. Als Verdienst des Pan hebt Kafka hervor, dass er „die wesentlichen zeitgemäßen, aber noch unerkannten Kräfte einigte und durch einander stärkte“ (S. 417). Die Zeitschrift Der Pan versteht Kafka also ein ästhetisches „Ganzes“. Ein solches Verdienst komme jedoch dem Hyperion nicht zu – dies nennt Kafka den „Irrtum des ‚Hyperion‘“ (S. 417). In der Tat fehlt jedem Heft der Münchner Zeitschrift ihr ästhetisches Zentrum in Form eines Beitrags Borchardts, in dem sich die Themen, Stile und Debatten der übrigen Hyperion-Autoren, also derjenigen, die „die an den Grenzen der Literatur wohnen“ (S. 417), nach dem Wunsch Bleis hätten bündeln und auf die einzelnen Autoren wieder zurückstrahlen sollten, um sie so untereinander zu verbinden und zu einer höheren Einheit zu synthetisieren. Die „begeisterte Verblendung“ (S. 418), die Kafka Blei und Weber zuschreibt, besteht darin, am Hyperion festgehalten zu haben, obwohl sich Borchardt nicht zur Mitarbeit gewinnen ließ und die Zeitschrift damit ein von Beginn an verfehltes Projekt war.

Diejenigen Autoren, die im Hyperion publiziert haben, ohne dass die Zeitschrift eine ästhetische Mitte gehabt hätte (und zu denen auch Kafka selbst zählt!), sind folglich nicht in einer höheren Einheit aufgehoben. Daraus folgt zweierlei. Erstens wirken sie sperrig und isoliert in einer literarischen Umgebung, die kein ästhetisches Ganzes ist („fremder […] als sie sind“, S. 417). Zweitens kommen diese Autoren durch eine Publikation im ästhetischen Wildwuchs des Hyperion in eine ihren Texten unangemessene Umgebung, sie wecken beim Publikum falsche Erwartungen (sie ziehen „Lügenhaftes an“, S. 418) und erleiden dadurch sogar „peinliche Nachteile“ (S. 417). Wenn sie ihren eigenen ästhetischen Intentionen treu bleiben wollen („wahrhaftig bleiben“, S. 417), ist der Hyperion die falsche Adresse. Diesen Nachteilen, die eine Publikation im Hyperion mit sich bringt, stehe, so Kafka, kein Vorteil entgegen, der nicht auch in einer anderen Zeitschrift hätte erreicht werden können (S. 418). Der Hyperion sei also seinen Autoren, die in der Zeitschrift publiziert haben, ohne Teil eines ästhetischen Ganzen zu sein, in keiner Weise gerecht geworden.

Die in der Forschung konstatierte Ambivalenz im Argumentationsgang von Kafkas ‚Nachruf‘ liegt in der Ambivalenz des Hyperion selbst begründet: So bemerkenswert die bibliophile Ausstattung und die hochkarätigen Autoren der Zeitschrift sind, so problematisch ist ihr ästhetischer Wildwuchs.

Diese Interpretation wirft die Frage auf, ob Kafka von dem ursprünglich geplanten Programm des Hyperion Kenntnis gehabt hat. Schriftliche Belege haben sich dafür bisher nicht finden lassen. Gesprächsweise kann Kafka aber durchaus von Bleis Bemühungen um Borchardt erfahren haben. Auf Vermittlung von Max Brod kommen Kafka und Blei spätestens im Lauf des Jahres 1907, möglicherweise schon in der zweiten Jahreshälfte 1906, in persönlichen Kontakt. Auf eine anhaltend gute Verbindung zwischen beiden deutet hin, dass Kafka, Brod und Blei, dessen Frau und dessen Sohn am Abend des 18. Mai 1910 auf den Laurenziberg gehen, um den Vorübergang des Halleyschen Kometen vor der Sonne zu beobachten, der für Prag für den Morgen des 19. Mai 1910, zwischen 4 und 5 Uhr, angekündigt ist. Im Tagebuch verknüpft Kafka die Beobachtungen des Kometen mit dem Beginn der Wahrnehmung seines ‚Ich‘. „Mit Blei, seiner Frau u. seinem Kind beisammengewesen, mich aus mir heraus zeitweilig gehört, wie das Winseln einer jungen Katze beiläufig, aber immerhin.“ Das ‚Ich‘ lässt sich interpretieren als Kafkas Autor-Ich. Im Prozess der Schreibarbeit an den einzelnen Prosastücken, also seit 1904, beginnt sich dieses Autor-Ich herauszubilden. Mit der Publikation der acht Stücke der Betrachtung und der beiden Gespräche im Hyperion wird das Autor-Ich weiter stabilisiert und erhält eine sichtbare Bestätigung. Untrennbar mit Kafkas Autor-Ich verbunden ist Franz Blei, der die Publikationen erst möglich macht.

