„Uni-Unterricht“. Von Andrej Krasnjaschtschich
Der Schriftsteller und Literaturkritiker Andrej Krasnjaschtschich wurde 1970 in Poltawa, Ukraine, geboren und wuchs in Charkiw auf. Nach dem Studium an der dortigen Philologischen Fakultät wurde er mit einer Arbeit über Ulysses von James Joyce promoviert und arbeitete als außerordentlicher Professor. Bedingt durch den Krieg zog er mit seiner Familie 2022 zurück nach Poltawa. Krasnjaschtschich war Teilnehmer bei „Eine Brücke aus Papier“ in Weimar 2022, mit ihm führte das Literaturportal Bayern außerdem ein Interview.
*
24.02.2022
„Hallo in die Runde. Morgen keine Vorlesung.“
„Nach dem 24. Februar haben die Worte ‚Hallo‘ und ‚Ich grüße euch‘ eine neue Bedeutung. Ich grüße euch heißt auf Ukrainisch ‚Vitaju‘ in dem Wort steckt ‚vita‘, das Leben.“
25. Februar: „Wo bist du und wie geht es dir? Wie geht es unserer ganzen Gruppe? Seid ihr in Kontakt?“ – „Ich bin in Charkiw. Wenn etwas los ist, dann gehen wir runter in den Keller. Stasja ist in Charkiw, Lisa ist in Dnipro. Nastja in Cherson.“
2. März: „Hallo, wie ist die Lage bei euch?“ – „Flieger. Bomben. Wie geht‘s dir?“ – „Genauso, heute war es echt eng.“ – „Und in welchem Bezirk bist du?“ – "Cholodna Hora.“ – „Oh, in der Nachbarschaft. Geh nirgendwo hin, höchstens in den Schutzraum.“
„Nastja ist in Cherson.“
„Viele Freiwillige sind zusammengekommen, um die Antoniwskyj-Brücke zu schützen, einige nahmen Busse, und die, die keinen Platz abkriegten, gingen zu Fuß. Die ersten wurden erschossen. Während der Kämpfe auf der Brücke, bereiteten die Menschen in der Stadt Molotow-Cocktails vor und stellten Panzersperren auf.
Am ersten Tag, als die Russen kamen, versammelten sich unsere Leute abends im Park im Schumenskij-Viertel, um sich zu wehren. Der Park ist mit Leichen übersät.
Vom ersten Tag an richteten die Russen Kontrollpunkte ein und bezogen ihr Hauptquartier am Busbahnhof. Ich wohnte gegenüber, ich sah sie jeden Tag. Sie betranken sich und fingen einfach an, wahllos und auf jeden zu schießen. Allabendlich fuhren sie durch die Stadt und leuchteten mit Scheinwerfern in die Fenster.
Sie begannen mit Hilfslieferungen, vor allem Lebensmittel, aber niemand nahm etwas an. Parallel dazu arbeiteten unsere Freiwilligen in allen Bezirken. Die Schwester meines Freundes half an einem solchen Anlaufpunkt, Russen kamen und forderten sie auf, sich ausziehen.
Die Medikamente gingen fast sofort aus. Die Leute brachten sie zu Fuß aus Mykolajiv. Ja, zu Fuß. Sie fanden sichere Wege und lieferten sie nach Cherson.
Tagtäglich und bei jedem Wetter versammelten sich die Menschen zu Kundgebungen mit ukrainischen Symbolen und Liedern. Dann kam die Russenarmee, um die Kundgebungen zu verhindern. Nur Russland hat solch eine spezielle Einheit, aber ich weiß nicht mehr, wie sie heißt. Die Russen warfen Lärmgranaten und Tränengasgranaten. Es gab Verwundete.
Jetzt haben viele Menschen Cherson verlassen, wahrscheinlich ein Drittel der Einwohner.“
10. Mai. „Hallo, Nastja. Bist du in Sicherheit?“ – „Guten Tag! Ja, ich konnte nach Dnipro fahren.“ – „War es schwierig, Cherson zu verlassen?“ – „Ja, es war schwierig, es hat mehrere Tage gedauert.“
Stasja in Charkiw.
