„Blackouts, Kant und der vitruvianische Mensch“. Von Andrej Krasnjaschtschich

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Leonardo da Vinci: Der vitruvianische Mensch, ca. 1490 Feder und Tinte auf Papier

Der Schriftsteller und Literaturkritiker Andrej Krasnjaschtschich wurde 1970 in Poltawa, Ukraine, geboren und wuchs in Charkiw auf. Nach dem Studium an der dortigen Philologischen Fakultät wurde er mit einer Arbeit über Ulysses von James Joyce promoviert und arbeitete als außerordentlicher Professor. Bedingt durch den Krieg zog er mit seiner Familie 2022 zurück nach Poltawa. Krasnjaschtschich war Teilnehmer bei „Eine Brücke aus Papier“ in Weimar 2022, mit ihm führte das Literaturportal Bayern außerdem ein Interview.

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„Juri, anbei mein neuer Text – zum Thema Blackout.
Schau ihn dir an, wenn du Zeit hast.“
„Du meinst wohl: ‚… wenn du wieder Licht hast.‘

 

Bei uns beginnt das neue Jahr schon im November. Am Black Friday. Überall locken einen Geschäfte mit Rabattaktionen, Weihnachtsstimmung und Festschmuck. Sie sind voller Erwartung. Und wir auch.

Was wir dieses Jahr erwarten: Stromausfälle, Raketen­einschläge, Zeiten ohne Wasser, Internet und Mobilfunk. Einmal wöchentlich werden wir beschossen – dann versinkt die Ukraine in Finsternis und Schwermut.

Kerzenschein ist alles, was wir haben. Und der ist brandgefährlich. Kerzen musst du im Auge behalten, damit nicht deine Wohnung abfackelt. Deine jetzige Wohnung, denn viele von uns haben ihre erste Wohnung ja schon verloren und leben jetzt irgendwo anders, ist evakuiert worden – so wie wir, von Charkiw nach Poltawa.

Was hilft, sind die batteriebetriebenen Lichterketten, die es rund um den Jahreswechsel immer gibt. Eigentlich sind sie als Wohnungsdekor und für den Neujahrsbaum gedacht, aber jetzt spenden sie mit ihren LEDs lange Zeit Licht. Uns wird auch ohne Blackout der Saft abgedreht, denn es kommt immer wieder zu Engpässen. Zweimal vier, dreimal sechs. Oder auch außerplanmäßig, als Notabschaltung. Es kann jeden Augenblick passieren.

Die billigen chinesischen Neujahrslichter haben uns lange vor dem Black Friday in Neujahrsstimmung versetzt. In unseren dunklen Büros, den dunklen Hauseingängen, den dunklen Wohnungen sind sie die einzige Lichtquelle. Du kannst noch so depressiv sein, ein Blick auf diese Lichterketten, und du denkst sofort an ein Fest. An Geschenke, die du kaufen musst. An die Verwandten, mit denen du – hoffentlich – gemeinsam feiern wirst. Und schon gehst du mit ganz anderen Gedanken, mit neuen Plänen weiter.

Im Zimmer meiner Tochter Nadja leuchtet eine Lichterkette die ganze Nacht hindurch. Sie vertreibt die Erinnerungen an den düsteren Keller von Charkiw und die Verdunkelungen, wenn wir bei ausgeschaltetem Licht zu Hause sitzen mussten, um nicht beschossen zu werden. Damals bekam Nadja zum ersten Mal Angst vor der Dunkelheit.

Ich weiß, wie das ist. Obwohl ich damals gar nicht bei Nadja war, sondern bei meinen Eltern. Zwar nicht besonders weit weg, aber eben auch nicht in Nadjas Nähe. Lena, meine Frau, sagt, Nadja sei damals launisch geworden. Reizbar. Unhöflich. Sie wollte mit niemandem sprechen. Nichts spielen. Schloss sich in ihrem Zimmer ein und ließ niemanden herein. Wollte nichts essen. Hielt unsere Katze fest, wollte sie nicht loslassen, obwohl sie ständig miaute.

Beim ersten Blackout – da waren wir schon in Poltawa – habe ich dann selbst erlebt, wie Nadja sich in ihrem Zimmer einschloss, unter die Decke kroch und weinte. Auch diesmal hatte sie die Katze mit ins Zimmer genommen. Also haben wir diese Lichterketten angeschafft. Nadja liebt das Neujahrsfest. Wie wir alle.

