Auszug aus dem Theaterstück „Marieluise. Ein Bericht“ von Kerstin Specht
„Eine Enkelin der Fleißer, diese Kerstin Specht“ schrieb die FAZ. Die Enkelin hat ihre Vorfahrin in einem großen Monodrama gewürdigt. Marieluise. Ein Bericht wird am 22. Februar 2024 anlässlich des 50. Todestages von Marieluise Fleißer am Münchner Residenztheater in einer szenischen Lesung mit Hanna Schygulla wiederaufgeführt. Zur Einstimmung gewährt das Literaturportal Bayern einen kleinen Einblick in das Stück.
*
Fasching
Fasching in Schwabing
das ist doch eine Gelegenheit
eine andere zu werden
Seeräuber
Kapitäne
Luft- und Wasserschlangen
treiben um mich herum
Ich bin eine Meerjungfrau
auf den Schultern eines Tritonen
Der Triton ist Bruno Frank
Ich bin eine Meerjungfrau
auf dem Schoß von Lion Feuchtwanger
Tanzen Sie
fragt Feuchtwanger
Sie darf den Boden nicht berühren
sagt Bruno Frank
Sie ist eingenäht
Man muss sie auf Händen tragen
Feuchtwanger streicht
über den grauen Fischschwanz
der aus meiner Uniform aus der Klosterschule
genäht ist
Tanzen Sie
frage ich Feuchtwanger
Nein
sagt er
ich bin ein Dichter
der sich nur auf dem Papier elegant bewegt
Darf ich Ihnen meine Manuskripte bringen
frage ich
Er nickt
und schon am anderen Tag
stehe ich vor seiner Wohnungstür
mit einem stechenden Schmerz
in den Beinen
und all meinen Texten unter dem Arm
Es bleibt nicht ohne Folgen
»Krampf«
sagt Feuchtwanger
»Expressionistischer Krampf«
Mit zweiundzwanzig darf man das noch
Aber am 23. November
ist mein Geburtstag
da ist die Feuertaufe
Was bleibt übrig
Nichts
Fast nichts hat Bestand
nichts leistet Widerstand
alles fliegt wie von selbst
ins Feuer
alles
Vaters Hochzeitsanzeige auch
dabei habe ich gar nichts dagegen
dass meine Stiefmutter so alt ist
wie ich
Und hier warten schon
die Briefe vom Apachen
»Meine liebe Lu
ich habe vieles an dir gutzu...
Mein kleines Kind
ich reise bald nach Deutschland
Ich habe vieles an dir gutzu...«
Zu spät
Die Buchstaben brennen
Alle seufzen noch ein klein wenig
bevor sie sich dem Feuer ergeben
Kleine Brandwunden
kleine Brandflecken
herrlich
immer nackt und neu anzufangen
Ich brenne mich
aber es ist herrlich
Der Schreibtisch fängt Feuer
aber es ist herrlich
Ich liebe das Feuer
ich bin kein Fräulein aus Papier
Aber bevor alles zu Asche wird
geht die Tür auf
und ein Mädchen kommt herein
Aus ihrer Schürze kullern
Äpfel
Brote
Kaffeebohnen
Mich schickt der Feuchtwanger
sagt sie
und Theaterkarten hab ich auch
Links: Lion Feuchtwanger, 1933. Rechts: Bruno Frank, 1934.
Gerettet
Gerettet und ins nächste Feuer geschickt
ins Trommelfeuer
Die Karten sind für
»Trommeln in der Nacht«
Nach dem Theater
laufe ich stundenlang
in der eisigen Nacht herum
und schillere in allen Farben
Ja den will ich kennen
der das geschrieben hat
Er arbeitet mit dem Feuchtwanger
sie sitzen in verrauchten Zimmern
und sind nicht zu sprechen
Endlich werde ich ihm vorgestellt
Das ist der Brecht
Er ist das Kommende
auch wenn das Staatstheater
sein Stück aus dem Spielplan genommen hat
sagt der Lion
Egal
sagt der Brecht
bis die Tantiemen ankommen
sind sie keinen Hosenknopf mehr wert
Die Schauspieler
die täglich ihr Geld bekommen
rennen schnell in die Läden
weil am Nachmittag ist es schon wertlos
sagt der Lion
Auszug aus dem Theaterstück „Marieluise. Ein Bericht“ von Kerstin Specht>
„Eine Enkelin der Fleißer, diese Kerstin Specht“ schrieb die FAZ. Die Enkelin hat ihre Vorfahrin in einem großen Monodrama gewürdigt. Marieluise. Ein Bericht wird am 22. Februar 2024 anlässlich des 50. Todestages von Marieluise Fleißer am Münchner Residenztheater in einer szenischen Lesung mit Hanna Schygulla wiederaufgeführt. Zur Einstimmung gewährt das Literaturportal Bayern einen kleinen Einblick in das Stück.