28. Februar. „Ich wollte fragen, wie es mit der Zahlung für den nächsten Studienabschnitt aussieht, denn ich habe monatlich gezahlt, und jetzt kann ich für den nächsten Monat nicht mehr zahlen, und ich verstehe nicht, wie es jetzt funktioniert – wird es deswegen Probleme mit der Abrechnung geben?“ – „Natürlich nicht. Auf keinen Fall. Pass auf dich auf und verlasse nicht noch einmal das Haus oder die Unterkunft.“
16. März. „Wie geht es dir? Bist du in Charkiw?“ – „Ja, ich bin in Charkiw. Alles ist wie immer, sie bombardieren uns, aber wir haben uns daran gewöhnt.“
13. Juni. „Wie geht es dir?“ – „Guten Tag! Ich bin zu Hause, aber im Keller, also alles in Ordnung.“
„Der Keller ist das, was Campbell ‚im Bauch des Wals‘ nannte, das Stadium der Grenzüberschreitung beim Initiationsritus. Wiedergeburt.“
„Andrij Petrowytsch, ich habe ihr Tagebuch in der Ukrajinska Pravda gelesen. Ich bin froh, Sie zu kennen und erinnere mich an ihre Vorlesungen im zweiten Studienjahr. Damals war es sehr warm. Es war nicht alles umsonst. Und ich hoffe, dass wir mit ihnen bald wieder über Ulysses oder etwas anderes sprechen können. In Charkiv, an unserer Universität. Wenn sie Hilfe oder etwas anderes brauchen, lassen sie es mich wissen. Wir können ihre Familie hier in Thüringen aufnehmen, mit Unterkunft und auch finanziell helfen.“
„Andrij Petrowytsch, ich habe vor kurzem einen Gedanken gehabt (der wahrscheinlich nicht neu oder ganz frisch ist, ich habe trotzdem beschlossen, Ihnen davon zu erzählen). Literatur ist eigentlich Mythenbildung: Schriftsteller zeigen uns Aspekte der menschlichen Seele, menschlichen Verhaltens sowie menschlicher Selbstreflexion durch das Sujet, die Handlungsstränge und die Figuren. Da es irgendwie trivial ist, diese oder jene Idee einfach so auszuposaunen, und sie auf die Art auch nicht wirken wird, wenn man sie nicht fühlt und durchlebt – muss man eine Geschichte, ein Narrativ erfinden. So wie ich die Mythen verstehe, war ihre primäre und wichtigste Funktion nicht etwa zu unterhalten, sondern den Menschen Orientierung zu geben, sie zu leiten, ihnen zu helfen, existenzielle Krisen zu meistern, und unsere Psyche nimmt Ideen am besten durch Beispiele, also auch Bilder, auf. Und in der Literatur (guter), ja, Literatur ist in diesem Fall das gleiche wie ein Mythos, nur mit vielen Details in Form und Inhalt. Also stellt uns die Literatur, wie eine Art Mythos, auf die Welt und uns selbst ein.“
„Guten Tag, Andrij Petrowytsch, danke für Ihre Sorge, ich halte noch durch.
Der Studiendekan und die Dozentin des Lehrstuhls haben mich über den Beginn der Lehre informiert, aber danke, dass Sie sich auch bei mir melden!
Was den Schaden angeht: Ich habe die Hausnummer vergessen, deshalb kann ich es nicht genau sagen. Ich erinnere mich, dass Sie meinten, wir seien Nachbarn in den Häusern gegenüber der Uni. Wenn Ihr Haus gegenüber dem Haupttor der Uni oder in der Nähe der Schule Nr. 129 liegt, dann folgendermaßen: Ein Flieger hat dort eine Bombe abgeworfen; wenn es näher an Shakespeare liegt, dann schaut es anders aus. Ich versuche, es herauszufinden, kläre es jedenfalls.
Was den Unterricht angeht: Ich habe nicht die technischen Möglichkeiten, daran teilzunehmen, da die Druckwelle der Bombardierung meinen Laptop beschädigt hat und ich ihn nicht reparieren kann, nur das Handy hat gelegentlich WLAN-Empfang, aber mit Unterbrechungen.