Wenn man frühmorgens, noch im Dunkeln, auf die Straße schaut, sieht man lauter rote, blaue, grüne, orangefarbene Fenster. Sie leuchten. Schwach, aber festlich.

 

Viermal zwei. In diesen Intervallen gibt es Strom. Zum Beispiel: von zehn bis zwölf, vier bis sechs, noch mal von zehn bis zwölf – und dann wieder nachts. Aber nachts willst du ja schlafen. Da geht dann zum Beispiel um drei das Licht an und der Staubsaugerroboter verkündet: „Starte Saugvorgang“. Keine Lust aufzustehen, morgen ist ein langer Tag. Aber gleichzeitig willst du nichts verpassen – das Internet läuft ja nur, wenn Strom da ist. Mal wieder im Warmen rauchen, unter der Dunstabzugshaube in der Küche, statt auf dem Balkon. Geschirrspülen bei Licht. Den Wasserkocher und die Töpfe mit Wasser füllen. Bei Stromausfall kommt nämlich oft kein Wasser mehr. Und wenn doch, dann nur als ganz dünner Strahl, kalt und rostig.

Das Telefon aufladen, etwas schreiben.

Du willst auch nicht gerade dann einkaufen gehen, wenn Strom da ist. Das wäre eine Verschwendung der kostbaren „Zeit des Lichts“. Bloß: Die meisten Supermärkte haben bei Stromausfall geschlossen. Wenn es für eine Apotheke genügt, einen Notstromgenerator anzuwerfen, braucht ein Supermarkt gleich mehrere davon. Da ist es ist einfacher, den Supermarkt zu schließen.

Eine Waschmaschine laufen lassen. Sich waschen. Sich rasieren. Sich vor dem Spiegel kämmen, sich selbst dabei ansehen. Arbeiten.

Staub saugen. Anschließend Küche, Bad und Flur putzen. Schuhe putzen. Arbeiten.

In zwei Stunden schafft man eine Menge. Aber es bleibt noch viel übrig für die nächsten zwei Stromstunden, die vier Stunden später kommen – sofern es keine Verzögerung gibt.

Und dann wieder: beeil dich, mach schnell. Wie in Charkiw, als wir dauernd unter Beschuss standen. Bloß nichts auf später verschieben. Denn dann ist es vielleicht zu spät. Oder ganz vorbei.

 

Wir haben jetzt neue Gewohnheiten. Automatismen. Sobald das Licht ausgeht, alles raus aus den Steckdosen. Damit nichts durchbrennt, wenn sie den Strom wieder einschalten – wegen der plötzlichen Spannungsdifferenz. Die Badewanne immer voll halten. Als Reserve. Nach dem Pinkeln erst prüfen, ob noch Wasser aus dem Hahn kommt. Wenn nicht, dann nicht spülen. Das Spülkastenwasser brauchst du vielleicht noch.

Sobald das Licht wieder geht, alles schnell einstecken. Vor allem die Telefone und die Powerbank.

 

Der Kühlschrank hält diesen Viermal-zwei-Rhythmus nicht aus. Die Lebensmittel verderben schnell. Wir müssen an ihnen riechen. Mein Geruchssinn ist seit drei Jahren hinüber, die Schleimhäute ausgetrocknet vom Nasenspray, also übernimmt Nadja das Riechen. Ihre Nase ist jetzt meine Nase. Manchmal sagt sie nicht: „Igitt“, sondern: „Für dich noch in Ordnung.“ Ich werfe Essen nur sehr ungern weg, also frage ich jedes Mal: „Für mich noch in Ordnung?“

 

Lena: „Meine neue Daunenjacke hab ich mir noch gar nicht richtig angeschaut – ist ja seit gestern alles dunkel. Die Nägel hab ich mir auch machen lassen, aber keine Ahnung, wie die jetzt aussehen."

 

Man schickt einander jetzt Lifehacks: wie man aus zwei Batterien, einer LED und einer Nadel eine Taschenlampe bastelt oder eine Kerze aus Kartoffeln, Streichhölzern und Sonnenblumenöl. Wie man sein Handy ohne Netzstrom und Powerbank auflädt.

