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Gedanken zum 75. Todestag Klaus Manns: „Vergittertes Fenster“ – Ludwig II. als einsame bayerische Legende

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Klaus Mann, Foto von Annemarie Schwarzenbach, 1933

Er war hochbegabt, vielseitig, ruhelos und selbstzerstörerisch: Am 21. Mai 1949, vor genau 75 Jahren, starb der als zweites Kind von Thomas und Katia Mann in München geborene Schriftsteller Klaus Mann. Schon früh verarbeitete Klaus Mann Themen, die damals als Tabubruch galten, und meldete sich gegen den Faschismus zu Wort. 1938 ging er ins amerikanische Exil und nahm 1943 die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Erst die durch seine Schwester Erika postum besorgte Neuausgabe seiner Werke sorgte für seine nachträgliche Anerkennung als einer der wichtigsten Repräsentanten der deutschsprachigen Exilliteratur.

Bereits 1937 unterbrach Klaus Mann seine Arbeit am Roman Vulkan und schrieb die Novelle Vergittertes Fenster über den Tod König Ludwigs II. Julia Hagmeyer hat sich den Entstehungszusammenhang der Novelle für uns genauer angesehen. 

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31. Dezember 1937: „Der letzte Tag dieses Jahres. Was hat es gebracht? […] ‚Vergittertes Fenster‘ (Das ich ja sehr mag.) Viele Aufsätze und Vorträge. Material, Bruchstücke und den ganzen Plan zum nächsten Roman. Politik: Kriegs-Jahr? Vor-Kriegs-Jahr? – Beides. – Katastrophal.“[1]

Ende 1937 ist Klaus Mann seit 5 Jahren im europäischen Exil. Er hat 1933 die literarische Exil-Zeitschrift Die Sammlung gegründet und über 2 Jahre mit unermüdlichem Arbeitspensum, diplomatischem Geschick sowie profunder Kenntnis des literarischen Feldes geleitet. Als Mitbewohner und Freund unterstützte er Fritz Landshoff beim Aufbau der für die literarischen Emigranten zentralen Exil-Abteilung des Querido-Verlages in Amsterdam.

Mann nimmt die Welt als freischwebender Intellektueller wahr, er denkt und schreibt unabhängig. Sein Lebensthema ist die Synthese von Moral und Schönheit, Politik und Kunst.

Er ist bereits in den 1920er-Jahren durch literarische Wachheit und unermüdliche Produktivität in Erscheinung getreten. Mit seinem ersten Roman Der fromme Tanz, der ersten Autobiographie Kind dieser Zeit, Theaterkritiken und Theaterstücken hat er sich in der Weimarer Republik einen Namen gemacht. Damals wie heute gelingt das Spiel, das Private öffentlich zu machen und der Öffentlichkeit einen Blick ins Private zu bieten. So vieles wird in Literatur verarbeitet, dass manches, was Literatur ist, vom Publikum als Leben begriffen wird.

Dieser Intellektuelle ist 1937 müde, die politische und private Perspektive ist düster. Sein Konsum von Suchtmitteln hat Züge angenommen, die sein Leben mehr und mehr bestimmen. In den Tagebucheinträgen aus dieser Zeit nimmt die Beschäftigung mit der Droge immer breiteren Raum ein. Zeitgleich entdeckt Mann eine historische Figur, mit der er sich beschäftigen möchte: König Ludwig II. von Bayern.

14. März 1937: Durch die Rezension eines Buches über Ludwig II. von Bayern – angeregt: eine Ludwig-Novelle zu machen. 60 Seiten lang. Analyse der Romantik. Eros. Rausch und Untergang. Das Ende in Starnberg. Da liessen sich grosse Reize finden…

Klaus Mann hat seine Kindheit in und um München verbracht, er kennt die Legende, die Schlösser und die Musik Wagners. Mann notiert weiter im Tagebuch:

17. März 1937: Geträumt: dass ich plötzlich gar keine Vorderzähne mehr hätte. Gefühl des nackten, empfindlichen Zahnfleisches. Sehr schrecklich. - - „Ich, der König“: Biographie von Fritz Linde über Ludwig II. Angefangen, zu lesen und exzerpieren – vormittags, nachmittags und nachts. Ausserdem [sic!] Glasenapps „Leben Wagners.“ Der Stoff reizt mich…

Klaus Mann wird zu dieser Zeit in Wien mit Dr. Robert Klopstock bekannt gemacht – mutmaßlich wegen seiner offensichtlichen Drogensucht. Klopstock ist Arzt und Literaturliebhaber und seit 1921 so eng mit Franz Kafka befreundet, dass er diesen bis zu dessen Tod ärztlich betreute.[2] Klaus Mann schreibt am 17. Mai 1937:

Besuch von Dr. Klopstock (in dessen Armen Franz Kafka gestorben ist…) Unterhaltung und Beratung wegen der Entwöhnung…

10 Tage später beginnt der Entzug:

27. Mai: Sanatorium „Siesta“ (Budapest), Und nun also soll diese „Entwöhnungskur“ starten -: sie wird auch vorübergehen. Das Sanatorium, sehr Krankenhaus-artig. Klopstock, und zwei andere Ärzte. Krankenschwestern, eine speziell für mich. Ein Zimmer mit vergitterten Fenstern… Ich stelle Photos auf […] Eine recht melancholische Komödie, das Ganze…

Theaterliebhaber, der er ist, hat Mann auch in dieser Situation den Blick für das dramatische Element und das „vergitterte Fenster“ wird der Novelle über König Ludwig ihren Namen geben, wie er am 30. Juli im Tagebuch festhält.

Im kurz vor der Novelle abgeschlossenen Essay Ludwig II., König der Bayern schildert Mann König Ludwig II. als beim Volk beliebten, durch politische Intrigen gestürzten Förderer der Kunst – verklärt und verkitscht. Dann dekonstruiert Mann diese Legende: Er fokussiert auf realpolitische Umstände und skizziert Ludwig II. im Gegensatz zu Wilhelm II. Ohne politisches Interesse zieht sich Ludwig aus der Öffentlichkeit zurück und vereinsamt. Mann interessiert sich für die Verbindung von Künstlertum, Leid und Einsamkeit an Ludwig II. als Figur.[3]

Strukturell beginnt die Novelle Vergittertes Fenster[4] mit dem unterhörten Ereignis: Ein König wird seiner Freiheit beraubt: „Es ist der König!“ sagten die Diener, und sie erschraken alle bis ins Innerste.“ (VF 45)

Mann schildert die letzten Tage Ludwigs II. und lässt ihn im Hausarrest auf Schloss Berg auf sein Leben zurückblicken. Erzählerisch wechselt Mann zwischen der Außenperspektive der Rahmenhandlung und dem inneren Monolog Ludwigs. Im Raum mit dem vergitterten Fenster reflektiert Ludwig seinen Widerwillen gegen die Entwicklungen der Moderne, den Verlust der Freundschaft Richard Wagners, die Unmöglichkeit einer erfüllten Liebesbeziehung. Er steht als Monarch einsam überhöht und ist zudem durch seine homosexuelle Neigung isoliert:

je suis le Roy, und ich bin es nicht gewöhnt, zu betteln, sondern zu befehlen. Ach, was rede ich da, Herr Du mein Gott! […] Ich bin gar kein König. Von allen Elenden dieser Erde ist keiner so elend wie ich. Ich habe alles falsch gemacht. Mein ganzes Leben ist ein einziger Irrtum gewesen. Ich bereue jeden Tag, den ich gelebt habe. […] Mein Fleisch war schwach, und ich habe abscheuliche Sünden begangen. Ich habe geliebt, wie man nicht lieben darf: Dies vor allem bereue ich. (VF 64)

Mit seiner Cousine Elisabeth inszeniert er eine religiöse Form von Geschwisterliebe:

Nach dem Stirnkuß und der Verneigung – den edlen Riten unserer unerfüllbaren, heiligen Liebe – blieb und nicht mehr viel zu tun. […] Übers Jahr, meine Schwester – übers Jahr, mein Bruder, sehen wir uns wieder! Der Fürst von Mitternacht war der Einsamkeit geweiht wie eine Nonne dem Dienst des Herren. (VF 62)

Die zur Verbindung von Lohengrin und Elsa künstlerisch stilisierte Verlobung mit Elisabeths Schwester Sophie wird unglücklich gelöst. Es bleibt die Hoffnung, durch das Leiden als Buße im Tod Erlösung zu finden.