Mit herzlichem Gruß, Jan.“
„Die Karazin-Universität nimmt das Fernstudium ab dem 28. März 2022 wieder auf.
Der Unterricht beginnt im asynchronen Online-Modus der Fernunterrichtsplattform und unter größtmöglicher Berücksichtigung der Bedürfnisse und Fähigkeiten aller am Bildungsprozess Beteiligten.
Der Prozess der Interaktion mit den Studierenden (Doktoranden) wird in einem möglichst loyalen Format organisiert:
- Die Studierende und Doktoranden haben ein Anrecht, überall eine informelle Bildung zu erhalten, deren Ergebnisse berücksichtigt werden;
- haben das Recht, für sich einen individuellen Studienplan zu erstellen;
- Der Einsatz eines Studierenden oder Doktoranden bei der Territorialverteidigung, bei den Streitkräften oder in den besetzten Gebieten stellt einen Grund für die Gewährung eines Studienurlaubs dar.
Alle diese Maßnahmen sind maximal entbürokratisiert und erfordern lediglich einen Antrag (insbesondere in elektronischer oder mündlicher Form).
Eine große Bitte an die Studierenden und Mentoren akademischer Gruppen – bitte bleiben Sie miteinander in Kontakt, ebenso wie mit den Mitarbeitern der Dekanate und der studentischen Selbstverwaltungsorgane.“
Adressat: Iryna P., Daria P., Kateryna M., Daniil G., Artur K., Vadym Pavlenko...
„Guten Tag. Ich hoffe, ihr seid in Sicherheit und alles ist mehr oder weniger in Ordnung.
Ab Morgen beginnt wieder der Unterricht an der Universität. Ihr denkt bitte daran, dass fünf Bücher über Mythen und sieben wissenschaftliche Monografien zu lesen und sieben Aufsätze darüber zu schreiben sind.
Um unsere Arbeit bis zur Wiederaufnahme von Präsenz-Vorlesungen zu organisieren, schlage ich vor, dass ihr mir allwöchentlich, jeweils bis Sonntag, einen Aufsatz schickt.
Und die Mythenanalyse des literarischen Textes heben wir bis zum Schluss auf, in der Hoffnung, dass dann die Vorlesungen wieder aufgenommen werden und ich euch etwas erzählen kann.
Wenn ihr Fragen habt, dann schreibt mir an diese Adresse oder in Viber, Whatsapp oder auf Telegram.
Passt auf euch und eure Nächsten auf.“
Wasym Pawlenko, Student des dritten Studienjahres an Karazin Universität Charkiw, starb während eines Evakuierungsversuchs aus Isjum.
„Hallo, ich bin in einem abgelegenen Dorf und habe keinen Laptop. Ist es auch okay, wenn ich in zwei Wochen zwei Aufsätze abgebe?“
„Guten Morgen. Entschuldigung, dass ich so spät antworte: Ich habe in letzter Zeit zahlreiche Anfragen und Aufgaben im Zusammenhang mit der Freiwilligenarbeit. Ist es möglich, die Aufsätze Mitte Juni abzugeben? Ich versuche jetzt, den versäumten Stoff in allen Fächern nachzuholen, und ich hoffe wirklich, dass ich das bis Ende Mai schaffe.
Mit Hochachtung vor Ihnen und Ihrem Fach.“
„Sie haben gesagt, das Chtonische ist furchtbar. Wir waren eineinhalb Monate lang in der Metrostation. Der Horror war oben.“
„Andrij Petrowytsch, gute Nacht!
Sie machen sich Sorgen um den Studenten Walentyn Sch. aus dem ersten Studienjahr an der Fakultät für Fremdsprachen, Gruppe YF-12. Wir haben Ihnen am Wochenende per Mail geschrieben, dass es Probleme mit dem Versenden der Aufsätze gibt. Leider hatten wir in den letzten 3-4 Tagen schweren Beschuss und deshalb gab es wieder keinen Strom.“
„Hallo, Walentyn. Keine Sorge, die Fristen sind flexibel, alles zu seiner Zeit, besonders in unserer Situation. Das Wichtigste ist, dass du dich um dich selbst und deine Lieben kümmerst.“
„Guten Tag!
