Pfitscher Joch
Ein schüchtern wirkender junger Erzähler, sein Bruder, eine junge Frau vom Zirkus und ein Elefant – mehr braucht der Münchner Autor Bernhard Keller nicht, um in dieser kurzen Erzählung ein ganz eigenes magisches Theater zu inszenieren. Keller, der 2023 verstarb, wäre am heutigen 4. April 2024 63 Jahre alt geworden. Der Text „Pfitscher Joch“ erschien zuerst 2017 in der Zeitschrift die horen, Ausgabe 266.
*
Ich hatte Angst. Immer. Nur nicht, wenn ich mit meinem großen Bruder Dodo zusammen war.
Seit zwei Jahren studierte er in Berlin, ich lebte hier unten mit unserem Vater. Der rief abends an und sagte:
Ich muss noch arbeiten. Oder: Ich muss heute Nacht bei Nina, Andrea, Sabine etc. bleiben, verstehst du.
Mein Vater war unbrauchbar, seit Mama verschwunden war.
Dodo schickte eine Postkarte: Hab Lust auf den Berliner Höhenweg. Wir machen ein paar Gipfel, wie früher.
Ich war glücklich.
Ihr wollt auf die Hütte?, fragte unser Vater, als wir ihn um den Schlüssel baten. Ihr könnt den Taunus haben. Gruß an die Lechners.
Manchmal behauptete Dodo, unser Vater sei gar nicht unser Vater.
Unsere Hütte im hinteren Zillertal. Alles wie früher, sagte Dodo, als wir sie mit dem schwarzen Schlüssel aufsperrten.
Er war noch größer geworden, unserem Vater noch ähnlicher. Haare bis zu den Schultern. Mit einem Arm hob er mich hoch und sagte: Wir wissen überhaupt nicht, wer wir sind, Bruder.
Er baute eine Tüte.
Das ist der Türöffner, hab keine Angst.
Ich bekam kaum etwas in die Lunge, spürte nichts. Dodos Augen fingen an sich zu drehen.
Wir fuhren nach Finkenberg, einkaufen.
Am Abend fuhr Dodo noch einmal hin und kehrte erst spät in der Nacht mit einem Mädchen zurück. Ein Zirkusmädchen. Ich gab ihr kurz die Hand, dann verschwanden die beiden im Heuboden.
Es war keine gute Nacht. Die Geräusche, die mein Bruder und das Mädchen von sich gaben, vertrieben mich. Ich lief in den Wald, aber die Geräusche folgten mir. Ich verbarg mich hinter einem Baum, aber die Geräusche fanden mich.
Als ich am nächsten Morgen hungrig zur Hütte zurückkehrte, kroch das Mädchen gerade nackt aus der Luke des Heubodens und machte komische Übungen.
Die Hand meines Bruders zog sie nach innen und es ging wieder los mit den Geräuschen.
Sie hieß Aastha. Aus Mumbai. Indien, sagte Dodo beim Frühstück, das Land der Erleuchtung. Wieder drehten sich seine Augen. Aastha sagte nichts.
Ich fahre sie zurück zum Zirkus, komm mit.
Es ging um einen Babyelefanten. Aastha war seine Ersatzmama. Sie und der kleine Elefant machten lustige Sachen im Zirkus, traten auf als Mann und Frau verkleidet und Aastha turnte auf dem Rücken des Elefanten.
Die nächsten zwei Tage verbrachten wir bei den Zirkusleuten. Auch Aasthas schwarze Augen rotierten, nur in die andere Richtung.
Du kennst doch die Geschichte von dem Römer, der mit den Elefanten über die Alpen zog.
Kein Römer.
Egal, sagte mein Bruder. Römer, Grieche, Inder, ganz egal.
Wir machen was Verrücktes, Bruder.
Aastha küsste mich auf den Mund: We need you.
Der Plan war, den Elefanten mit dem Hänger bis zum Stausee hochzufahren und ihn dort auszuladen. Bei Sonnenaufgang würden wir das Pfitscher Joch überschreiten. Bevor jemand was bemerken würde, hätten wir den Elefanten wieder runter zum Zirkus gebracht.