Ob Kafka von Bleis Hyperion-Plänen gewusst hat oder nicht – die Hyperion-Rezension lässt erkennen, dass der zu diesem Zeitpunkt 28-jährige Autor auch für das eigene Schreiben von einer konservativen Ästhetik ausgeht. An ein Kunstwerk stellt er den Anspruch eines ästhetischen „Ganzen“, dessen einzelne Teile auf vielfältige Weise zueinander in Beziehung stehen und zu einer höheren Einheit synthetisiert werden. 

Franz Kafkas Betrachtung im ersten Hyperion-Heft als Einlösung seiner neo-romantischen Ästhetik

Kafkas eigener Beitrag zum ersten Heft des Hyperion sind acht Prosaminiaturen unter dem Titel Betrachtung. Liest man die einzelnen Stücke nacheinander, so ergeben sie keine zusammenhängende Erzählung. Die einzelnen Stücke sind jedoch untereinander durch formale und motivische Zusammenhänge verbunden, sodass sie in einem Verweisungssystem aufeinander Bezug nehmen, das prinzipiell unabschließbar ist. Die einzelnen Stücke der Betrachtung können also als ästhetisches Ganzes angesehen werden.

Schon der Titel Betrachtung (Singular) signalisiert, dass die einzelnen disparaten Beobachtungen und Reflexionen zu einer übergeordneten Einheit synthetisiert werden sollen. Ein Ich, das in allen Prosastücken präsent ist, verbürgt den Zusammenhang der einzelnen Texte. Dementsprechend legt Kafka auf den korrekten Titel großen Wert: Als Paul Wiegler in der Osterbeilage der Bohemia am 27. März 1910 vier der bereits im Hyperion erschienenen Prosastücke gemeinsam mit Zum Nachdenken für Herrenreiter unter dem (nicht mit Kafka abgesprochenen) Titel Betrachtungen (Plural) abdruckt, reagiert der junge Autor verärgert. 

Der Titel Betrachtung impliziert sowohl die optische Wahrnehmung und Beobachtung der Außenwelt als auch die Reflexion darüber. Dementsprechend finden sich in jedem der acht Prosatexte das Wortfeld des Sehens, das Wortfeld des Denkens in allen außer in Text II. Jedes einzelne der insgesamt acht Stücke ist als ein gleichberechtigter Teil eines einzigen Wahrnehmungs- bzw. Reflexionsaktes des Ich zu verstehen.

Formale Zusammenhänge 

Hinsichtlich der Gattungsbezeichnung sind Kafkas Betrachtungs-Texte in die Nähe des Prosagedichts gerückt worden, das sich im 19. Jahrhundert zu einer produktiven Gattungsform entwickelt. Zu den Merkmalen des Prosagedichts gehören Kürze der Texte sowie eine elaborierte sprachliche Gestaltung.

In der Tat lassen sich Merkmale des Prosagedichts an den Texten der Betrachtung ausmachen. Die einzelnen Texte sind nicht nur kurz (das erste Stück ist mit eineinhalb Druckseiten das längste der Betrachtung), sondern zeichnen sich auch durch eine starke sprachliche Strukturierung aus. In vier der acht Prosastücke werden die Reflexionen in Form des „wenn … dann“ bzw. „wenn … so“ vorgetragen, die die Texte sprachlich strukturiert und eine sprachliche Verbindung der einzelnen Texte untereinander schafft. Im ersten Stück heißt es: „Wenn nun am Abend eines Werketages das Geschäft gesperrt wird und ich plötzlich Stunden vor mir sehe, in denen ich für die ununterbrochenen Bedürfnisse meines Geschäftes nichts werde arbeiten können, dann wirft sich meine am Morgen weit vorausgeschickte Aufregung in mich, wie eine zurückkehrende Flut, hält es aber in mir nicht aus und ohne Ziel reißt sie mich wieder mit.“ (I, S. 91) Das vierte Stück beginnt mit den Worten: „Wenn man in der Nacht durch eine Gasse spazieren geht und ein Mann von weitem schon sichtbar […] uns entgegenläuft, so werden wir ihn nicht anpacken, selbst wenn er schwach und zerlumpt ist, selbst wenn jemand hinter ihm läuft und schreit, sondern wir werden ihn weiter laufen lassen.“ (IV, S. 92f.) Der zweite Abschnitt des vierten Stücks ist sprachlich strukturiert durch die siebenmalige Wiederholung von „vielleicht“ (IV, S. 93). In dieser Kaskade von Überlegungen sucht das Ich sein Gefühl von Verantwortung für die beiden Männer in der Vollmondnacht einzuhegen. Das fünfte und das siebente Stück beginnen ebenfalls mit einer „wenn … dann“-Konstruktion: „Oft wenn ich Kleider mit vielfachen Falten, Rüschen und Behängen sehe, die über schönen Körper schön sich legen, dann denke ich, daß sie nicht lange so erhalten bleiben […]“ (V, S. 93); „Wenn ich einem schönen Mädchen begegne und sie bitte: ‚Sei so gut, komm mit mir‘ und sie stumm vorübergeht, so meint sie damit […].“ (VII, S. 94)