Ich heiße Jana N. aus der Gruppe YA-11. Ich sollte Ihnen eigentlich zehn Aufsätze schicken, aber mein Haus wurde kürzlich in die Luft gesprengt und wir waren mit dem Umzug beschäftigt. Wenn es möglich ist, würde ich Sie innerhalb der nächsten zwei Tage schicken?“
„Ich bin in der Region Lwiw, in Cherwonohrad, meine Eltern sind in Deutschland, sie werden dort bleiben, weil wir haben kein Zuhause mehr, aber die Hauptsache ist, dass wir alle am Leben sind.“
„Ja sicher, Julija Anatolijiwna, bei mir ist es das gleiche. Ich sehe, was abgeschrieben wurde. Aber es wurde nicht richtig abgeschrieben. Sie sind am Leben, Gott sei Dank! Sie bekommen Ihre credit points.“
„Guten Morgen, Andrij Petrowytsch!
Leider hatte ich keine Zeit, zusätzlich zu der Arbeit, die ich bereits abgegeben habe, noch eine weitere fertig zu schreiben. Viele Dozenten haben schon angefangen, bis Ende Juni neue Aufgaben zu stellen.
Ich hoffe aber, dass ich in den nächsten zwei Wochen alles in den Hauptfächern fertigstellen kann, und in der vorlesungsfreien Zeit werde ich weiter Aufsätze schreiben. Die Mythos-Analyse wird, mit Ihrer Einwilligung, in der zweiten Julihälfte, also nach der Prüfungszeit, fertig sein.“
„Guten Tag. Hier schreibt Hanna K., Studentin von LC-11. Ich schicke Ihnen eine Zusammenfassung von Kapiteln über Long. Ich bin jetzt in der Region Cherson, wo es Probleme mit der Kommunikation und dem Internet gibt, WiFi funktioniert in der Stadt nur an einigen öffentlichen Plätzen (ich bin jetzt auf einem solchen). Deshalb werde ich die Zusammenfassungen nicht rechtzeitig verschicken können, aber ich werde versuchen, es so bald wie möglich zu machen.“
„Andrij Petrowytsch, guten Tag!
Hier ist noch einmal Walentyn Sch., Student der Gruppe YF-12 ihres Kurses über Mythologie. Gestern bin ich mit meiner Familie in den USA angekommen. Die Reise hat mehr als einen Monat gedauert. Können Sie mir bitte sagen, ob ich noch Zeit habe, vielleicht noch heute oder morgen, Ihnen meine vier ausstehenden Aufsätze zu schicken? Und entschuldigen Sie bitte diese Verspätung.“
„Die Mythenanalyse ist fast abgeschlossen, jetzt müssen wir uns noch um die Vögel kümmern. Übrigens singen sie in Charkiw nicht mehr. Auf der Fahrt nach Hannover, quer durch Polen, haben wir das Fenster des Waggons aufgemacht. Die Vögel haben den ganzen Weg über gesungen. Es war seltsam und beruhigend. Und in Hannover geht die Sonne spät unter und die Vögel singen, bis es dunkel wird. Am Morgen dämmert es früh, und die Vögel singen schon um halb sechs. Kein bloßes Zwitschern, oder eine vorbeifliegende Krähe, sondern richtiges Singen. Aber bei uns in Charkiw sang nur ein Papagei, der im Erdgeschoss auf den Balkon gebracht wurde.“
„Jetzt bin ich in Charkiw. Es gibt Probleme mit dem Internet im Wohnheim, und es findet heftiger Beschuss statt. Was soll ich machen, um Ihren Kurs abzuschließen?“
„Sicher, Julija Anatolijiwna, jetzt gibt es nur noch eine Wissenschaft – die Wissenschaft des Überlebens. Und darin sind wir alle Studenten.“
„Was soll ich in die Spalte ‚Information‘ bei den verstorbenen Studenten eintragen? ‚Keine Rückmeldung‘? Das kann ich nicht.“
„Guten Tag. Zur Information – ausdrucken, ausfüllen und ein Foto schicken? Und in Papierform – nach dem Krieg?“
(Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil)
„Uni-Unterricht“. Von Andrej Krasnjaschtschich>
Der Schriftsteller und Literaturkritiker Andrej Krasnjaschtschich wurde 1970 in Poltawa, Ukraine, geboren und wuchs in Charkiw auf. Nach dem Studium an der dortigen Philologischen Fakultät wurde er mit einer Arbeit über Ulysses von James Joyce promoviert und arbeitete als außerordentlicher Professor. Bedingt durch den Krieg zog er mit seiner Familie 2022 zurück nach Poltawa. Krasnjaschtschich war Teilnehmer bei „Eine Brücke aus Papier“ in Weimar 2022, mit ihm führte das Literaturportal Bayern außerdem ein Interview.
