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22.11.2023, 14:40 Uhr
Omri Boehm
Text & Debatte

Omri Boehm über die Herausforderungen des Humanismus und das deutsch-jüdische Erbe

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© Catherina Hess

Anlässlich der Eröffnung des diesjährigen Literaturfests München hielt der israelische Philosoph und Hochschulgelehrte Omri Boehm eine inspirierende Rede über das herausfordernde Erbe des Humanismus und folgt dabei der Idee der einen Menschheit aus dem Geiste des ethischen Monotheismus und der deutsch-jüdischen Aufklärung in die heutige „finstere Zeit“.

Omri Boehm wurde 1979 in Haifa geboren. Der Enkel einer deutschjüdischen Großmutter und eines iranischjüdischen Großvaters wuchs in Israel auf, besitzt aber auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Boehm studierte in Tel Aviv und promovierte 2009 an der Yale University in Philosophie. Seit 2010 lehrt er Philosophie an der New School for Social Research in New York. Ein Postdoktoranten-Projekt führte ihn für einige Zeit auch nach München. Seitdem fühlt er sich, wie er sagt, mit dieser Stadt verbunden.

In seiner Festrede, der „Keynote“, geht Boehm der Frage nach, inwieweit es heute überhaupt noch möglich sei, einen echten, universalistischen ethischen Anspruch zu formulieren. Dabei stellt er die Frage nach der Würde des Menschen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Mit der freundlichen Genehmigung des Literaturhauses München drucken wir hier seine erhellende, prägnante Rede ab. Omri Boehm hielt seine „Keynote“ auf Englisch. Sie wurde von Jan Schönherr wie folgt ins Deutsche übersetzt.

*

Im Jahre 1924 nahmen Martin Buber und Franz Rosenzweig eine Mammutaufgabe in Angriff: eine Übersetzung der Bibel aus dem Hebräischen ins Deutsche. Als Rosenzweig 1929 früh verstarb, war die Arbeit der zwei überragenden deutsch-jüdischen Philosophen noch nicht beendet, sodass Buber sie allein fortsetzte. Eine erste Fassung vollendete er 1938, dem Jahr, in dem er aus Berlin nach Jerusalem floh. Die Schrift, so lautete schließlich der deutsche Titel, darf noch heute als eines der wichtigsten Werke der modernen deutschen Literatur gelten, als eins der wichtigsten Dokumente des zerrütteten Erbes dessen, was Buber einstmals die „deutsch-jüdische Symbiose“ nannte – ein Begriff, der später eine tragische Wendung erfuhr.

Dieses Übersetzungs- oder, genauer gesprochen, Verdeutschungsprojekt war gleichermaßen eine Form der Assimilation von Juden an die deutsche Kultur wie eine spezifisch jüdische Abgrenzung davon. Und gerade in dieser Mischung aus Assimilation und Abgrenzung war es zugleich die Neukonzeption eines deutsch-jüdischen Erbes, eines „Wirs“ in der ersten Person Plural für die deutschen Juden.

Assimilation war Bubers und Rosenzweigs Schrift, insofern sie darauf abzielte, den deutschen Juden eine ganz eigene deutsch-jüdische Identität zu geben. Deutsche Juden sollten die Bibel auf Deutsch lesen können, das sie als ihre Sprache ansahen. So gesehen lässt sich die Buber-Rosenzweig-Verdeutschung gut mit der von Martin Luther vergleichen, die es den Deutschen ermöglichen sollte, die Heilige Schrift in ihrer Sprache zu lesen.

Und doch offenbart der Vergleich mit Luther ebenso die jüdische Abgrenzung von deutscher Kultur. Die Übersetzung sollte es deutschen Juden ermöglichen, die Bibel auf Deutsch zu lesen, aber eben nicht im Deutsch Martin Luthers, soll heißen: nicht vermittelt durch eine christliche, womöglich sogar antisemitische Aneignung des jüdischen Texts. Deutsche Juden suchten also bei der Konstruktion ihres deutsch-jüdischen Erbes nach einer direkten Verbindung zu ihrer spezifisch jüdischen Herkunft – nach ihren Wurzeln, ihren radices.