Motivische Zusammenhänge 

Die Hälfte der Prosaminiaturen der Betrachtung hat die Begegnung zwischen einem Mann und einem Mädchen zum Gegenstand. Die diesen Begegnungen zugrundeliegende Erotik ist oft nur imaginiert. Im zweiten Stück beobachtet das Ich vom Fenster aus, wie auf der Straße ein Mann ein Mädchen überholt, ohne es anzusprechen oder zu berühren. Der Erzähler dramatisiert die Szene, indem er das Spiel von Licht und Schatten auf dem Gesicht des Mädchens in den Fokus rückt und zudem eine Reihe von i-Vokalen, die dem „Kind[]“ zugeordnet sind („Licht“, Gesicht des kindlichen Mädchens“), mit einer Reihe von a-Vokalen, die dem „Mann“ zugeordnet sind, kontrastiert („Schatten des Mannes“, der „rascher“ kommt; II, S. 92). Im zweiten Absatz des kurzen Textes bildet sich ein daktylischer Rhythmus heraus, der vier Mal wiederholt wird: „Klinke des Fensters“, „freilich schon sinkenden Sonne“, „kindlichen Mädchens“, „Schatten des Manens darauf“ (II, S. 92). Im sechsten Stück berichtet das Ich von der Begegnung mit einem Mädchen in der Straßenbahn, das dem Erzähler körperlich so nahekommt, dass er es detailliert beschreiben kann. Ihre Haltung ist fest, sie ist „schwarz gekleidet“, trägt einen Faltenrock und eine Bluse mit weißem Kragen. Auch ihr Gesicht kann das Ich genau erkennen, nicht nur das „braun[e]“ Gesicht und Haar, sondern auch „den ganzen Rücken der rechten Ohrmuschel und den gebogenen Schatten an der Wurzel“ (VI, S. 94). Zu einem Gespräch kommt es jedoch nicht, denn das Mädchen ist „zum Aussteigen bereit“ (VI, S. 93). Eine ähnliche Konstellation begegnet im siebenten Stück, das sich in Analogie zum sechsten lesen lässt. Hier imaginiert der Ich-Erzähler, nachdem ein „schöne[s] Mädchen“ seinen wenig galanten Versuch der Kontaktaufnahme („,Sei so gut, komm mit mir‘“; VII, S. 94) nicht erwidert hat, einen Dialog, in dem beide einander als defizitär bezichtigen (VII, S. 94) und sich sodann dafür entscheiden, weiterhin getrennte Wege zu gehen. 

Das fünfte Stück ist über die „Mädchen, die wohl schön sind“ (V, S. 93) mit der Motivreihe der Erotik verknüpft. Die Beschreibung der Mädchenkörper ist ähnlich detailliert wie im sechsten Stück: „vielfache reizende Muskeln und Knöchelchen und gespannte Haut und Massen dünner Haare“ (V, S. 93). Zugleich lässt sich mit diesem Stück eine eigene Motivreihe eröffnen, in der die einzelnen Texte über den tatsächlichen oder imaginierten Moment der (abendlichen) Heimkehr miteinander verbunden sind. Die Mädchen kommen „spät von einem Feste“ nach Hause (V, S. 93), der Kaufmann kehrt am Abend von seinem Geschäft in seine Wohnung zurück (I, S. 91), das Ich des dritten Stücks tritt von der „Gasse“ in „[s]ein Zimmer“ (III, S. 92). Jeder der beiden Männer des vierten Textes, die auf der „Gasse“ im „Vollmond“ dem Ich-Erzähler entgegenlaufen, läuft möglicherweise „auf eigene Verantwortung in sein Bett“ (IV, S. 92f.). Das bereits erwähnte siebente Stück lässt sich in diese Motivkette ebenfalls einreihen, denn die gescheiterte Kontaktaufnahme zwischen dem Erzähler und dem Mädchen endet mit den Worten: „wollen wir, nicht wahr, lieber jeder allein nach Hause gehn“ (VII, S. 94).

