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P-insel

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Alle Bilder © Alexander Milstein

Der 1963 in Charkiw geborene Schriftsteller und bildende Künstler Alexander Milstein lebt seit 1995 in München. Nach dem Studium der Mathematik beginnt er 1988 zu schreiben. Seitdem hat er acht Bücher mit Prosa veröffentlicht, die Hälfte davon in Russland und die andere Hälfte in der Ukraine, wo 2017 das Buch Pyatipol erscheint, in dem neben Texten erstmals Bilder des Autors zu sehen sind. Seine Geschichten werden auch in der Süddeutschen Zeitung und der Zeitschrift Der Freund veröffentlicht. 2017 nimmt er an Eine Brücke aus Papier in Kijiw teil. 2023 illustriert Milstein den Band Durch die Zeiten und trägt außerdem einen Text dazu bei. Seine Malerei bezieht sich teilweise auf seine literarischen Werke. Er zeigt sie in Ausstellungen und fügt sie seit Pjatipol auch in seine Bücher ein.

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P-insel

Ein Mann lief den ganzen Tag mit einer leeren Kamera durch die Stadt und schaute sich alles durch den Sucher an. Er ließ sich so sehr auf dieses Prozedere ein, dass Jahre über Jahre vergingen, und er lief weiter mit der Kamera, in der kein Film war, durch die Stadt, bis er eines Tages merkte, dass er die Kamera nicht mehr brauchte. Er sah jetzt ohnehin alles wie durch den Sucher. Zumindest gab es solch ein Gleichnis in Charkiw. „Mein Leben wird zu einer Insel. Eine Asphaltinsel mit Kreidebrocken. Ein Zufluchtsort der Sehnsucht und der Wut. In einer Kette meiner Schwarzweiß-Bilder ...“ – schrieb ich, als ich vierzehn war. „Bilder“ stand dort nur zur Verschönerung, ich habe überhaupt nichts gezeichnet oder gemalt, und jetzt scheint es zum Stand der Dinge zu passen, nur Acryl statt Asphalt. ... Was wird es morgen alles geben? Es gibt bereits Ameisenhaufen aus Acryl. Seit meiner Kindheit weiß ich, dass es Acrylpullover gibt, ich habe selbst welche getragen, aber ich wusste nicht, dass alles um mich herum aus Acryl sein könnte. Bis ich mich vor zwei Jahren auf einer Acrylinsel niederließ. In diesem „Shorts“-Punkt wollte ich nicht über Farben, sondern über Pinsel schreiben, denn es gibt bereits einen Punkt über Farben in Shorts – „Klassenkameraden / Mannaschaft“.

Als ich anfing zu malen, habe ich mehrere Jahre lang keine Pinsel angefasst. Am Anfang lief eine Maus über das Papier (ich benutzte die Zeitschrift „Nove Mistetsvo“, d.h. „Neue Kunst”, als Mauspad, sie hatte ein großes Format). Durch ihren Schwanz (ich hatte eine Kabelmaus) liefen Signale, und Bilder erschienen auf dem Bildschirm, aber ich sah meine Hand nicht und hatte das Gefühl, dass die Bilder von selbst entstanden. Ich dachte daran, meine erste Ausstellung „Next to Brain Painting“ zu nennen, bis mir ein besserer Name einfiel: „Rays and Other Letters“. Dann zeichnete ich eines Tages, wie ich es in meiner Kindheit beim Blick in den Spiegel getan hatte, mein Selbstporträt mit einem Füller auf Papier, und da war es. Einige meiner Freunde drängten mich, für immer bei der Maus zu bleiben, sie meinten, dass das Zeichnen mit der Maus etwas „Einzigartiges“ sei und dass ich mich mit dem Kugelschreiber etwas Gewöhnliches tun würde. Andere hingegen begrüßten den Wechsel auf jede erdenkliche Weise. Und so war es dann jedes Mal, wenn ich das Medium wechselte: die einen drängten mich, es nicht zu tun, die anderen ... aber es gab nach wie vor nur wenige solcher Wechsel: Maus – Stift – Pastellkreiden – Pinsel. 

Ich ging eine Straße unweit des Rotkreuzplatzes entlang und sah einen Pinsel auf der Fahrbahn, auf der ich ging, es war kein Verkehr zu der Zeit. Ich bückte mich, hob ihn auf, er war klein und anscheinend sehr alt, die Borsten waren kurz und hart, die verknickte Zwinge war lose, wie das Griffbrett einer überfahrenen Gitarre, die dennoch gespielt werden kann und sogar mit zusätzlichen Effekten, ähnlich wie ein Delay-Pedal der E-Gitarren. Also, irgendwie stochern ... Nicht Pointilismus, sondern „Methode des Stocherns“, es gab so eine Methode in ungefähren Berechnungen, in angewandter Mathe ... Die Zwinge war nicht ganz locker, nur ein bisschen ... was die Borsten angeht, wusste ich nicht, ob sie so sein sollten oder durch Gebrauch so geworden waren, es gibt verschiedene Pinsel, in der Tat, das war alles, was ich über sie wusste, dass man viele und verschiedene braucht, als mich jemand fragte, warum ich nicht versuchte, mit einem Pinsel zu malen, sagte ich, dass ich nicht einmal wusste, welche Seite man benützen müsste.