Der Traktor der Lechners stand immer im Schuppen am Engerwald.
Hey, kleiner Bruder, mach dir keine Sorgen, sagte Dodo, wir machen es wie die Römer: Wir überqueren mit dem Elefanten die Alpen.
Es waren nicht die Römer.
Du bist zu genau, Bruder, sagte Dodo. Aasthas Onkel ist ein Guru, er sagt: Die Wahrheit liegt im Ungenauen, genau dort!
Solche Sätze machten mir Angst, aber in der Nacht, in der es losging, machten sie mir keine Angst. Dodo ließ mich eine fingernagelgroße Folie mit einer Micky-Maus-Figur ablecken und ich wurde mutig. Aastha küsste mich wieder auf den Mund und ich küsste zurück.
Ich fuhr den Traktor.
In der Dunkelheit der Wiese, zu der Aastha ihn gebracht hatte, sah der Elefant noch kleiner aus als im Manegenlicht. Sie führte ihn am Ohr auf den Hänger hinauf, er atmete tief, als würde er schlafen.
Aber seine Augen waren offen. Schwarze Augen, schwärzer als die Nacht. Er sah mich zärtlich an und seine Augen drehten sich langsam. Nach jeder Umdrehung legten sie eine kurze Pause ein. Wie die Sekundenzeiger der Bahnhofsuhren.
Der Lärm des Traktors hüllte uns ein.
Aastha hielt die ganze Fahrt über das Ohr des kleinen Elefanten, immer wenn ich mich umdrehte, lächelte sie. Mein Bruder auf dem Blechsitz über mir schwieg, manchmal stöhnte er, wie unser Vater immer stöhnte, wenn es im nicht gut ging.
Dann erreichten wir die Staumauer. Größer, breiter, höher als der Himmel. Wunderschön. Ein riesiger Schlund, der uns mit vollkommener Schwärze empfing. Ich spürte mein Herz laut schlagen, und die Staumauer warf das Echo meines Herzschlags zu mir zurück. Die Schlucht, zu der hin sie abfiel, verlor sich im Unendlichen; von dort kamen wir her.
Etwas kitzelte mich im Genick. Es war der Rüssel des Elefanten.
He likes you, rief Aastha.
Noch nie hatte mich ein Tier gemocht, dachte ich. Und dann dachte ich an meinen Vater.
Nach ein paar steilen Kehren erreichten wir den schmalen Parkplatz, der ein Stück am Stausee entlang verlief.
Die Sterne spiegelten sich im schwarzblauen Wasser des unbewegten Sees. Nach Süden hin öffneten sich die Berge, Richtung Joch wurde es heller. Der Himmel hatte seine Flügel aufgespannt.
Bebte dort hinten der Große Möseler?
Mir ist schlecht, rief Dodo, ich hab Angst, Bruder! Er sprang vom Traktor und stürzte. Rappelte sich auf, fuchtelte mit den Armen, schlug sich mit beiden Händen. Brüllte. Mit weit aufgerissenem Mund stolperte er vor den Traktor. Ich bremste. Der Traktor machte einen Sprung, der Motor starb ab, der Hänger schob von hinten, fing an zu schlingern und kippte zur Seite.
Ich spürte einen weichen Schlag am Hinterkopf, drehte mich um und sah den Elefanten rücklings über die Steinmauer in den See rollen. Ganesha, rief Aastha, die es irgendwie geschafft hatte, auf die Seitenwand des Hängers zu klettern.
Ich blickte zum See, eine flach gewölbte Blase stieg auf. Ich lief los. Dodo kreuzte auf allen Vieren meinen Weg. Ich winkte ihm. Seine Lippe war blutig.
Aastha weinte.
Bald hörte ich nur noch meinen Atem. Das letzte Stück zum Joch ging steil bergauf, dann passierte ich den Felsbrocken auf dem ein Pfeil nach Venedig wies. Der Sonnenaufgang war, als würde ein Schleier gelüftet. Ich überschritt die Grenze und ging immer weiter.
