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Laudatio auf Tukan-Preisträger 2023 Thomas Willmann

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© Frese München

2023 wurde der Tukan-Preis an Thomas Willmann für seinen Roman Der eiserne Marquis (Liebeskind Verlag) vergeben. Der mit 8.000 Euro dotierte Tukan-Preis zeichnet jährlich eine sprachlich, formal und inhaltlich herausragende literarische Neuerscheinung aus. In die Auswahl kommen alle belletristischen Veröffentlichungen von Münchner Autorinnen und Autoren. Die Preisverleihung fand am 6. Dezember 2023 im Literaturhaus der verschneiten Stadt München statt. Die Laudatio hielt Matthias Bieber, Redakteur der Mediengruppe Münchner Merkur und tz – und Freund des Autors.

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Willkommen im finsteren Tal. Abgeschnitten von der Außenwelt, versunken im Winterweiß. Wir blicken neidvoll nach Österreich und in die Schweiz, wo der öffentliche Personenverkehr läuft wie eh und je. Aber unsere Nachbarstaaten haben bekanntlich ja auch weniger Schnee und Berge.

Schön zu sehen, dass sich die Kultur in unserer Stadt dennoch nicht unterkriegen lässt. Hochverehrtes Publikum, lieber Thomas, herzlich Willkommen im Literaturhaus. Ich freue mich, dass ich die Ehre habe, für unseren Tukan-Preisträger 2023, Thomas Willmann, die Laudatio halten zu dürfen.

Wenn ich Sie nun allerdings mit „Ratten“ anreden würde, dann wären Sie zurecht zumindest irritiert, wenn nicht gar erzürnt und empört. Mit was? Mit Recht. Wenn das hingegen Thomas Willmann gleich zu Beginn seines ausgezeichneten Romans Der eiserne Marquis wagt, dann werden Sie überrascht geschmunzelt haben, neugierig geworden, wo dieser ungewöhnliche Beginn hinführt. Mit was? Auch mit Recht. Wer die Zeit und Muße hat – von beidem brauchen Sie eine Menge –, sich in die eher unbescheidenen knapp 1.000 Seiten einzulesen, der wird das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Denn der 54-jährige Münchner erweist sich als ausgesprochener Rattenfänger.

Wir werden gezwungen, wie die Kinder zu Hameln, nach Willmanns Pfeife zu tanzen, und folgen ihm bereitwillig durch alle Tiefen und Untiefen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Was unseren Preisträger vom Rattenfänger unterscheidet: Sein Instrument ist keine possierliche Flöte, sondern eine mächtige Kirchenorgel. Er zieht alle Register. Vom feinsten, zärtlichsten Liebessäuseln über mächtige Kriegsfanfaren bis hin zum bestialisch trommelnden Schlagwerk der mörderischen Mechanik.

Apropos Orgel: Willmann ist studierter Musikwissenschaftler und hat seine Magisterarbeit über den Humor in der Musik Joseph Haydns verfasst. Gut, denke ich mir als ehemaliger Studienkollege, da ist das 18. Jahrhundert mit einem Schwerpunkt Wien genau das Richtige für ihn. Und was passiert? Mozart kommt gar nicht vor, und der gute Haydn wird nur einmal ganz kurz gestreift. Der Mann hat Humor. Stattdessen ist der Held der Geschichte, dessen Leben von der tragischen Geburt bis zu seinem letzten Lebensabschnitt in der Nervenheilanstalt erzählt wird, sein Lebtag magisch von Mechanik und Metall angezogen.

Auf meine Frage, warum sich unser Autor diese fremde Welt von der kleinen Uhr bis zur riesigen Höllen-Menschen-Metall-Maschine im furiosen Finale angetan hat, warum er so einen Tüftler-Typen entwickelt hat, der mit Willmanns eigentlichen Interessen wenig zu tun hat, sagt er: „Mich faszinieren keine Uhren, aber mein Protagonist braucht diese Kindheit und Jugend bis zur Uhrmacherlehre, um schließlich zum Maschinenmenschen zu kommen.“

Es geht also nie um Thomas Willmann selbst oder was ihm leichtfällt, sondern ausschließlich um das Werk, das unter seinen Händen in Dutzenden Schreibblöcken handschriftlich entsteht. Und im Gegensatz zu vielen schreibenden Kollegen (unter uns: Sogar bei Tageszeitungen halten sich manche für Künstler, wenn auch unerkannte) ist da keine Spur Koketterie. Wenn unser Preisträger sagt, er wisse noch nicht, wo die Sprache mit ihm hinwolle, dann ist das kein Understatement, sondern das Wissen darum, dass Kunst nicht nur Können, sondern Energie, Ausdauer, Schweiß und Tränen verlangt. Den unbedingten Willen, sich so lange in die Materie hineinzuknien, bis die Sache ins Rollen kommt. Oder, um im Bild zu bleiben: bis das Uhrwerk in Gang kommt. Das fordert permanente Unruh.