*
24.02.2022
„Hallo in die Runde. Morgen keine Vorlesung.“
„Nach dem 24. Februar haben die Worte ‚Hallo‘ und ‚Ich grüße euch‘ eine neue Bedeutung. Ich grüße euch heißt auf Ukrainisch ‚Vitaju‘ in dem Wort steckt ‚vita‘, das Leben.“
25. Februar: „Wo bist du und wie geht es dir? Wie geht es unserer ganzen Gruppe? Seid ihr in Kontakt?“ – „Ich bin in Charkiw. Wenn etwas los ist, dann gehen wir runter in den Keller. Stasja ist in Charkiw, Lisa ist in Dnipro. Nastja in Cherson.“
2. März: „Hallo, wie ist die Lage bei euch?“ – „Flieger. Bomben. Wie geht‘s dir?“ – „Genauso, heute war es echt eng.“ – „Und in welchem Bezirk bist du?“ – "Cholodna Hora.“ – „Oh, in der Nachbarschaft. Geh nirgendwo hin, höchstens in den Schutzraum.“
„Nastja ist in Cherson.“
„Viele Freiwillige sind zusammengekommen, um die Antoniwskyj-Brücke zu schützen, einige nahmen Busse, und die, die keinen Platz abkriegten, gingen zu Fuß. Die ersten wurden erschossen. Während der Kämpfe auf der Brücke, bereiteten die Menschen in der Stadt Molotow-Cocktails vor und stellten Panzersperren auf.
Am ersten Tag, als die Russen kamen, versammelten sich unsere Leute abends im Park im Schumenskij-Viertel, um sich zu wehren. Der Park ist mit Leichen übersät.
Vom ersten Tag an richteten die Russen Kontrollpunkte ein und bezogen ihr Hauptquartier am Busbahnhof. Ich wohnte gegenüber, ich sah sie jeden Tag. Sie betranken sich und fingen einfach an, wahllos und auf jeden zu schießen. Allabendlich fuhren sie durch die Stadt und leuchteten mit Scheinwerfern in die Fenster.
Sie begannen mit Hilfslieferungen, vor allem Lebensmittel, aber niemand nahm etwas an. Parallel dazu arbeiteten unsere Freiwilligen in allen Bezirken. Die Schwester meines Freundes half an einem solchen Anlaufpunkt, Russen kamen und forderten sie auf, sich ausziehen.
Die Medikamente gingen fast sofort aus. Die Leute brachten sie zu Fuß aus Mykolajiv. Ja, zu Fuß. Sie fanden sichere Wege und lieferten sie nach Cherson.
Tagtäglich und bei jedem Wetter versammelten sich die Menschen zu Kundgebungen mit ukrainischen Symbolen und Liedern. Dann kam die Russenarmee, um die Kundgebungen zu verhindern. Nur Russland hat solch eine spezielle Einheit, aber ich weiß nicht mehr, wie sie heißt. Die Russen warfen Lärmgranaten und Tränengasgranaten. Es gab Verwundete.
Jetzt haben viele Menschen Cherson verlassen, wahrscheinlich ein Drittel der Einwohner.“
10. Mai. „Hallo, Nastja. Bist du in Sicherheit?“ – „Guten Tag! Ja, ich konnte nach Dnipro fahren.“ – „War es schwierig, Cherson zu verlassen?“ – „Ja, es war schwierig, es hat mehrere Tage gedauert.“
Stasja in Charkiw.