Cover der Zeitschrift die horen (Ausgabe 266) © Wallstein Verlag
Pfitscher Joch>
Ein schüchtern wirkender junger Erzähler, sein Bruder, eine junge Frau vom Zirkus und ein Elefant – mehr braucht der Münchner Autor Bernhard Keller nicht, um in dieser kurzen Erzählung ein ganz eigenes magisches Theater zu inszenieren. Keller, der 2023 verstarb, wäre am heutigen 4. April 2024 63 Jahre alt geworden. Der Text „Pfitscher Joch“ erschien zuerst 2017 in der Zeitschrift die horen, Ausgabe 266.
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Ich hatte Angst. Immer. Nur nicht, wenn ich mit meinem großen Bruder Dodo zusammen war.
Seit zwei Jahren studierte er in Berlin, ich lebte hier unten mit unserem Vater. Der rief abends an und sagte:
Ich muss noch arbeiten. Oder: Ich muss heute Nacht bei Nina, Andrea, Sabine etc. bleiben, verstehst du.
Mein Vater war unbrauchbar, seit Mama verschwunden war.
Dodo schickte eine Postkarte: Hab Lust auf den Berliner Höhenweg. Wir machen ein paar Gipfel, wie früher.
Ich war glücklich.
Ihr wollt auf die Hütte?, fragte unser Vater, als wir ihn um den Schlüssel baten. Ihr könnt den Taunus haben. Gruß an die Lechners.
Manchmal behauptete Dodo, unser Vater sei gar nicht unser Vater.
Unsere Hütte im hinteren Zillertal. Alles wie früher, sagte Dodo, als wir sie mit dem schwarzen Schlüssel aufsperrten.
Er war noch größer geworden, unserem Vater noch ähnlicher. Haare bis zu den Schultern. Mit einem Arm hob er mich hoch und sagte: Wir wissen überhaupt nicht, wer wir sind, Bruder.
Er baute eine Tüte.
Das ist der Türöffner, hab keine Angst.
Ich bekam kaum etwas in die Lunge, spürte nichts. Dodos Augen fingen an sich zu drehen.
Wir fuhren nach Finkenberg, einkaufen.
Am Abend fuhr Dodo noch einmal hin und kehrte erst spät in der Nacht mit einem Mädchen zurück. Ein Zirkusmädchen. Ich gab ihr kurz die Hand, dann verschwanden die beiden im Heuboden.
Es war keine gute Nacht. Die Geräusche, die mein Bruder und das Mädchen von sich gaben, vertrieben mich. Ich lief in den Wald, aber die Geräusche folgten mir. Ich verbarg mich hinter einem Baum, aber die Geräusche fanden mich.
Als ich am nächsten Morgen hungrig zur Hütte zurückkehrte, kroch das Mädchen gerade nackt aus der Luke des Heubodens und machte komische Übungen.
Die Hand meines Bruders zog sie nach innen und es ging wieder los mit den Geräuschen.
Sie hieß Aastha. Aus Mumbai. Indien, sagte Dodo beim Frühstück, das Land der Erleuchtung. Wieder drehten sich seine Augen. Aastha sagte nichts.
Ich fahre sie zurück zum Zirkus, komm mit.
Es ging um einen Babyelefanten. Aastha war seine Ersatzmama. Sie und der kleine Elefant machten lustige Sachen im Zirkus, traten auf als Mann und Frau verkleidet und Aastha turnte auf dem Rücken des Elefanten.
Die nächsten zwei Tage verbrachten wir bei den Zirkusleuten. Auch Aasthas schwarze Augen rotierten, nur in die andere Richtung.
Du kennst doch die Geschichte von dem Römer, der mit den Elefanten über die Alpen zog.
Kein Römer.
Egal, sagte mein Bruder. Römer, Grieche, Inder, ganz egal.
Wir machen was Verrücktes, Bruder.
Aastha küsste mich auf den Mund: We need you.
Der Plan war, den Elefanten mit dem Hänger bis zum Stausee hochzufahren und ihn dort auszuladen. Bei Sonnenaufgang würden wir das Pfitscher Joch überschreiten. Bevor jemand was bemerken würde, hätten wir den Elefanten wieder runter zum Zirkus gebracht.