Wobei wir einschränken müssen, dass Willmann als Kind ganz besonders von einem französischen Fernsehfilm fasziniert war, dessen Protagonist ein Roboter war. Die Grundidee für seinen Marquis ist sogar älter als die zu Das finstere Tal.

Wir fangen an zu lesen, lassen uns als Ratte bezeichnen, und los geht eine Gedanken-Maschinerie, die schon nach wenigen Seiten eine illustre Schar in Hirn und Herz versammelt: Wagners Tristan etwa, der seine Mutter bei der Geburt verliert. Goethes Wilhelm Meister und der Beginn in früher Kindheit. E.T.A. Hoffmanns süffisante Kritik am verhinderten Künstler und sein wahnwitziger Spuk. Die schmuddelige Kehrseite von Paris, die an Süskinds Das Parfüm erinnert, die schon erwähnten Brüder Grimm mit ihrem Rattenfänger von Hameln – oder auch Lars von Trier mit seiner bizarren Krankenhaus-Serie Geister, in der unter anderem auch eine sehr schwere Geburt beschrieben wird. Ganz zu schweigen von den Albtraum-Sequenzen in dunklen Kellern und Katakomben, die David Lynch alle Ehre machen.

Doch wer glaubt, Willmann klaubt sich schamlos was zusammen, der irrt gewaltig. Der Mann ist eben ein universal gebildeter Geist, alles fließt selbstverständlich durchbebt in sein ganz und gar einmaliges, man möchte im Sinne der damaligen Zeit sagen: geniales Werk ein. Das gelingt so unverkrampft und natürlich, da Willmann eines kann, das nur Wenigen gegeben ist: sich selbstlos und unbedingt in eine Situation, in einen Menschen einfühlen. Wer ihn ein bisschen kennt und in einer, nennen wir es mal: verzwickten Lebenssituation steckt, der findet in unserem Autor nicht nur einen großartigen Zuhörer, sondern auch einen zutiefst mitfühlenden Gefährten im Dunkel. Der nicht mit (gut gemeinten) Ratschlägen daherkommt. Der nicht urteilt, sondern einfach da ist und Raum lässt.

Diese Empathie, dieses Einfühlungs-Vermögen ist eine der Voraussetzungen für eine schier überbordende Fantasie, für eine genaue Zeichnung der Personen, ihrer Gefühle, ihrer Nöte und Ängste, ihrer Hamsterräder, aus denen sie sich nicht befreien können. Wer Hitchcocks Psycho liebt, wird beim „Hamsterrad“ unweigerlich an Norman Bates denken. Hitchcock war lange Jahre der Filmgott Nummer 1 für Willmann.

In seiner Widmung hat mir Thomas Folgendes geschrieben: „Lieber Matthias, alles lässt sich vielleicht doch nicht in 50 Zeilen sagen.“ Damit spielt er auf unsere berufliche Vergangenheit an. Die Vorgabe für eine Klassik-Konzert-Rezension in der tz, für die Willmann seit fast 25 Jahren schreibt, lautete: Obergrenze 50 Zeilen à 26 Anschläge. Die Rubrik hieß schließlich „kurz und kritisch“, was eigentlich selbsterklärend sein sollte. Sie können sich nicht vorstellen, wie groß das Geheule mancher Autoren war, wenn der böse Bieber das Rasiermesser ansetzte und viel zu lange Texte drastisch auf Diät setzte. Unter uns: Meistens war diese Arbeit kein Problem, weil die Texte oft zu unkritisch und brav waren. Um aber zu erklären, was man wie und warum empfunden hat, braucht man Kenntnis, Seele, Leidenschaft. Braucht man einen wie Willmann.

Bei ihm hatte ich Probleme mit dem Kürzen. Denn seine Kritiken waren und sind voller Geist, Potenz, Konsequenz – und oft genug für eine Boulevardzeitung stilistisch etwas schwer vermittelbar. Ändert nichts: Bei Willmanns Kritiken das Rasiermesser walten zu lassen, war oft so, als müsse man ein Kochrezept kürzen. Gut, Sie können beim Rindergulasch das Rind weglassen, aber das Ergebnis ist denkbar angreifbar. Unser Preisträger liefert, und das darf man auch bei etwas üppigeren 950 Seiten echter Literatur mit Fug und Recht behaupten: immer Essenz. Ein Kessel Buntes in allen Geschmacksrichtungen. Von hauchzartem Fliederduft der ersten Liebe namens Amalia über den Geruch von Matsch, Moder und Schlimmerem auf den Schlachtfeldern bis zur olfaktorischen Hölle in und unter der französischen Hauptstadt.