 

Es soll ja so wiederaufladbare Superlampen geben. Die bei Stromausfall noch gut vier Stunden weiterleuchten, und auch noch richtig hell. Im „Awrora“ kosteten die zweihundertfünfzig Hrywnja, im „Epizentr“ vierhundert, im „Allo“ siebenhundert­fünfzig. Wir könnten sie bei AliExpress bestellen. Dann kämen sie wahrscheinlich gegen Ende des Krieges an.

 

Um zwei sollte das Licht wieder angehen. Ist es aber nicht. Ich warte und warte. All meine Pläne gehen nach und nach den Bach runter. Ich kann nichts tun außer warten. Sämtliche Pläne hängen am Strom.

Über oder unter uns spielt jemand Klavier. Jemand hat eine Beschäftigung gefunden. Ich sitze und höre zu. Jemand hat eine Beschäftigung gefunden – und ich auch.

 

Was macht man bei völliger Dunkelheit ohne Internet? Mit der Tochter reden. Die Katze streicheln. Weich, geschmeidig reagiert sie auf meine Berührungen, schnurrt. Darauf warten, dass meine Frau von der Arbeit nach Hause kommt. All das aufschreiben.

Die Tochter kommt von selbst, will reden. Kein Internet.

Ein Vorteil: Die Stromrechnung am Monatsende ist niedriger. Und die Wasserrechnung auch.

Noch ein Vorteil: Frühmorgens, wenn es noch dunkel ist, rauchst du auf dem Balkon. Nicht unter der Abzugshaube in der Küche. Es ist kalt, aber du kannst die Sterne sehen. Lange her. In einer erleuchteten Stadt siehst du keine Sterne.

Immer wenn ich Sterne sehe, denke ich an Kant. „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Kant denkt hier, glaube ich, darüber nach, wie das zusammenhängt, kalt und heiß. Aber ich habe nie begriffen, nicht einmal in sowjetischer Zeit, wie Königsberg und Russland zusammenhängen, deutsches und polnisches Territorium. Jetzt begreife ich das. Und auch das ist ein Vorteil.

Der Gedanke geht weiter, und ich kehre zurück ins dunkle Zimmer: Es ist kalt.

 

Gestern hatten wir wieder mal Glück: Wir wurden nicht bombardiert. Also warten wir heute darauf, mit genug Wasservorrat und aufgeladenen Telefonen. Wenn ein Raketenangriff das Stromnetz trifft, fallen auch die Mobilfunkmasten aus: kein Netz, kein Internet. Du fällst aus dem Leben, weißt nicht, was genau passiert ist, wie kritisch das alles ist. Das einzige, was dich beruhigt, sind Nachrichten, sogar schlechte. Als könntest du den Lauf der Dinge beeinflussen, wenn du Bescheid weißt.

„Beeinflussen“ trifft es nicht genau. Eher schon „stabilisieren“. Wie der vitruvianische Mensch, diese berühmte Zeichnung von Leonardo da Vinci. Der nackte Mann mit dem konzentrierten Gesicht stemmt vier Arme und vier Beine gegen den Rand der Zeichnung, als wollte er sie festhalten, damit sie nicht umkippt. Ich muss oft an ihn denken, wenn ich über mich nachdenke. Ich glaube nämlich, dass ich süchtig nach Nachrichten bin. Mehrere Stunden am Tag muss ich die News checken. Aus Angst, etwas zu verpassen. Ich wache auf und lese als Erstes die Nachrichten. Und dann jede weitere freie Minute. Ich weiß, es ist neurotisch, aber ich kann nicht anders. Und ich will auch nicht. Denn so bleibe ich in das Geschehen eingebunden, wie der Vitruvianische Mann in den Rahmen der Zeichnung. Auch er spürt ihren Druck.