Diese Geste der gleichzeitigen Assimilation und Abgrenzung ist auch als jüdische Auseinandersetzung mit dem politischen Zeitgeist zu verstehen, insbesondere mit der politischen Kultur der Weimarer Republik. Auch Weimar war damals auf der Suche nach seinen Wurzeln, suchte diese allerdings in einer dem hebräischen Text entgegengesetzten, griechischen Tradition. Man denke nur an Nietzsches Auflehnung gegen die biblische Religion als eine Art „Sklavenmoral“, wie er dazu sagte; er wollte eine Neubelebung europäischer Kultur, die sich jedoch aus der griechischen Tragödie speisen sollte statt aus hebräisch-jüdischen Ursprüngen. Es lässt sich argumentieren, dass Weimar nicht nur gegen die hebräische Bibel antrat, sondern gegen eine konkrete, mit ihr einhergehende Idee: die eines ethischen, universalistischen Monotheismus. Das griechische Erbe – sprich: eine Kultur des Polytheismus – sollte als authentische Herkunft wiederentdeckt und bekräftigt werden, als Alternative zum vermeintlich fremden Einfluss des Monotheismus der Bibel. Auch das lässt sich gut an Nietzsche zeigen, wenn dieser schreibt: „Der Monotheismus dagegen […] – also der Glaube an einen Normalgott, neben dem es nur noch falsche Lügengötter gibt – war vielleicht die größte Gefahr der bisherigen Menschheit.“ (Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1982, S. 147.)

Nietzsche und Weimar strebten also die Wiedergeburt eines angeblich authentisch europäischen, toleranten, nicht-jüdischen, griechisch-polytheistischen Perspektivismus an. Bubers und Rosenzweigs Schrift kann demgegenüber als Versuch gesehen werden, trotz allem das Erbe des ethischen Monotheismus des Judentums zu bekräftigen – und als jüdische Kritik eines modernen europäischen Polytheismus.

Das Projekt währte nicht lang: Es wurde vom Krieg unterbrochen und dann von der systematischen Vernichtung des europäischen Judentums in der Shoah erdrückt. Buber schloss seine Übersetzung nicht in Deutschland ab, sondern als Zionist (der wohlgemerkt für einen bi-nationalen Zionismus eintrat) in Palästina, wohin auch viele andere deutsch-jüdische Denker der Weimarer Zeit gegangen waren – zumindest die, die überlebt hatten: Auch Gershom Scholem, Nathan Rotenstreich und Hugo Bergmann, Kafkas Freund aus Prag, der mit Buber zusammengearbeitet hatte, verschlug es nach Palästina. Adorno und Arendt landeten an der New School for Social Research in New York, Ernst Cassirer in Yale. Hermann Cohen, der Ur-Kantianer der deutschen Philosophie und Pate des deutsch-jüdischen Denkens – eine bemerkenswerte Kombination –, war zu seinem Glück schon früher verstorben, doch seine Frau Martha Cohen wurde als über Achtzigjährige in Theresienstadt ermordet. Auch Walter Benjamin hat bekanntlich nicht überlebt. All diese Denkersind freilich sehr unterschiedlich; gerade deshalb ist es aber so bedeutsam, dass man sie alle nur richtig verstehen kann, wenn man beachtet, wie sie im Kern ihres zeitkritischen, politischen Engagements den ethischen Monotheismus der biblischen Propheten bekräftigten.

