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Derschprom

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(c) alle Bilder: Alexander Milstein

Ab 1925 entstand in Charkiw das Derschprom, ein Gebäudekomplex, der heute als eine Ikone konstruktivistischer Architektur gilt. Am 2. Januar 2024 wurden viele seiner Buntglasfenster bei einem russischen Raketenangriff zerstört. Der aus Charkiw stammende Autor Alexander Milstein beschreibt in diesem Text, was ihn mit Derschprom verbindet.


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Ich habe in diesem Album sechs Bilder gesammelt, die auf die eine oder andere Weise das Charkiwer Derschprom widerspiegeln, das erste ist ein Wandbild, das vor ein paar Tagen irgendwie von selbst in meinem Flur direkt vor der Haustür auftauchte. Ja, ja, als ob Kavafis' Prophezeiung sich bewahrheitet hätte ... Aber was soll das, was nützt die Poesie in dieser Zeit, in der deine Stadt jeden Tag dem Erdboden gleichgemacht wird, gestern wurden einem Obus-Fahrer die Beine abgetrennt, heute (23.5.24) schlug eine Rakete in eine Druckerei ein und tötete sieben Menschen. Vielleicht ist es dieselbe Druckerei, in der einst deine verdammten Bücher gedruckt wurden, vielleicht ist es eine andere ... Das Wandgemälde erschien genau über dem Ort, an dem Schuhe platziert werden, darunter verschiedene Flip-Flops, in denen …  „die Stadt wird dir in deinen alten Flip-Flops folgen“ (eigentlich nur in Joseph Brodskys Übersetzung des Gedichts ins Russische, im Original stehen überhaupt keine Schuhe). Wie auch immer, das ist nicht der Grund, warum das Wandbild über dem Platz erschien, wo Schuhe und Pantoffeln geparkt werden … „Von selbst“ ist eine Redewendung, es erschien von selbst, es wurde von selbst gezeichnet ... eigentlich passt der Name „Ungebetener Gast“ nicht zum Wandbild, „Ungebetener Gast“ ist der Name des Projekts der Architekten Serafimov, Kravets und Felger, das 1925 den Wettbewerb gewann und zum Charkiwer Derschprom wurde. Ich dachte, dass dies nur der Anfang war, das weitere würde ich bewusst und sorgfältig, nicht wie eine Skizze auf einen Schlag ... zeichnen – alle Details, Fenster und Türen, die Schattierungen ... Aber ich habe meine Meinung geändert. Zum Teil aus Faulheit, ja, zum Teil aber auch aus Unsicherheit, ob es so nicht besser ist: bloß schwarz auf weiß ... Ich erinnerte mich an die Zeilen: „Vielleicht schien es mir irgendwann, dass Derschprom uns umgibt, dass es eine schwarze Lokomotive ist, die immer im Kreis fährt ... Nun, es ist Derschprom, es ist unser Stonehenge ... Viele Bürger von Charkiw hatten in ihrer Kindheit Angst vor ihm ...“ Das ist aus dem Roman Ewiger Student, als Nacherzählung, als Postfiction, ja, würde ich sagen, dass „viele“ eine deutliche Übertreibung war, ich habe von der Angst vor Derschprom in einer Kindheit nur von einem Charkiwer Bürger gehört, mit dem wir auf dem Weg zu oder von unserem Forschungsinstitut oft durch die Bögen von Derschprom gingen, ich selbst hatte auch als Kind nie Angst davor.

„Charkiw-Archiv“. Mit einem englischen Mark-V-Panzer aus dem Ersten Weltkrieg, der seither auf dem Platz von Charkiw steht, wo er den Zweiten Weltkrieg überlebt hat und nun den Dritten erlebt.

Als ich auf Kandinskys Murnau-Gemälde einen sehr schwarzen Zug sah, der eher wie die Charkiwer Kindereisenbahn aussah, wobei deren Züge grün waren … Aus irgendeinem Grund also erinnerte ich mich an diese Zeilen und zeichnete Derschprom in Form eines Zuges, dessen Lokomotive das Hauptpostamt ist, ein weiteres konstruktivistisches Juwel von Charkiw, es ist ein altes Bild, mit einer Maus in Paint gezeichnet.

