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31.05.2024, 11:03 Uhr
Nikolai Vogel
Text & Debatte

„München-Träume“. Von Nikolai Vogel (7)

München verändert sich dauernd – eine Stadt ist lebendig. Und in einer Stadt bleibt sich aber dauernd auch vieles gleich. Manches verschwindet fast unmerklich, anderes ist schlagartig weg. Neue Realitäten entstehen – wir schauen ihnen beim Gebautwerden zu oder entdecken sie im Vorbeigehen ganz unerwartet. Wie also geht der Wandel vonstatten? Wie geht es weiter? Wie öffnet sich Zukunft? In der Fortsetzung seiner Kolumne „München-Träume“ träumt der Autor und Künstler Nikolai Vogel davon, wie die Stadt, in der er seit vielen Jahren lebt, ihn immer wieder verblüfft ...

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Stadt auf Sofas

 

Was für ein Tag! Der Himmel eine blau polierte Ewigkeit. Warm ist es, aber die Luft riecht gut und frisch und nicht nach Abgas. Kein Tag, länger in der Wohnung zu bleiben, denke ich und schließe das Fenster, aus dem ich eben rausgeschaut habe.

So haben es sich wohl andere auch gedacht! Als ich den Innenhof hinter mir habe, treffe ich auf meine Nachbarn. Sie haben ihr plüschig-violettes Sofa die Treppe runtergewuchtet und es auf den Bürgersteig gestellt, lümmeln da nun herum und schauen den sommerlichen Leuten nach. Keine Autos, wundere ich mich, denn hier ist doch fast immer Stau? Und erst jetzt sehe ich, dass auch gegenüber, auf der anderen Straßenseite Sofas stehen. Immer mehr werden es, und die Passanten helfen beim Tragen und setzen sich dann auch.

Eine befreiend entspannte Atmosphäre liegt über alledem, und alle scheinen Zeit zu haben, nichts eilt. Die Leute helfen sich mit den schweren Sitzmöbeln, aber auch Klappstühle und Hocker werden herbeigebracht, Kissen drapiert, Fußschemel untergeschoben, um es schon Sitzenden noch bequemer zu machen.

Ich schlendere in Richtung Isar. „Entschuldigung“, sagt einer, der es sich auf einem gelben Sofa bequem gemacht hat und einen Drink mit Schirmchen in der Hand hält. „Bist du so nett, ich habe die Oliven oben stehen lassen.“ Er reicht mir seinen Schlüssel, dann besinnt er sich, „ach, die Tür ist ja eh offen, dritter Stock, bei Paul. Müssten auf der Küchenanrichte stehen. Ich mach dir derweil einen Drink, die Gläser und so habe ich ja schon hier …“

Etwas verwundert stapfe ich das Treppenhaus hinauf und weiche zwei orangefarbenen Sesseln aus, die mir entgegengetragen werden. Am angegebenen Platz finde ich tatsächlich ein Schälchen mit glänzenden Oliven. Ich bin nicht allein in der Wohnung. Jemand muss in der Dusche sein, ein anderer sitzt in einem dunklen Lehnstuhl, als überlege er, ob es sich lohne, ihn hinunterzuschleppen. Ich halte ihm die Oliven hin und er nimmt eine. „Bequem, aber zu schwer“, sagt er. „Wartest du auch auf die Dusche?“ Ich schüttele den Kopf und überlege, ob ich eigentlich zu Hause abgeschlossen habe.

Wieder unten reiche ich dem auf dem gelben Sofa das Schälchen. Er bedankt sich mit Grandezza und reicht mir ein gut eingeschenktes Cocktailglas. „Moment, der Schirm fehlt noch“, sagt er, und steckt ihn an. Auf seinem Sofa sitzen jetzt links und rechts gut gelaunte ältere Herrschaften, für mich ist kein Platz mehr. „Nimm dein Glas einfach mit und stelle es dann irgendwo in eine Küche, das wird sich schon gut verteilen.“

Luftmatratzen, Federkern – und das da vorne, ja, tatsächlich, das ist wohl ein Wasserbett! Und hier der Baldachin für Schatten, Himmelbett, Isomatten, Polsterparadies. So viel Platz und so viel bequemer Platz. Auf einer geblümten Hollywood-Schaukel wird gerade einer frei und ich setze mich erleichtert.

Die ganze Stadt ist eine WG, denke ich, und will einen Schluck von meinem Drink nehmen, aber jemand hinter mir schubst zu fest an, ich schaukle wie wild und ich verschütte alles –

– und wache auf ...

 

 

Nikolai Vogel (* 1971 in München) lebt in München als Schriftsteller und bildender Künstler. Er studierte Germanistik, Philosophie und Informatik an der LMU und war Finalist beim Open Mike 2004 sowie beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2005. Darüber hinaus war er Stipendiat der Autorenwerkstatt im Literarischen Colloquium Berlin (2005), Preisträger beim Bayerischen Kunstförderpreis (2007), Projektstipendiat für Bildende Kunst der Stadt München (2008) und Gewinner im Wettbewerb „Letʼs perform Kunst im öffentlichen Raum“ des Kulturreferats München (2012). Sein 2520 Verse umfassender Gedichtband fragmente zu einem langgedicht erschien 2019 im gutleut Verlag. 2020 las er in quarantäneähnlicher Zeit 40 Tage lang seinen noch unpublizierten Roman Angst, Saurier ein und veröffentlichte die Lesungsvideos täglich auf YouTube. 2021 erschien sein Gedichtband Anthropoem, 2023 dann Eine Sprache, die sagt, dass sie außer mir ist (beide Black Ink). Ein Detail aus seinem Text Große ungeordnete Aufzählung wurde 2022 als Edition auf zehn Porzellangefäßen innerhalb von Uli Aigners One Million-Projekt erstveröffentlicht.