Lassen Sie mich nun ins Jahr 1953 springen: Damals unternahmen Rotenstreich und Bergmann etwas ganz Ähnliches wie Rosenzweig und Buber, nur in umgekehrter Richtung: In Israel – als deutsche Exilanten, wenn Sie so wollen – übersetzten sie Kants Kritik der reinen Vernunft ins Hebräische. Eine Kluft trennt diese beiden Unternehmungen: Auf der einen Seite die Notwendigkeit, die Bibel aus dem Hebräischen ins Deutsche zu übertragen, um deutsch-jüdischen Monotheismus in Weimar sowie eine Kritik der Weimarer Kultur zu ermöglichen, auf der anderen der Bedarf an einer Übersetzung der „Kritik der reinen Vernunft“ aus dem Deutschen ins Hebräische, damit sich in Israel eine Kultur der Aufklärung bilden konnte – und damit auch ein aufgeklärter, selbstkritischer Zionismus. Dass ausgerechnet ein palästinensischer Intellektueller und Politiker die erste, noch heute kanonische Übersetzung von Kants Schrift „Was ist Aufklärung?“ ins Hebräische veranlasst hat, verleiht dem Entwicklungsverlauf dieses zerrütteten Erbes noch einmal eine ganz eigene Dimension.

Das ist die Kluft, die sich in unserer Tradition auftut: Nicht nur die Schwierigkeit, den ethischen Monotheismus als lebendiges Erbe zuerkennen, und andererseits die mangelnde Fähigkeit, wieder eine Verbindung zu zionistisch-aufklärerischem Denken herzustellen, sondern die Schwierigkeit, den Abgrund überhaupt zu bemerken, der zwischen den beiden geschaffen wurde und der unser Denken heute bestimmt. Die Schwierigkeit, einen echt universalistischen ethischen Standpunkt zu formulieren – und eine Kritik unserer Gegenwart, in der eine Arendt, ein Buber oder ein Cassirer, so unterschiedlich sie auch waren, noch einen Fortschritt in ihren Fußstapfen erkennen könnten.

Ein Autor, der diesen Mangel nicht nur aus historischer Perspektive beleuchtet, ist Navid Kermani. Zu Beginn seines Buchs Zwischen Koran und Kafka spricht er eindringlich über den „leer gelassenen Platz“ der „jüdischen Kosmopoliten“, die in Deutschland die „Idee der Propheten“ mit sich trugen.

Diese Propheten, so zitiert Kermani eine israelische Freundin, könnten, heute nicht mehr reden (auch wenn sie könnten, dürften sie ja nicht)“, und doch suchen wir noch immer nach ihrer Stimme: „[E]s geht ja darum, so gut es eben geht, mit unseren beschränkten Mitteln, Erfahrungen und Worten den Platz zu füllen, der im 20. Jahrhundert so leer wurde“; „Wie auch immer es ausfällt, bleibt der Platz in Deutschland schrecklich leer.“

Mir scheint, Kermani hat Recht. Wir wissen zwar, wie man die Geschichte dieses deutsch-jüdischen Erbes schreibt, aber können wir sein Projekt auch heute noch als lebendig ansehen? Nicht nur in Deutschland, nicht nur in Israel, sondern in größerem Sinne, als politisch-intellektuelle Kritik unserer Gegenwart? Ein solcher Trend ist nicht in Sicht: Weder die amerikanische noch die europäische Geisteswelt haben ihn aus der kantischen Tradition aufgegriffen, der Postkolonialismus schon gar nicht, und auch in der Frankfurter Schule scheint er mir aktuell nicht lebendig zu sein. Allerdings glaube ich, wir können sehr wohl den Ruf benennen, dem die ethischen Monotheisten in Weimar folgten. Er bestand letztlich in dem Gedanken, dass universalistischer Monotheismus nicht etwa mit der Idee des Einen Gottes anfängt, sondern mit der Idee der einen Menschheit. Unabhängig davon, wie sehr all diese Denker sich voneinander unterschieden, hatten sie diese Idee sozusagen alle in ihrem kollektiven Gepäck. Im Vorwort zu Hermann Cohens letztem, postum erschienenen Werk spricht seine Frau Martha Cohen vom „unerschütterlichen Vertrauen“ ihres Manns in die „fortdauernde Lebenskraft des Judentums“ – eine Lebenskraft, deren Höhepunkt dieser „in den Propheten [sah], mit denen er sich lebenslang verbunden fühlte.“ Und wie Cohen selbst schreibt, besteht der Geist der Propheten im „Triumph der Religion der Propheten über die Philosophie der Ethik: dass sie allein die Idee der Menschheit entdeckt hat.“ Und hinsichtlich der Auseinandersetzung des Monotheismus mit dem griechischen Polytheismus: Der Triumph der Propheten über die Philosophie ist der des hebräischen ethischen Monotheismus über den Polytheismus der griechischen Philosophen, wobei der Monotheismus sich hier vom Polytheismus weniger in Bezug auf Gott unterscheidet als in Bezug auf die Menschheit. Darin liegt der springende Punkt: Cohen war überzeugt, dass der Humanismus der Propheten sich eben doch philosophisch bestätigen lässt, und zwar genau durch die Idee der Menschheit, wie Kant sie vielleicht am prägnantesten in Was ist Aufklärung? formuliert hat.