*
Fasching
Fasching in Schwabing
das ist doch eine Gelegenheit
eine andere zu werden
Seeräuber
Kapitäne
Luft- und Wasserschlangen
treiben um mich herum
Ich bin eine Meerjungfrau
auf den Schultern eines Tritonen
Der Triton ist Bruno Frank
Ich bin eine Meerjungfrau
auf dem Schoß von Lion Feuchtwanger
Tanzen Sie
fragt Feuchtwanger
Sie darf den Boden nicht berühren
sagt Bruno Frank
Sie ist eingenäht
Man muss sie auf Händen tragen
Feuchtwanger streicht
über den grauen Fischschwanz
der aus meiner Uniform aus der Klosterschule
genäht ist
Tanzen Sie
frage ich Feuchtwanger
Nein
sagt er
ich bin ein Dichter
der sich nur auf dem Papier elegant bewegt
Darf ich Ihnen meine Manuskripte bringen
frage ich
Er nickt
und schon am anderen Tag
stehe ich vor seiner Wohnungstür
mit einem stechenden Schmerz
in den Beinen
und all meinen Texten unter dem Arm
Es bleibt nicht ohne Folgen
»Krampf«
sagt Feuchtwanger
»Expressionistischer Krampf«
Mit zweiundzwanzig darf man das noch
Aber am 23. November
ist mein Geburtstag
da ist die Feuertaufe
Was bleibt übrig
Nichts
Fast nichts hat Bestand
nichts leistet Widerstand
alles fliegt wie von selbst
ins Feuer
alles
Vaters Hochzeitsanzeige auch
dabei habe ich gar nichts dagegen
dass meine Stiefmutter so alt ist
wie ich
Und hier warten schon
die Briefe vom Apachen
»Meine liebe Lu
ich habe vieles an dir gutzu...
Mein kleines Kind
ich reise bald nach Deutschland
Ich habe vieles an dir gutzu...«
Zu spät
Die Buchstaben brennen
Alle seufzen noch ein klein wenig
bevor sie sich dem Feuer ergeben
Kleine Brandwunden
kleine Brandflecken
herrlich
immer nackt und neu anzufangen
Ich brenne mich
aber es ist herrlich
Der Schreibtisch fängt Feuer
aber es ist herrlich
Ich liebe das Feuer
ich bin kein Fräulein aus Papier
Aber bevor alles zu Asche wird
geht die Tür auf
und ein Mädchen kommt herein
Aus ihrer Schürze kullern
Äpfel
Brote
Kaffeebohnen
Mich schickt der Feuchtwanger
sagt sie
und Theaterkarten hab ich auch
Links: Lion Feuchtwanger, 1933. Rechts: Bruno Frank, 1934.
Gerettet
Gerettet und ins nächste Feuer geschickt
ins Trommelfeuer
Die Karten sind für
»Trommeln in der Nacht«
Nach dem Theater
laufe ich stundenlang
in der eisigen Nacht herum
und schillere in allen Farben
Ja den will ich kennen
der das geschrieben hat
Er arbeitet mit dem Feuchtwanger
sie sitzen in verrauchten Zimmern
und sind nicht zu sprechen
Endlich werde ich ihm vorgestellt
Das ist der Brecht
Er ist das Kommende
auch wenn das Staatstheater
sein Stück aus dem Spielplan genommen hat
sagt der Lion
Egal
sagt der Brecht
bis die Tantiemen ankommen
sind sie keinen Hosenknopf mehr wert
Die Schauspieler
die täglich ihr Geld bekommen
rennen schnell in die Läden
weil am Nachmittag ist es schon wertlos
sagt der Lion