Aber mit seiner Widmung, dass man manche Dinge nicht auf 50 Zeilen sagen kann, hat Willmann natürlich Unrecht. 50 Zeilen langen locker, ich kann das Buch sogar in einem Satz auf den Punkt bringen. „In diesem Buch geht es um alles.“ Dieser Satz hat inklusive Leerzeichen und Punkt genau 32 Anschläge, ist also etwas länger als eine Zeitungs-Zeile. Wer noch mehr Infos will, hier die im Buch gerne gefeierte Form der Alliteration. Es geht um Sein und Schein, um Laster und Liebe, um Eifer und Eifersucht, um Trieb und Tod, um Musen und Müssen, um Zeit und Zwist, um Hybris und Hysterie, um Gier und Grausamkeit, und das alles eingebettet in eine manisch-mörderische Maßlosigkeit.

Willmann hat sich tief in die Sprache vor 250 Jahren eingelesen und eingefühlt, und der anfangs vielleicht befremdliche Stil weicht schnell einem gewaltigen Sog. Wie gewaltig der ist, kann ich Ihnen an einem Beispiel verdeutlichen: Meine Lebensgefährtin liest viel, aber grundsätzlich und ausschließlich auf dem Weg zur Arbeit und retour, wenn man mal die Urlaube beiseitelässt. Sie verschlingt in Windeseile Bücher, was allerdings nicht nur ihrer eindrucksvollen Lesegeschwindigkeit zu verdanken ist, sondern auch der Qualität und Zuverlässigkeit des öffentlichen Nahverkehrs auch ohne Schnee und Eis. Aber beim Marquis machte meine bessere Hälfte eine Ausnahme: In der Wohnung war das große Schweigen ausgebrochen. Bettina las! Daheim! „Ich war am Schluss wie im krankhaften Fieberrausch“, sagte sie mir. Mehr Lob geht gar nicht, und wenn ich noch – keine Angst – drei Stunden sprechen würde.

Diesen Rausch kann unser Preisträger auch hervorrufen, weil ihm die berühmte Spreizfeder fremd ist. Willmanns Sprache ist nie manieriert, sondern bei aller Altertümlichkeit bildreich, berückend, aber auch klar und notwendig, um die Stimmung einzufangen. Die Bilder entstehen ganz automatisch im Kopf. Und dennoch: Der Marquis schreit nicht nach einer Verfilmung, ist nicht darauf hingeschrieben, sondern ein genuines Stück Sprachgewalt. Zudem würde laut dem Autor eine Verfilmung wohl unter 300 Millionen Euro nicht funktionieren.

Dass sein furioser Erstling Das finstere Tal auch verfilmt wurde, steht auf einem anderen Blatt. „Das war nie in meinem Hinterkopf“, sagt uns der Autor. Sondern einfach die hartnäckige Überzeugungsarbeit des österreichischen Regisseurs Andreas Prochaska, dem ein kongeniales Stück Film gelungen ist. Prochaskas Ideen seien einfach zu überzeugend gewesen. Für kein Geld der Welt, sagte und sagt Willmann, hätte er die Rechte an seinem Debüt an eine große deutsche Filmfirma und deren Erfolgsregisseure abgegeben. Er hatte viel zu viel Angst um „sein Baby“.

Falls Sie also eine Idee oder 300 Millionen Euro übrig haben, sind wir froh, hier als Vermittler tätig werden zu dürfen. Man kann noch viel mehr Geld viel sinnloser verpulvern.

Doch zurück ins spätere 18. Jahrhundert: Unser Ich-Autor entwickelt sich von der beengten, bigotten Kindheit seines Schulmeister-Vaters, für den alles von Gott gedacht und gemacht ist, zum Lehrbuben bei einem reizenden Wiener Uhrmacher. In der Musikstadt der Musikstädte findet er seine erste große Liebe. Das höchst poetische Kennenlernen von Amalia und unserem „Helden“ beschreibt Willmann so anrührend und behutsam, dass mir schon beim Erinnern die Tränen ins Auge schießen. Sie können sich schon denken, falls Sie es noch nicht wissen: Die Love-Story geht nicht gut aus. Unser verzweifelter Held muss, frei nach Oliver Kahn, weiter, immer weiter. In diesem Fall flieht er in mörderischer Eile und höchster Not in die Wälder, lernt einen komisch-fanatischen Klausen-Kauz kennen, landet später beim preußischen Militär. Er gerät in Kriegsgräuel, die einmalig drastisch und plastisch beschrieben werden, und wird nach einer Verwundung im Lazarett von einem Menschen entdeckt, der unsere Titelfigur werden wird. Der eiserne Marquis.