Die Idee der einen Menschheit traf damals wie heute auf finstere Zeiten. Aber vielleicht ist gerade dies die Definition einer finsteren Zeit: eine, in der die Idee von der Menschheit in Bedrängnis gerät. Die Meisten von uns stehen nach wie vor zu der Aussage „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, doch während das eine politische Lager sie unablässig wiederholt, aber kaum über die Grundlagen verfügt, die unbedingte Pflicht zu verstehen, die aus dem Begriff „unantastbar“ folgt (oder über das Verantwortungsbewusstsein, diese Pflicht auch zu erfüllen), begreift das andere politische Lager dieses universalistische, ja kantische Gebot nicht etwa als Antwort auf vergangene und gegenwärtige Verbrechen, sondern als deren Grund – und als den Grund für westliche Gewalt und Ausbeutung. Humanismus ist aus dieser letzteren Perspektive bloß eine Maske der Herrschenden: Sie maskiert die Zerstörung von Natur, die Kolonisierung ganzer Kontinente sowie die Versklavung, wenn nicht sogar Ermordung unzähliger Menschen. Vor etwas mehr als einem Monat konnte man die ganze Auseinandersetzung zwischen vorgeblichem Universalismus und Postkolonialismus noch für eine lediglich akademische Debatte halten – oder schlimmer: für eine Sammlung kleinlicher Anekdoten, sowohl auf Seiten der Vertreter der Identitätspolitik als auch auf der ihrer Kritiker. Seit dem 7. Oktober wissen wir, was auf dem Spiel steht. Nachdem wir erst den abscheulichen Anschlag der Hamas auf israelische Zivilisten (und das Zögern gewisser Kreise, sich klar dagegen auszusprechen) erlebt haben und danach die Bombardierung von Gaza (sowie die kalte Schulter, die bestimmte andere Kreise angesichts einer sich anbahnenden humanitären Katastrophe dem Völkerrecht zeigen), wissen wir um die Gefahren einer Gesellschaft, in der kaum ein politisches Lager bereit ist, wahrhaft universalistische Gebote zu verteidigen.

Kann das Erbe des Humanismus heute noch überleben? Hat der Universalismus noch Platz im geistigen Erbe der Zukunft, oder wird er in Verruf gebracht werden, einerseits durch den Vorwurf des Rassismus und Kolonialismus, andererseits durch den des Antisemitismus? Ist echter Universalismus nur naive Schwärmerei, wie manche liberalen Denker uns glauben lassen möchten? Oder müssen wir unser Denken von ihm dekolonisieren, wie andere uns erklären? Die von Kant formulierte und von seinen geistigen Nachkommen wie Cohen, Cassirer und Arendt vertretene Einsicht lautete, dass die Idee eines humanistischen Universalismus sich retten lässt – aber nur, wenn wir sie richtig verstehen. Nicht als essenzialistische, biologische Beschreibung dessen was wir faktisch sind, sondern als moralische Aufgabe. Dass wir Menschen, dass wir menschlich sind, ist keine simple Tatsache – und kann streng genommen auch gar keine sein. Nein, wir sind imstande, unser Menschsein zu denken, weil – oder wenn – wir fähig sind, das Gebot zu befolgen, menschlich zu sein. Dieses Gebot wurde in der Mischna ausgedrückt, in den Sprüchen der Väter, in einem auf Hebräisch sehr bekannten Ausspruch, der mir seit dem 7. Oktober nicht mehr aus dem Kopf geht: במקום שאין אנשים, השתדל להיות איש , „Wo es keine Menschen gibt, bemühe dich, menschlich zu sein.“ Wie bereits Kant (und interessanterweise im Gegensatz zur griechischen Philosophie) wusste auch die deutsch-jüdische Tradition, um die es mir geht, genau, dass das Menschsein dem Menschen keineswegs natürlich ist. Und sie wusste auch, dass man das Menschsein in Zeiten schwerster Prüfungen – wie in der unseren heutzutage – als unnatürlich darstellen kann.