Aber kürzlich, als Gerüchte über einen neuen Versuch der Horde, Charkiw einzunehmen, aufkamen … Ich habe das Derschprom in eine kreisförmige Festungsmauer aus Stahl verwandelt, die die ganze Stadt umkreist und bis zum Himmel reicht (nicht umsonst wurde es damals den ersten Wolkenkratzer genannt), ein Freund von mir, der jetzt drinnen ist, schrieb, dass alles in Ordnung sei, außer, dass ich Charkiw auch mit einer Kuppel bedecken könnte, was ein Schuldgefühl auslöste, zumindest auf einem Bild wäre es möglich …

Ich weiß nicht mehr, ob ich ihm ein anderes Bild dann geschickt habe: ganz München unter der Glashaube einer Straßenlaterne mit einem Schmetterling mit menschlichem Kopf auf der Außenseite, das Bild war teils von meinem Roman Pinoktiko inspiriert, in dem der Vater des Helden fliegen konnte, teils von einem Text, der von drei Autoren zusammen online geschrieben wurde, der Text war der 850-Jahr-Feier von München gewidmet, und darin gab es diese durchsichtige Kuppel über der Stadt, die ganze Handlung basierte darauf, die Kuppel kurz davor war zu zerreißen, und sie bestand aus einer Substanz, die von Raupen produziert wurde, die zu Beginn der neuen Zivilisation in der Isar lebten, ja, so wildes Zeug kam mir in den Sinn, zusammen mit der Legende, dass, wenn man das Derschprom von oben betrachtete, es sich in die erste musikalische Zeile der Internationale verwandelte.

Ich hörte diese Legende von der „Architektur als gefrorene Musik“ mit meinen eigenen Ohren von einem ehrenwerten, wenn auch etwas verrückten Dozenten an der mathematischen Fakultät, Sergei Iwanowitsch Wowna, dessen Krücken wie Flügel aussahen, wenn er mitten in der Vorlesung, während er auf dem Tisch saß, mit ihnen schlug. Ich habe das Innere von Derschprom nur dreimal besucht, und ich erinnere mich an jedes dieser Male gut.