Ich erinnere mich jetzt, dass der Auslöser für meine Erinnerung an einen Zwischenfall beim Friseur ein Kommentar von Yuri Leiderman zu diesem Bild von mir war – er schrieb, dass man Pinsel mit Feuer glätten kann. Ich habe das nicht gewusst. Ja, ich wurde einmal in einem Friseursalon buchstäblich angezündet. Wahrscheinlich wissen viel mehr Leute, dass Friseure die Haare ihrer Kunden absengen, als dass Künstler Pinsel mithilfe von Feuer trimmen, und warum sie es tun. Ich wusste es nicht, wahrscheinlich auch, weil ich mich sehr selten in Friseursalons rasiert habe. Und als ich plötzlich in Flammen aufging, ich meine, der Teil von mir, der nicht vom Laken bedeckt war, erschrak ich, ich glaube, ich schrie etwas, der Friseur lachte, und das Feuer erlosch so schnell, dass man hätte denken können, ich hätte halluziniert und wäre in Trance gefallen, weil ich das Glitzern der Rasierklinge betrachtete, die dort in einem Bilderrahmen hing wie eine Uhr mit Zeigern aus Klinge und Scheide, sie zeigte halb sechs ... wenn da nicht dieser Geruch von verbrannten Haaren oder gerupften Hühnerfedern gewesen wäre. Der Barbier sagte, so würden die Schläfen getrimmt. Wahrscheinlich wird das nur in einigen östlichen Ländern gemacht, ich habe es nicht nachgeschlagen, ich habe mich nur daran erinnert, und ja, der Barbier war aus dem Irak, und ich habe noch nicht versucht, den Pinsel so zu trimmen. Ich ging in das Atelier von Thomas, um mein Porträt eine Woche, nachdem er es gemalt hatte, abzuholen, etwa so lange wie Ölfarbe trocknet, meinte er. Er hatte mir zuvor gesagt, dass Öl sehr lange zum Trocknen braucht und auf einigen Gemälden Van Goghs bis heute die Farbe in den unteren Schichten nicht getrocknet ist. Thomas kam mir mürrisch entgegen und verkündete, er sei zu dem Schluss gekommen, dass das Porträt misslungen sei und er es für besser halte, es zu zerstören. Vernichten. „Es ist also weg?“, fragte ich. „Nein, ich habe es noch nicht getan.“ „Wie wäre es, wenn du es dann zerstörst und ich diesen Prozess auf Video aufnehme”, sagte ich, „das wäre eine Performance.“ Thomas zögerte. „Lass uns erst folgendes machen”, sagte er. „Du wolltest doch selbst einmal Ölfarben ausprobieren, nicht wahr? Hier, ich gebe dir jetzt alles und du probierst es.“ Thomas packte die grundierte Leinwand aus, gab mir die Farben, den Pinsel und das Terpentin. Ich dachte darüber nach. Ich malte sonst nur mit der Maus am Computer oder mit dem Stift auf Papier, Pastellfarben kamen etwas später, Acrylfarben überhaupt erst nach zwei Jahren. Ich beschloss, ein Remake des Bildes aus meinem Roman Analoge Maschinen zu malen, in dem Sosnowski die Schwester des Zollbeamten sieht, der ihn aus dem Zug geholt hat, vor dem Hintergrund einer Reminiszenz an einen Traum aus seiner frühen Kindheit, in dem ein schwarzer Yeti um ein Feuer tanzte und Funken sein schwarzes Fell versengten. Thomas hat sich nicht in meinen ersten Versuch eingemischt, stattdessen holte er irgendwo eine große Kamera hervor und begann, im Atelier herumzulaufen und den Malprozess zu fotografieren. Nur als ich fertig war, sagte er, ich hätte den Pinsel so oft in Lösungsmittel getaucht, dass das Gras eher nach Aquarell als nach Öl aussah. Trotzdem ist es Öl, und es ist immer noch das einzige Ölbild, das ich gemalt habe. Ich nannte es natürlich „Meine erste Berührung mit der Malerei“.

Ich kehrte zu dem Pinsel zurück, den ich auf der Fahrbahn gesehen hatte, holte ihn an und begann, damit in die Luft zu tupfen. Ich umriss die Konturen von Bäumen, Fenstern, Wolken sowie einiger Passanten. Seitdem habe ich immer den Pinsel dabei, führe ihn durch die Luft und sehe Häuser und Straßenbahnen, Wolken und Berge mit einer leichten Verzögerung um mich herum erscheinen ... Usw.? Nein, ich werde kein Gleichnis über einen Pinsel weiterschreiben, der keine Oberflächen braucht. Es ist wahr, dass mir die Handlung ein wenig leid tut, denn der Pinsel hatte mit seinem anderen Ende bereits eine Figur geschaffen. Tatsächlich hob ich ihn auf, schaute mich um, als suchte ich jemanden, der ihn achtlos weggeworfen hatte wie eine Kamera ohne Film. Aber die Figur war bereits verschwunden. Ich bemerkte gelbe Luftballons, die in Büscheln über einem Eingang hingen. Mir fiel ein, was sie bedeuteten: Es ist Tag der offenen Tür im ganzen Viertel. Überall, wo die gelben Luftballons hängen, befindet sich ein offenes Atelier. Ich ging hinein und fragte, ob sie einen Pinsel verloren hätten.