28. Februar. „Ich wollte fragen, wie es mit der Zahlung für den nächsten Studienabschnitt aussieht, denn ich habe monatlich gezahlt, und jetzt kann ich für den nächsten Monat nicht mehr zahlen, und ich verstehe nicht, wie es jetzt funktioniert – wird es deswegen Probleme mit der Abrechnung geben?“ – „Natürlich nicht. Auf keinen Fall. Pass auf dich auf und verlasse nicht noch einmal das Haus oder die Unterkunft.“
16. März. „Wie geht es dir? Bist du in Charkiw?“ – „Ja, ich bin in Charkiw. Alles ist wie immer, sie bombardieren uns, aber wir haben uns daran gewöhnt.“
13. Juni. „Wie geht es dir?“ – „Guten Tag! Ich bin zu Hause, aber im Keller, also alles in Ordnung.“
„Der Keller ist das, was Campbell ‚im Bauch des Wals‘ nannte, das Stadium der Grenzüberschreitung beim Initiationsritus. Wiedergeburt.“
„Andrij Petrowytsch, ich habe ihr Tagebuch in der Ukrajinska Pravda gelesen. Ich bin froh, Sie zu kennen und erinnere mich an ihre Vorlesungen im zweiten Studienjahr. Damals war es sehr warm. Es war nicht alles umsonst. Und ich hoffe, dass wir mit ihnen bald wieder über Ulysses oder etwas anderes sprechen können. In Charkiv, an unserer Universität. Wenn sie Hilfe oder etwas anderes brauchen, lassen sie es mich wissen. Wir können ihre Familie hier in Thüringen aufnehmen, mit Unterkunft und auch finanziell helfen.“
„Andrij Petrowytsch, ich habe vor kurzem einen Gedanken gehabt (der wahrscheinlich nicht neu oder ganz frisch ist, ich habe trotzdem beschlossen, Ihnen davon zu erzählen). Literatur ist eigentlich Mythenbildung: Schriftsteller zeigen uns Aspekte der menschlichen Seele, menschlichen Verhaltens sowie menschlicher Selbstreflexion durch das Sujet, die Handlungsstränge und die Figuren. Da es irgendwie trivial ist, diese oder jene Idee einfach so auszuposaunen, und sie auf die Art auch nicht wirken wird, wenn man sie nicht fühlt und durchlebt – muss man eine Geschichte, ein Narrativ erfinden. So wie ich die Mythen verstehe, war ihre primäre und wichtigste Funktion nicht etwa zu unterhalten, sondern den Menschen Orientierung zu geben, sie zu leiten, ihnen zu helfen, existenzielle Krisen zu meistern, und unsere Psyche nimmt Ideen am besten durch Beispiele, also auch Bilder, auf. Und in der Literatur (guter), ja, Literatur ist in diesem Fall das gleiche wie ein Mythos, nur mit vielen Details in Form und Inhalt. Also stellt uns die Literatur, wie eine Art Mythos, auf die Welt und uns selbst ein.“
„Guten Tag, Andrij Petrowytsch, danke für Ihre Sorge, ich halte noch durch.
Der Studiendekan und die Dozentin des Lehrstuhls haben mich über den Beginn der Lehre informiert, aber danke, dass Sie sich auch bei mir melden!
Was den Schaden angeht: Ich habe die Hausnummer vergessen, deshalb kann ich es nicht genau sagen. Ich erinnere mich, dass Sie meinten, wir seien Nachbarn in den Häusern gegenüber der Uni. Wenn Ihr Haus gegenüber dem Haupttor der Uni oder in der Nähe der Schule Nr. 129 liegt, dann folgendermaßen: Ein Flieger hat dort eine Bombe abgeworfen; wenn es näher an Shakespeare liegt, dann schaut es anders aus. Ich versuche, es herauszufinden, kläre es jedenfalls.
Was den Unterricht angeht: Ich habe nicht die technischen Möglichkeiten, daran teilzunehmen, da die Druckwelle der Bombardierung meinen Laptop beschädigt hat und ich ihn nicht reparieren kann, nur das Handy hat gelegentlich WLAN-Empfang, aber mit Unterbrechungen.
