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Der Reißverschluss

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Alle Bilder © Alexander Milstein

Der 1963 in Charkiw geborene Schriftsteller und bildende Künstler Alexander Milstein lebt seit 1995 in München. Nach dem Studium der Mathematik begann er 1988 zu schreiben. Auf Russisch erschienen sind der Erzählband Schkola kibernetiki (Moskau 2002), die Romane Serpantin (Moskau 2008), Pinoktiko (Charkiw 2008), Kontora Kuka (Moskau 2012), Parallelnaja akzija (Moskau 2014) sowie ein Erzählband namens Kodex paratschjutista (Charkiw 2013). Im August 2017 kam sein Erzählband Pjatipol im Verlag des 32 Vozdvizhenka Arts House Kiew heraus. Seine Malerei bezieht sich teilweise auf seine literarischen Werke. Er zeigt sie in Ausstellungen und fügt sie seit Pjatipol auch in seine Bücher ein. 2017 nahm er an Eine Brücke aus Papier in Kiew teil. 2018 erschien sein jüngster Roman Analogovie Maschini (Analoge Maschinen) im Kajala Verlag, Kiew.

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Der Reißverschluss

Gestern Abend ging ich zur U-Bahn, um zur Vernissage von Danilo Halkin in Halle 6 zu fahren. Ich begann, den Verschluss der Tasche meiner Jacke zu öffnen, in der sich das Handy befand, und merkte, dass es sich nicht rührte, ich versuchte es in die andere Richtung, es ging, der Schieber erreichte den Anschlag und ich zog ihn zurück, aber es ging nicht. Er rührte sich nicht. Ich hielt an, zog meine Jacke aus und fing an, ernsthaft an dem Reißverschluss zu arbeiten, dabei löste sich das Band vom Schieber, aber ich versuchte immer noch, ihn zu bewegen. Vergeblich. Nicht einen Millimeter, nicht ein Mikrometer. Fast wäre ich in den Zug gestiegen, aber plötzlich fiel mir ein, dass ich die Adresse von Halle 6 in meinem Handy hatte, und alles ... Ich stellte mir vor, wie es mir am Wochenende ohne Handy gehen würde, oder noch schlimmer – mit ihm in meiner klemmenden Tasche, von wo aus es flackern, singen, piepsen, mich nachts aufwecken würde. Ich überlegte, ob ich zum Schuster gehen sollte, aber es fing an zu regnen und ich radelte nach Hause, auf dem Weg beschloss ich, in der Änderungsschneiderei vorbeizuschauen, die ganz in meiner Nähe war, aber ich war noch nie dort gewesen. Ich war mir sicher, dass niemand da war, es war zehn vor sieben Uhr an einem Freitag ... Aber ich hatte Glück, dass die Frau etwas länger blieb, obwohl ein Auto mit ihrem Mann am Eingang auf sie schon wartete. Sie fummelte eine halbe Stunde an dem Zipper herum, der Mann kam auch rein, er bot seine Hilfe an, und ich bot meine auch schon an, aber sie, die Kleine, die kleinen Hände ... weigerte sich hartnäckig und versuchte, den verklemmten Schieber mit verschiedenen Zangen zu knacken ... Vergeblich. Sie schlug vor, das Futter aufzutrennen, das Telefon von innen herauszunehmen und es dann zuzunähen, ich stimmte freudig zu, sie schnitt das Futter auf, steckte ihre Hand in das Loch und sagte nach einer Weile, es sei unmöglich. Ich hatte wieder das Gefühl, dass ich das Telefon verschluckt hatte und unter örtlicher Betäubung operiert wurde. Sie erklärte mir, dass die Jacke komplizierter aufgebaut sei, als man vermuten könnte, mit einigen inneren Trennwänden ... Jedenfalls kam sie von der anderen Seite nicht an das Telefon heran. Und wieder begann sie krampfhaft zu versuchen, das Schloss zu knacken, indem sie mit einer Drahtschere