Dieses siebente Stück ist, ebenso wie das erste und das sechste, explizit in einer modernen städtischen Umgebung situiert. Das Ich erwidert die Zurückweisung des Mädchens mit dem Hinweis, dass es nicht in einem „Automobil“ gefahren werde (VII, S. 94). Ähnlich betritt der Kaufmann des ersten Stücks, dessen Geschäft ebenfalls in einer städtischen Umgebung situiert ist, den „Lift“, um zu seiner Wohnung zu gelangen (I, S. 91).

Im fünften Stück parallelisiert der Ich-Erzähler die nach einem Fest faltig gewordenen Kleider mit den Gesichtern der Mädchen, die nach dem Fest ebenfalls „abgenützt, gedunsen, verstaubt“ wirken (V, S. 93). Im Kompositum „Maskenanzug“ werden Kleider und Gesichter enggeführt, der Körper wird als ein „natürlicher Maskenanzug“ bezeichnet (V, S. 93). Damit ist das Thema von Schein, Erscheinung und Sein aufgerufen, das in einer eigenen Reihe durchgespielt wird. Die Begegnung mit dem eigenen Selbst erfolgt traditionell im Blick in den Spiegel. Einen solchen tun die Mädchen des fünften Stücks (V, S. 93) sowie der Geschäftsmann des ersten (I, S. 91f.). Das Thema Schein und Sein beherrscht insbesondere den letzten der Hyperion-Texte, in dem die auf die Eingangsthese – „Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee“ – folgende Explikation von einem zweifachen „scheinbar“ eingerahmt wird. Die „Baumstämme“ liegen scheinbar „glatt auf“, sodass man sie leicht „wegschieben“ können sollte, so die erste Hypothese des Textes. Doch der äußere Schein täuscht über die tatsächliche Beschaffenheit der Baumstämme hinweg. Sie lassen sich nicht einfach „wegschieben“, sodass eine zweite Hypothese aufgestellt wird, die der ersten entgegensteht: Die Baumstämme müssen „fest mit dem Boden verbunden“ sein (VIII, S. 94). Doch auch diese zweite Hypothese wird verworfen, beide Hypothesen erweisen sich also als „scheinbar“. Das Verhältnis von Schein und Sein gerät in die Schwebe. Aber: Auch wenn nicht zu entscheiden ist, ob sich die Baumstämme in einer stabilen oder in einer labilen Position befinden – einfach wegbewegen lassen sie sich nicht.

Im ersten Satz des achten Stücks werden die Baumstämme mit der conditio humana parallelisiert. Der Vergleich („wir sind wie“) überträgt die stabile bzw. labile Position der Baumstämme auf das Subjekt. Ebenso wie die Baumstämme, ist das Subjekt vorhanden und lässt sich nicht einfach negieren („wegschieben“). Analog dazu führen die einzelnen Texte der Betrachtung das Subjekt sowohl als stabiles als auch als labiles vor. Am augenfälligsten ist diese antithetische Entsprechung im dritten Stück und im sechsten. Während sich das Ich im dritten Stück durch ein übersteigertes Selbstbewusstsein auszeichnet („Meine Verdienste erscheinen mir und überwältigen mich, wenn ich mich auch nicht sträube“; III, S. 92), so leidet das Ich im sechsten Stück unter seiner Unsicherheit („Ich […] bin vollständig unsicher in Rücksicht meiner Stellung in dieser Welt, in dieser Stadt, in meiner Familie“; VI, S. 93). Der letzte der Hyperion-Texte verweist sowohl auf die Einzelstücke der Betrachtung zurück als auch auf das Ich, das die Einzelstücke zu einer übergeordneten Einheit synthetisiert.

Kafka hat also seinen eigenen Anspruch einer neo-romantischen Ästhetik, die er in der Gesamtkomposition des Hyperion vermisst, in seinem eigenen Hyperion-Beitrag eingelöst. 

 

Der Beitrag erschien zuerst im Jahrbuch 2023 des Fördervereins Freunde der Monacensia e.V. (Allitera). Abdruck (ohne Fußnoten) mit freundlicher Genehmigung.