Mit herzlichem Gruß, Jan.“
„Die Karazin-Universität nimmt das Fernstudium ab dem 28. März 2022 wieder auf.
Der Unterricht beginnt im asynchronen Online-Modus der Fernunterrichtsplattform und unter größtmöglicher Berücksichtigung der Bedürfnisse und Fähigkeiten aller am Bildungsprozess Beteiligten.
Der Prozess der Interaktion mit den Studierenden (Doktoranden) wird in einem möglichst loyalen Format organisiert:
- Die Studierende und Doktoranden haben ein Anrecht, überall eine informelle Bildung zu erhalten, deren Ergebnisse berücksichtigt werden;
- haben das Recht, für sich einen individuellen Studienplan zu erstellen;
- Der Einsatz eines Studierenden oder Doktoranden bei der Territorialverteidigung, bei den Streitkräften oder in den besetzten Gebieten stellt einen Grund für die Gewährung eines Studienurlaubs dar.
Alle diese Maßnahmen sind maximal entbürokratisiert und erfordern lediglich einen Antrag (insbesondere in elektronischer oder mündlicher Form).
Eine große Bitte an die Studierenden und Mentoren akademischer Gruppen – bitte bleiben Sie miteinander in Kontakt, ebenso wie mit den Mitarbeitern der Dekanate und der studentischen Selbstverwaltungsorgane.“
Adressat: Iryna P., Daria P., Kateryna M., Daniil G., Artur K., Vadym Pavlenko...
„Guten Tag. Ich hoffe, ihr seid in Sicherheit und alles ist mehr oder weniger in Ordnung.
Ab Morgen beginnt wieder der Unterricht an der Universität. Ihr denkt bitte daran, dass fünf Bücher über Mythen und sieben wissenschaftliche Monografien zu lesen und sieben Aufsätze darüber zu schreiben sind.
Um unsere Arbeit bis zur Wiederaufnahme von Präsenz-Vorlesungen zu organisieren, schlage ich vor, dass ihr mir allwöchentlich, jeweils bis Sonntag, einen Aufsatz schickt.
Und die Mythenanalyse des literarischen Textes heben wir bis zum Schluss auf, in der Hoffnung, dass dann die Vorlesungen wieder aufgenommen werden und ich euch etwas erzählen kann.
Wenn ihr Fragen habt, dann schreibt mir an diese Adresse oder in Viber, Whatsapp oder auf Telegram.
Passt auf euch und eure Nächsten auf.“
Wasym Pawlenko, Student des dritten Studienjahres an Karazin Universität Charkiw, starb während eines Evakuierungsversuchs aus Isjum.
„Hallo, ich bin in einem abgelegenen Dorf und habe keinen Laptop. Ist es auch okay, wenn ich in zwei Wochen zwei Aufsätze abgebe?“
„Guten Morgen. Entschuldigung, dass ich so spät antworte: Ich habe in letzter Zeit zahlreiche Anfragen und Aufgaben im Zusammenhang mit der Freiwilligenarbeit. Ist es möglich, die Aufsätze Mitte Juni abzugeben? Ich versuche jetzt, den versäumten Stoff in allen Fächern nachzuholen, und ich hoffe wirklich, dass ich das bis Ende Mai schaffe.
Mit Hochachtung vor Ihnen und Ihrem Fach.“
„Sie haben gesagt, das Chtonische ist furchtbar. Wir waren eineinhalb Monate lang in der Metrostation. Der Horror war oben.“
„Andrij Petrowytsch, gute Nacht!
Sie machen sich Sorgen um den Studenten Walentyn Sch. aus dem ersten Studienjahr an der Fakultät für Fremdsprachen, Gruppe YF-12. Wir haben Ihnen am Wochenende per Mail geschrieben, dass es Probleme mit dem Versenden der Aufsätze gibt. Leider hatten wir in den letzten 3-4 Tagen schweren Beschuss und deshalb gab es wieder keinen Strom.“
„Hallo, Walentyn. Keine Sorge, die Fristen sind flexibel, alles zu seiner Zeit, besonders in unserer Situation. Das Wichtigste ist, dass du dich um dich selbst und deine Lieben kümmerst.“
„Guten Tag!