Da ist das Buch allerdings schon bald zur Hälfte rum. Darauf angesprochen, grinst Willmann nur. Der eiserne Marquis aus Paris jedenfalls stellt unseren hochbegabten Mechaniker doch glatt in den Schatten in Sachen Geheimniskrämerei und Genialität. Die beiden werden ein schauerlich-faszinierendes Paar im Weinberg der Wissenschaft, zunächst nur, um dem gehandicapten Marquis einen künstlichen Arm zu erschaffen. Doch je lebensbedrohlicher die Situation für unsere Titelfigur wird, desto verzweifelter und zügelloser werden die Experimente am lebenden Objekt vom Kleinvieh über Zitteraale bis zum ausgewachsenen Pferd. Das verrückte Paar macht vor nichts mehr Halt.

Willmann sprachlich auch nicht. Nicht aus Voyeurismus, nicht aus Befriedigung etwaiger dunkler Triebe, sondern weil die Geschichte es verlangt. Außerdem ist es schwer vorstellbar, dass das gemütliche alternative Café Kosmos hinterm Hauptbahnhof oder die heimische Schreibstube in Neuhausen solch dunkle Mächte evozieren könnte – an beiden Orten toben meines Wissens nach weder Elend, Prostitution, Gewalt, Grausamkeit, Wissensgier ohne Gewissen noch tödliche Eifersucht.

Was sich so selbstverständlich fließend liest, ist in Wahrheit eine über ein Jahrzehnt währende mühsame Geburt. Wir haben uns kurz vor Corona abgewöhnt, Thomas zu fragen, wie weit sein Neuer sei. Die Antworten waren immer ähnlich. Sie wissen schon, er weiß noch nicht genau, wo die Sprache mit ihm hinwolle, später ging es ans Kürzen in mehreren Durchläufen. Ein paar Tage vor dem Erscheinen des Buches lud er zu einer kleinen, feinen Party gleich in die Kneipe neben dem Café Kosmos. Las daraus den Prolog, der mit den Ratten, und schloss nach drei Seiten mit der Bemerkung: „Der Rest steht im Buch.“

Auf die Frage, was er denn nun eigentlich sei: Kulturjournalist, Schriftsteller oder ganz was anderes?, erwidert unser Autor nur: „Das entscheidet das Publikum.“ Da haben Sie, liebe Jury-Mitglieder, ein wichtiges Signal gesetzt, über das sich unser stolzer und glücklicher Preisträger mehr als freut – „es kam völlig unerwartet“, sagte er uns. Wenn das kein Antrieb ist, um weiterhin dem Quell seiner Kunst zu frönen: Menschen beobachten, sehen und verstehen. Nachschmecken, wie sie ihn ein Stückchen beschäftigen oder auch inspirieren. Wie sich aus unzähligen kleinen Szenen des Lebens eine mächtige Geschichte zusammenfügen lässt, die stets wahr und komplett erfunden ist. Kunst eben.

Ich wünsche Thomas Willmann einen eisernen Willen auf dem Weg zum nächsten Werk, eine glänzend geschmierte handwerkliche Mechanik, lebensstiftende klitzekleine Stromschläge und stets die rechte Erdung in Kunst und Leben.

Ich schaue auf die Stoppuhr. Die Vorgabe waren 15 bis 20 Minuten. „Das ist ganz schön viel Holz“, sagte ich Willmann bei der Vorbereitung. Willmann lächelte: „15 Minuten reichen, bitte keine 20.“ Typisch: mich wochenlang ans Buch fesseln und um fünf Minuten feilschen.

Immerhin besteht Hoffnung, dass du für dein nächstes Buch etwas kürzer brauchst. Auch wenn du Thomas Manns Rat wohl nie befolgen wirst, der da lautet, wie du mir sagtest: Man solle einen Roman immer am Vormittag beenden, damit man am Nachmittag mit dem neuen zu schreiben beginnen kann.

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Morgen findet eine Lesung mit Thomas Willmann aus seinem Roman in der Münchner Seidlvilla e.V. statt.