 

Hat man in Russland wirklich erwartet, dass wir anfangen, ihren Präsidenten, die Armee, das Land zu beschimpfen? Mir jedenfalls ist nichts dergleichen untergekommen. Ich höre immer nur „Scheiß-Russen“ – in allen möglichen Varianten. Auch ich selbst habe das nicht nur einmal gesagt, wenn mitten in meiner Online-Vorlesung der Strom ausfiel. Oder neulich, in einem Geschäft: Ich hatte schon ewig an der Kasse angestanden, und dann, genau in dem Moment, als ich dran war, musste ich den Einkaufswagen stehenlassen und das Geschäft gemeinsam mit allen anderen verlassen. Oder als sich die Dunstabzugshaube genau in dem Moment ausschaltete, als ich eine rauchen wollte. Oder als ich gerade mein Mittagessen in der Mikrowelle aufwärmen wollte. Oder zehn, fünfzehn, zwanzig Minuten lang zusah, wie das Internet lud, sich das Ding endlos drehte, ohne dass irgendwas vorwärtsging. Oder darauf wartete, dass um vier Uhr wie geplant das Licht wieder anging, sich aber dann weder um fünf nach vier, noch um zehn nach vier, noch um fünf Uhr irgendwas regte – sondern erst um kurz nach sechs. Was bedeutete, dass sie wieder mal zwei Abschalt-Schichten zusammengelegt hatten, weil in irgendeinem anderen Stadtteil etwas passiert war – „Scheiß-Russen“.

 

Im Dunkeln trete ich manchmal auf unsere Katze. Inzwischen reagiert sie nicht mehr beleidigt, sondern weicht einfach aus. Sie zeigt Verständnis. Trete ich ihr nicht auf den Schwanz, sondern auf die Pfote, verschwindet sie in ihrer Transportbox und schaut von dort heraus. Es liegt kein Vorwurf in ihrem Blick, und doch brauche ich einige Zeit, bis meine Schuldgefühle vergehen.

Manchmal grollt sie missmutig in der Dunkelheit, „Scheiß-Russen“ glaube ich da zu vernehmen. In allen möglichen Varianten.

Katzen sehen im Dunkeln gut. Auch wir haben unseren Tastsinn inzwischen trainiert. Im Dunkeln sind die „Scheiß-Russen“ gut zu erkennen.

 

Um „Licht“ (bei uns ein allgemein gebräuchlicher Begriff für Elektrizität) ging es in diesem Krieg schon vor den Blackouts. Bereits kurz nach dem russischen Überfall hat Präsident Selenskyj gesagt: „Die Ukrainer sind Krieger des Lichts.“ Damals erschien mir das zu pathetisch, zu esoterisch. Selenskyj hat es dann noch ein paar Mal in verschiedenen Zusammenhängen wiederholt. Erst kürzlich hat er unseren Soldaten in Bachmut ein „Licht im Innern“ gewünscht.

 

Hin und wieder, wenn auch eher selten, kommt es vor, dass eine für vier Uhr geplante Stromabschaltung nicht stattfindet. Dass der Zeitplan umgestellt wird und man uns erst um sechs Uhr den Saft abdreht.

„Wäre toll, wenn sie mal überhaupt nicht abschalten würden“‘, sagt Nadja. „Wenigstens eine Woche lang.“

„Ja, das wäre toll“, sage ich. „Aber um sechs Uhr gehen die Lichter aus.“

 

Was uns am Ende des Krieges bleiben wird? Taschenlampen, Batterien und Powerbanks fürs ganze Leben. Angst vor Flugzeugen, engen Räumen und Russen – auch das fürs ganze Leben.

 

In der Silvesternacht schenken wir allen Taschenlampen und Powerbanks. Und Lichterketten. Man kann nie zu viel davon haben.

 

Der berühmte russische Schriftsteller Michail Bulgakow, der einst in Kiew lebte, die Vorstellung von einer unabhängigen Ukraine aber heftig ablehnte, ist jetzt natürlich nicht gerade angesagt. Ich selbst mag seine Werke nicht besonders. Aber da ist dieser rätselhafte Satz in seinem Roman Meister und Margarita: „Er hat das Licht nicht verdient, er hat Frieden verdient.“ Meine alte Freundin Ljudotschka, die jetzt bei Lwiw lebt, hat sich neulich an diesen Satz erinnert. Als wir einander einen guten Tag und „viel Licht“ (das heißt, viel Strom) wünschten. Wir alle haben es verdient.

Und Frieden natürlich auch.

 

(Poltawa, im Winter 2022/2023)

 

Aus dem Russischen von David Drevs