Der Traktor der Lechners stand immer im Schuppen am Engerwald.
Hey, kleiner Bruder, mach dir keine Sorgen, sagte Dodo, wir machen es wie die Römer: Wir überqueren mit dem Elefanten die Alpen.
Es waren nicht die Römer.
Du bist zu genau, Bruder, sagte Dodo. Aasthas Onkel ist ein Guru, er sagt: Die Wahrheit liegt im Ungenauen, genau dort!
Solche Sätze machten mir Angst, aber in der Nacht, in der es losging, machten sie mir keine Angst. Dodo ließ mich eine fingernagelgroße Folie mit einer Micky-Maus-Figur ablecken und ich wurde mutig. Aastha küsste mich wieder auf den Mund und ich küsste zurück.
Ich fuhr den Traktor.
In der Dunkelheit der Wiese, zu der Aastha ihn gebracht hatte, sah der Elefant noch kleiner aus als im Manegenlicht. Sie führte ihn am Ohr auf den Hänger hinauf, er atmete tief, als würde er schlafen.
Aber seine Augen waren offen. Schwarze Augen, schwärzer als die Nacht. Er sah mich zärtlich an und seine Augen drehten sich langsam. Nach jeder Umdrehung legten sie eine kurze Pause ein. Wie die Sekundenzeiger der Bahnhofsuhren.
Der Lärm des Traktors hüllte uns ein.
Aastha hielt die ganze Fahrt über das Ohr des kleinen Elefanten, immer wenn ich mich umdrehte, lächelte sie. Mein Bruder auf dem Blechsitz über mir schwieg, manchmal stöhnte er, wie unser Vater immer stöhnte, wenn es im nicht gut ging.
Dann erreichten wir die Staumauer. Größer, breiter, höher als der Himmel. Wunderschön. Ein riesiger Schlund, der uns mit vollkommener Schwärze empfing. Ich spürte mein Herz laut schlagen, und die Staumauer warf das Echo meines Herzschlags zu mir zurück. Die Schlucht, zu der hin sie abfiel, verlor sich im Unendlichen; von dort kamen wir her.
Etwas kitzelte mich im Genick. Es war der Rüssel des Elefanten.
He likes you, rief Aastha.
Noch nie hatte mich ein Tier gemocht, dachte ich. Und dann dachte ich an meinen Vater.
Nach ein paar steilen Kehren erreichten wir den schmalen Parkplatz, der ein Stück am Stausee entlang verlief.
Die Sterne spiegelten sich im schwarzblauen Wasser des unbewegten Sees. Nach Süden hin öffneten sich die Berge, Richtung Joch wurde es heller. Der Himmel hatte seine Flügel aufgespannt.
Bebte dort hinten der Große Möseler?
Mir ist schlecht, rief Dodo, ich hab Angst, Bruder! Er sprang vom Traktor und stürzte. Rappelte sich auf, fuchtelte mit den Armen, schlug sich mit beiden Händen. Brüllte. Mit weit aufgerissenem Mund stolperte er vor den Traktor. Ich bremste. Der Traktor machte einen Sprung, der Motor starb ab, der Hänger schob von hinten, fing an zu schlingern und kippte zur Seite.
Ich spürte einen weichen Schlag am Hinterkopf, drehte mich um und sah den Elefanten rücklings über die Steinmauer in den See rollen. Ganesha, rief Aastha, die es irgendwie geschafft hatte, auf die Seitenwand des Hängers zu klettern.
Ich blickte zum See, eine flach gewölbte Blase stieg auf. Ich lief los. Dodo kreuzte auf allen Vieren meinen Weg. Ich winkte ihm. Seine Lippe war blutig.
Aastha weinte.
Bald hörte ich nur noch meinen Atem. Das letzte Stück zum Joch ging steil bergauf, dann passierte ich den Felsbrocken auf dem ein Pfeil nach Venedig wies. Der Sonnenaufgang war, als würde ein Schleier gelüftet. Ich überschritt die Grenze und ging immer weiter.
Cover der Zeitschrift die horen (Ausgabe 266) © Wallstein Verlag