darauf herumhackte. Schließlich schlug sie vor, den Schieber herauszuschneiden und dann dort am Ende des Reißverschlusses alles so zu nähen, dass es in Ordnung wäre, ich stimmte zu und nach einer Weile zog sie das Telefon aus dem Schnitt heraus, ich ließ die Jacke auf dem Operationstisch liegen, am Montagnachmittag könne man sie abholen. Ich fuhr nach Hause und überlegte, ob ich meine andere Jacke anziehen und wieder zu Halle 6 gehen sollte, aber ich spürte, dass der soziale Eifer irgendwie verflogen war, Müdigkeit machte sich breit, ich setzte mich hin und mir fiel ein weiteres Missgeschick ein, das mit diesem Ort zu tun hatte. Dort sollte 2018 meine Ausstellung im Rahmen der Veranstaltungen „Eine Brücke aus Papier“ stattfinden, eine ganze riesige Halle mit meinen Acrylbildern. In der Halle 6, die früher eine Kaserne war und heute ein Atelierhaus ist, gibt es viel Platz, und gleichzeitig sollte im Nebenraum eine Ausstellung von Jerry Zeniuk stattfinden, einem Professor für abstrakten Expressionismus, der 18 Jahre lang an der Münchner Akademie gelehrt hat und davor in den USA lebte, dort mit Jasper Johnson befreundet war usw. In der Pinakothek der Moderne gab es zur gleichen Zeit, 2018, und dann noch ein paar Jahre lang einen Raum, in dem ich immer das gleiche lebende Bild sah: vor seiner größten Leinwand mit Kreisen (mit einer Fläche nicht kleiner als meine Wohnung, ich glaube, es war das größte Gemälde in der Pinakothek), gab es immer ein paar Leute, die regungslos auf einer Bank saßen und ins Bild starrten.
 ... Ich wollte anfangen, sie bei meinen sonntäglichen Besuchen ein- oder zweimal im Monat zu filmen, um zu sehen, ob es dieselben Leute sind, und ich wollte sie auch abtasten, um sicherzugehen, dass sie kein Silikon sind. Überhaupt war diese Nachbarschaft in der Halle schmeichelhaft für mich, ich freute mich auf die Ausstellung, wir fuhren mit der Veranstalterin zur Halle, Christian Schnurer, der Intendant dieses wunderbaren Hauses, führte uns durch, wir planten mit ihm, wie die Bilder gehängt werden sollten, er zeigte mir die Presse, mit der er sie ausrichten würde, usw. Und all diese Freude hatte ein Ende, denn der Zirkus kam. Ja, ja, der Zirkus. Der Cirque du Soleil. Nun, nicht direkt in der Halle, in den Sälen, in denen die Ausstellungen eröffnet werden sollten, die des Professors und meine ... Direkt unter den Fenstern der Halle 6 wollte sich der Zirkus auf dem Rasen niederlassen, und die „Papierbrücke“ ist auch eine literarische Versammlung, die die Stille mag, nicht das Getöse direkt unter den Fenstern, das die leisen Stimmen der Dichter, das Flüstern der Prosaisten übertönt ... Die Kuratorin versuchte, dieses Shapito unter den Fenstern durch den Stadtrat zu stoppen, aber es klappte nicht und sie musste die „Brücke“ selbst verlegen – in das Lyrik Kabinett, ein kleines Gebäude im Zentrum von Schwabing, wo alle Wände bereits mit Gemälden und Fotografien bedeckt sind, und wie viele dieser Wände es gibt, kamen Ausstellungen dort nicht in Frage. Jerry Zenyuk empfand das natürlich wie eine Rauchwolke, aber ich war traurig, ich glaube, ich fühlte mich in diesem Moment genauso, wie sich Terenz 165 v. Chr. fühlte, als ein Wanderzirkus in der Nähe des Theaters auftauchte, in dem sein Stück uraufgeführt wurde, und das ganze Publikum hinüberlief, um den Seiltänzern zuzusehen.

 

Der Verfasser hat den Text selbst aus dem Russischen übersetzt.