Die vielleicht schwerste solche Prüfung findet sich in der Bibel, in der Geschichte von Sodom und Gomorra im 1. Buch Mose. Gott lässt Abraham wissen, dass er vorhat, die gesamte Stadt Sodom dem Erdboden gleichzumachen, weil sie gesündigt hat. Abrahams Antwort ist bekannt. Er tritt vor und sagt, in der Übersetzung von Buber und Rosenzweig:

Willst du wirklich den Bewährten raffen mit dem Frevler? Vielleicht sind fünfzig Bewährte anwesend drin in der Stadt, willst du die wirklich raffen? Willst du‘s dem Ort nicht tragen der fünfzig Bewährten wegen in ihrer Mitte? Weitab sei dir nach dieser Rede zu tun, den Bewährten mit dem Frevler zu töten, dass Gleiches dem Bewährten, Gleiches dem Frevler geschehe, weitab sei es dir! Alles Erdlands Richter, wird der nicht das Recht tun?

In Abrahams Versuch, selbst gegenüber der Macht seines Gottes menschlich zu bleiben, liegt das eigentliche Erbe des ethischen Monotheismus. Es geht in ihm nicht nur darum, die Existenz eines einzig wahren, alle anderen ausschließenden Gottes zu behaupten, sondern darum, die Instanz der Gerechtigkeit universell zu setzen, sodass diese über allem steht, sogar über der Gottheit. Und noch wichtiger ist vielleicht: Angesichts der Zurückweisung aller Macht mit Blick auf das Gebot der Gerechtigkeit, hatte kein Mensch der Welt jemals das Recht, irgendjemandem zu gehorchen. Und genau das Wesen, das dieses Recht nicht hat, ist absolut maßgeblich.

Unter dem Eindruck des 7. Oktobers stellte David Grossman die Frage: „Wer werden wir sein, wenn wir aus der Asche erstehen?“ Er stellte sie auf Hebräisch, in der ersten Person Plural, und das ist auch für mich die natürlichste Weise, sie zu stellen. Aber sie muss anderswo gestellt werden hier, beispielsweise: Wer werden wir sein? Es ist eine offene Frage, und sie wird nicht nur von uns – was immer „uns“ hier überhaupt bedeutet – beantwortet werden. Wenn noch irgendein Erbe des universellen Humanismus eine Zukunft hat, dann nur, indem man es wagt, die Antwort gewissermaßen vor die Frage zu stellen. Wir werden nicht die sein, die eine Antwort darauf geben, sondern die, die von der Antwort geeint werden – von einer, die heutzutage nur wenige zu geben bereit sind: dass nämlich die einzige Möglichkeit, die Leben der Menschen auf der einen Seite als unendlich wichtig zu begreifen, darin besteht, die Leben der Menschen auf der anderen Seite als gleichermaßen unendlich wichtig anzusehen. Und dass deshalb jede mögliche Lösung für diese Finsternis politisch sein muss, nicht militärisch – ausgehend vom einzigen Prinzip, das man kontextlos verfechten sollte: Die Würde des Menschen ist unantastbar.