Den Tod sucht Ludwig im Starnberger See, nicht ohne Dr. Gudden mit in den Tod zu reißen. In der Sterbeszene vermischen sich für Klaus Mann typisch Eros und Tod, wenn der Künstler-König und der Vertreter der modernen Wissenschaft ertrinken: „Der König und der Gelehrte sanken ineinander verschlungen, ineinander verkrampft, wie ein sich liebendes Paar.“ (VF 89). Im letzten Teil der Rahmenhandlung kommt Elisabeth nach Berg und verabschiedet sich in Trauer:

Im Faltenwurf ihres Mantels, das leidvolle Antlitz verklärt, gleicht sie einer Statue des Schmerzes – einer Mater Dolorosa gleicht Elisabeth […] Über das Kissen, auf dem sein Haupt ruht, fällt ihr dunkles, reiches, kostbares Haar wie ein schöner Regen. (VF 98)

Der Regen ist, bevor er sich hier in Elisabeths Haar personifiziert, zugleich Ärgernis, Sinnbild für die Isolation und Anker in die Realität:

Der Diener, den die lyrischen Bemerkungen über die Rosen und Schwäne verlegen machte, bemerkte: „Es regnet immer noch, Majestät.“ (VF 81).

Mann strukturiert die Novelle mit diesem Motiv. Ludwig klagt wiederholt: „Wenn dieser Regen doch einen Augenblick aufhören wollte zu rauschen! Cette pluie! Cette pluie horrible!“ (VF 55)

Elisabeth ist eine für Mann typische Frauenfigur, sie vereint Askese, christliche Enthaltsamkeit und verbotenes Begehren in einer Geschwister-Konstellation. Dieser Typ findet sich bereits in seinem ersten Theaterstück Anja und Esther. Wenn Klaus Mann am 4. Juni in sein Tagebuch notiert, er habe geträumt, seine Schwester Erika hätte sich erschossen und er dürfe nun auch sterben, tangieren sich Leben und Kunst, wenn Klaus Mann den letzten Abschnitt der Novelle, der fremdkörperartig wirkt, zuerst schreibt: „29. Juni 1937: „Arbeit am ‚Vergittertes Fenster.‘ (Zunächst die letzte Scene – Elisabeth an der Leiche – geschrieben.)“

Die relevanten Forschungsansätze zu Vergittertes Fenster finden sich in der großen Schriftenreihe von Fredric Kroll[5] und in der konzentrierten Biographie von Uwe Naumann[6].

Kroll lenkt den Blick auf die offen politischen Anteile und stellt die Verbindung zu einer katholisch-monarchistischen Revolution in Bayern als Weg aus dem Nationalsozialismus her (KMS 4.2, S. 931). Zudem erarbeitet Kroll die Deutung, dass Ludwig II. als „Repräsentant des unpolitischen deutschen Geistes, von einem skrupellosen Machtapparat gefangen genommen“ wird (KMS 4.2, S 932) – der unpolitische deutsche Geist ist nicht mehr lebensfähig. Ludwig II. passt nicht in seine Zeit, sondern sehnt sich in ein vergangenes „in ein anderes, schöneres Jahrhundert – in ein Grand Siècle“ (VF 58). Er ahmt das Königtum Ludwig XIV. nach und wird in der Novelle vor die Wahl zwischen konkreter Politik und Tod gestellt.

Die Figur des leidenden Außenseiters, des ästhetischen Helden findet sich häufig in Manns Werk – früh interessiert er sich für Kaspar-Hauser, es folgt Alexander. Für Naumann ist die Homosexualität der Figuren der Ausgangspunkt ihrer Einsamkeit, denn, um Mann zu zitieren:

Man huldigt nicht diesem Eros, ohne zum Fremden zu werden in unserer Gesellschaft, wie sie nun einmal ist; man verschreibt sich nicht dieser Liebe, ohne eine tödliche Wunde davonzutragen.[7]

Es ist jedoch verfehlt, Mann als thematisches Interesse alleine Sexualität zu unterstellen, wie es Teile der älteren Forschung tun.[8] Naumann nimmt Mann als einen Autor ernst, der politische und gesellschaftliche Entwicklungen literarisch verarbeitet. So stellt er fest, dass bereits die Beschäftigung mit Tschaikowsky in Symphonie Pathétique als Plädoyer für Toleranz durch aktuelle Entwicklungen motiviert war: Die progressive Familien- und Sexualpolitik der Sowjetunion der 1920er-Jahre wurde zurückgenommen und machte einer restriktiven Moral Platz. In Deutschland verschärfte sich die Homosexuellenverfolgung nach dem Röhm-Putsch. Hinzukam, dass in Emigrantenkreisen Homosexualität als eine Erklärung für den Erfolg des Faschismus diskutiert wurde. Mann stellt sich dem entgegen – er verfasst mit Homosexualität und Faschismus und Die Linke und das Laster Essays, in denen er Stellung bezieht. Künstlerisch verarbeitet er das Thema in Symphonie Pathéthique und Vergittertes Fenster, in dem er empathisch Einsamkeit und Leid der Protagonisten zeigt.[9]

Beide Forschungsansätze stützen die Bedeutung Manns als politischem Intellektuellen und Schriftsteller, der in seinem Werk die Verbindung von Moral und Schönheit, von Politik und Kunst thematisiert. Vergittertes Fenster ist eine Essenz der Themen und Motive, die Klaus Manns Werk bestimmen.

Mann lebt nach Vergittertes Fenster noch 12 Jahre. Er schreibt die großen Exilwerke Der Vulkan und Der Wendepunkt. Er wird amerikanischer Staatsbürger und tritt als Soldat aktiv in die amerikanische Armee ein. Er hat Pläne und Gedanken für eine Integration der Emigranten in Deutschland, für die Re-Education der Deutschen – doch die Essays wurden nicht publiziert, die Reden nicht gehalten. Die Jahre der Emigration, seine unstete Art zu leben, hatten ihn Kraft gekostet, die Entwicklungen der Nachkriegszeit ihn enttäuscht. Im Kulturbetrieb konnte er nicht mehr Fuß fassen.

Im posthum veröffentlichten Essay Die Heimsuchung des europäischen Geistes ringt Mann mit der Frage, wie die Intellektuellen ihre Aufgabe der Kritik im Spannungsfeld zwischen Kapitalismus und Kommunismus erfüllen können. Resigniert zieht er den hoffnungslosen Schluss, dass ein kollektiver Selbstmord der Intellektuellen nötig sei:

Hunderte, ja Tausende von Intellektuellen sollten tun, was Virginia Woolf, Ernst Toller, Stefan Zweig und Jan Masaryk getan haben. Eine Selbstmordwelle, die hervorragendsten, gefeiertsten Geister zum Opfer fielen, würde die Völker aufschrecken aus ihrer Lethargie, so daß die den tödlichen Ernst der Heimsuchung begriffen, die der Mensch über sich gebracht hat durch seine Dummheit und Selbstsucht. […] Der absoluten Verzweiflung sollten wir uns überlassen. Nur das wäre ehrlich und nur das könnte helfen.[10]

In den Wochen vor seinem Tod ist sein Gesundheits- und Gemütszustand angegriffen und er bringt erneut einen Entzug hinter sich. Das Wetter ist schlecht und er notiert 3. Mai 1949 im Tagebuch: „Regen… (das Wetter ist ungefähr so grauenvoll wie mein moralischer und körperlicher Zustand…)“ Am 21. Mai 1949 stirbt Klaus Mann an den Folgen einer Überdosis in Cannes.

 

[1] Alle Zitate aus den Tagebüchern entstammen der Tagebuchedition von Joachim Heimannsberg in 6 Bänden, hier: Mann, Klaus: Tagebücher 1936-1937. Reinbek bei Hamburg 1995; zitiert wird mit dem Datum der Eintragung.

[2] Kafkas letzter Freund. Der Nachlaß Robert Klopstock (1899-1972). Bearbeitet von Christopher Frey und Martin Peche, herausgegeben von Hugo Wertscherek. Wien 2003, S. 85-90.

[3] Mann, Klaus: Ludwig II., König der Bayern. In: Ders.: Das Wunder von Madrid. Aufsätze, Reden, Kritiken 1936-1938, S. 202-212.

[4] Mann, Klaus: Vergittertes Fenster. In: Ders.: Speed. Die Erzählungen aus dem Exil. Reinbek bei Hamburg 2003, S. 45-98. Im Folgenden zitiert mit der Sigle VF.

[5] Kroll, Fredric: Klaus Mann Schriftenreihe. Band 4: 1933-1937 Repräsentant des Exils. Teilband 2: 1935-1937: Im Zeichen der Volksfront. Hamburg 2006. Im Folgenden zitiert mit der Sigle KMS 4.2.

[6] Naumann, Uwe: Klaus Mann. Reinbek bei Hamburg 2006.

[7] Mann, Klaus: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 466.

[8] Vgl. Wolfram, Susanne: Die tödliche Wunde. Über die Untrennbarkeit von Tod und Eros im Werk von Klaus Mann. Frankfurt am Main 1986; Härle, Gerhard: Männerweiblichkeit. Zur Homosexualität bei Klaus und Thomas Mann. Frankfurt am Main 1988.

[9] Naumann: Klaus Mann, S. 81-86.

[10] Mann: Heimsuchung des europäischen Geistes. In: Mann: Auf verlorenem Posten. Aufsätze, Reden, Kritiken 1942-1949. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 523-542, hier S. 542.