Das erste Mal. Ich studierte noch an der Fakultät für Mathematik und ging also den sechsten Stock der Universität entlang, als ich von Studenten aus einem ganz anderen Stockwerk angesprochen wurde. Studenten aus der Abteilung für Psychologie der Biologischen Fakultät. Sie baten mich liebevoll, an einem Experiment teilzunehmen, das sie an Menschen durchführten. Sie brauchten es für eine Diplomarbeit, die sie gemeinsam schreiben wollten. Sie versicherten mir, dass das Experiment vollkommen sicher und harmlos sei. Vielleicht habe ich gerade deshalb zugestimmt, weil sich ihr Labor nicht in der Uni befand, sondern nebenan – im Derschprom. Das Experiment bestand darin, einen riesigen Test zu beantworten, Hunderte von Fragen. Und gleichzeitig wurden Drähte an die Finger meiner linken Hand angeschlossen mit Hilfe einer Art Wäscheklammern, und der Hautwiderstand wurde ständig gemessen, das ist alles, ich vergaß bald diese Wäscheklammern … Sie waren besonders daran interessiert, die Messwerte der Sensoren zu beobachten und sogar aufzuzeichnen, als ich in einer der Testaufgaben aufgefordert wurde, ein Rätsel zu lösen – über einen Hotelgast, der seinen einwöchigen Aufenthalt mit den Gliedern einer Goldkette bezahlen muss, die nur sieben Glieder hat und die er nur an zwei Stellen aufsägen darf. Ironischerweise war es dasselbe Rätsel, das ich im Alter von 14 Jahren gelöst hatte, als ich in die „Schule für Kybernetik“ eintrat, einen Klub des Palastes der Pioniere, d. h. in einem Gebäude auf demselben Platz, nur gegen den Uhrzeigersinn, nicht im Uhrzeigersinn, wie Derschprom, wenn man von der Universität aus geht. Und während des Tests erinnerte ich mich eher an meine Lösung, als dass ich sie noch einmal löste, so dass der Wert meines Hautwiderstandes zum Zeitpunkt der Lösung der Aufgabe nicht genau war ... Das Experiment war also nicht ganz sauber, aber ich sagte es den Psychologiestudenten nicht, ich ging nicht auf solche Details ein, ihre Augen leuchteten auf, als sie auf ihre Strommesser schauten. Ich meine, es war nicht gerade ein Lügendetektor, aber etwas in der Art, etwas zwischen einem Lügendetektor und dem IQ-Test, den es damals noch nicht gab, oder ich hatte noch nie davon gehört. Am Ende lasen sie mir sogar mein Porträt, das auf der Grundlage des Tests geschrieben worden war, und sie benutzten die Konzepte der mathematischen Analyse dabei ... So schloss sich dieser Kreis, es ist klar, dass ich, obwohl ich Derschprom besuchte, so beschäftigt war, dass ich mich danach an nichts von seinem Inneren erinnerte. Aber das zweite Mal, etwa 15 bis 20 Jahre später, hatte ich dort absolut nichts zu tun, ich begleitete nur eine Freundin, die dort ins Büro ging, und ich blieb im Korridor, spazierte zum Treppenhaus und sah einen Besen im Fenster. Ja, ja, ein Besen, der auf dem Dach eines benachbarten Turmteils von Derschprom lag, der offensichtlich niedriger war als der, in dem ich mich befand. Das amüsierte meine Freundin sehr, als sie aus dem langweiligen Büro kam, und eine Zeit lang drehte sich unser Gespräch um diesen Besen, den sie natürlich nach dem letzten Flug dort vergessen hatte usw. Als wir uns einige Jahre danach trennten, erinnerte ich mich an diesen Besen und zeichnete mit meiner Maus eine Skizze, auf das ich „meine (h)ex...“ schrieb. Das war in dem Album „Mit der Maus durchs Gedächtnis“, wo es außer dieser Zeichnung nur Gesichter gab, an die ich mich erinnern konnte, ich hielt es nicht für Malerei. Als ich anfing, bewusst zu zeichnen, als ich zu den Pinseln überging, zeichnete ich eine andere Hexe auf einem Besenstiel, der dort allerdings eher einem Pinsel gleicht, es gibt auch den Dozenten S. I. Wowna, der Wolken mit Krücken-Pinseln malte. Aber zurück zu Derschprom. Zum dritten Mal besuchte ich es im Jahr 2018. Ich kann mich nicht mehr an den Tag erinnern, aber es war definitiv im März. Man könnte auch den Tag angeben – es war der vor der Eröffnung meiner Ausstellung in der Städtischen Galerie von Charkiw. Es war das längste Interview meines Lebens, es wurde auf dem ersten Kanal des Charkiwer Fernsehens ausgestrahlt, ich habe die Ausstrahlung verpasst, ich korrespondierte mit der Moderatorin, die mir versprach, das Video zu bekommen, es irgendwo zu posten, es irgendwie zu schicken oder zu teilen. Und plötzlich schrieb sie, dass das jetzt nicht mehr möglich sei, weil sie ihren Job gewechselt hatte, zu einem anderen Sender geflogen war und jetzt keinen Zugang mehr zu diesem Archiv hatte. Ich war nicht allzu enttäuscht, wer weiß, was für einen Unsinn ich abgesondert hatte ... Nun, das dritte Mal sah ich also das Fernsehstudio in Derschprom, es war ziemlich geräumig und es war so angenehm dunkel, ich wurde nicht von Scheinwerfern oder etwas Ähnlichem geblendet, ich weiß nicht mehr, was die Kosmetikerin mit mir gemacht hat, ich glaube, es war nichts, aber vielleicht hat sie meine Stirn ein wenig abgetupft. Wenn ich das als Prosa schreiben würde, würde ich mich hier wahrscheinlich nicht zurückhalten und sagen, dass die Studenten der Psychologie vierzig Jahre vor diesem Interview, meine Finger mit medizinischem Alkohol abgewischt haben, wie vor einer Blutentnahme, bevor sie die Klemmen an die Drähte anschlossen, die mich bis heute mit Derschprom verbinden.

Charkiw in den sechziger Jahren. Der erste von links ist mein Vater.