Ich heiße Jana N. aus der Gruppe YA-11. Ich sollte Ihnen eigentlich zehn Aufsätze schicken, aber mein Haus wurde kürzlich in die Luft gesprengt und wir waren mit dem Umzug beschäftigt. Wenn es möglich ist, würde ich Sie innerhalb der nächsten zwei Tage schicken?“
„Ich bin in der Region Lwiw, in Cherwonohrad, meine Eltern sind in Deutschland, sie werden dort bleiben, weil wir haben kein Zuhause mehr, aber die Hauptsache ist, dass wir alle am Leben sind.“
„Ja sicher, Julija Anatolijiwna, bei mir ist es das gleiche. Ich sehe, was abgeschrieben wurde. Aber es wurde nicht richtig abgeschrieben. Sie sind am Leben, Gott sei Dank! Sie bekommen Ihre credit points.“
„Guten Morgen, Andrij Petrowytsch!
Leider hatte ich keine Zeit, zusätzlich zu der Arbeit, die ich bereits abgegeben habe, noch eine weitere fertig zu schreiben. Viele Dozenten haben schon angefangen, bis Ende Juni neue Aufgaben zu stellen.
Ich hoffe aber, dass ich in den nächsten zwei Wochen alles in den Hauptfächern fertigstellen kann, und in der vorlesungsfreien Zeit werde ich weiter Aufsätze schreiben. Die Mythos-Analyse wird, mit Ihrer Einwilligung, in der zweiten Julihälfte, also nach der Prüfungszeit, fertig sein.“
„Guten Tag. Hier schreibt Hanna K., Studentin von LC-11. Ich schicke Ihnen eine Zusammenfassung von Kapiteln über Long. Ich bin jetzt in der Region Cherson, wo es Probleme mit der Kommunikation und dem Internet gibt, WiFi funktioniert in der Stadt nur an einigen öffentlichen Plätzen (ich bin jetzt auf einem solchen). Deshalb werde ich die Zusammenfassungen nicht rechtzeitig verschicken können, aber ich werde versuchen, es so bald wie möglich zu machen.“
„Andrij Petrowytsch, guten Tag!
Hier ist noch einmal Walentyn Sch., Student der Gruppe YF-12 ihres Kurses über Mythologie. Gestern bin ich mit meiner Familie in den USA angekommen. Die Reise hat mehr als einen Monat gedauert. Können Sie mir bitte sagen, ob ich noch Zeit habe, vielleicht noch heute oder morgen, Ihnen meine vier ausstehenden Aufsätze zu schicken? Und entschuldigen Sie bitte diese Verspätung.“
„Die Mythenanalyse ist fast abgeschlossen, jetzt müssen wir uns noch um die Vögel kümmern. Übrigens singen sie in Charkiw nicht mehr. Auf der Fahrt nach Hannover, quer durch Polen, haben wir das Fenster des Waggons aufgemacht. Die Vögel haben den ganzen Weg über gesungen. Es war seltsam und beruhigend. Und in Hannover geht die Sonne spät unter und die Vögel singen, bis es dunkel wird. Am Morgen dämmert es früh, und die Vögel singen schon um halb sechs. Kein bloßes Zwitschern, oder eine vorbeifliegende Krähe, sondern richtiges Singen. Aber bei uns in Charkiw sang nur ein Papagei, der im Erdgeschoss auf den Balkon gebracht wurde.“
„Jetzt bin ich in Charkiw. Es gibt Probleme mit dem Internet im Wohnheim, und es findet heftiger Beschuss statt. Was soll ich machen, um Ihren Kurs abzuschließen?“
„Sicher, Julija Anatolijiwna, jetzt gibt es nur noch eine Wissenschaft – die Wissenschaft des Überlebens. Und darin sind wir alle Studenten.“
„Was soll ich in die Spalte ‚Information‘ bei den verstorbenen Studenten eintragen? ‚Keine Rückmeldung‘? Das kann ich nicht.“
„Guten Tag. Zur Information – ausdrucken, ausfüllen und ein Foto schicken? Und in Papierform – nach dem Krieg?“
(Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil)