Lehrjahre eines Sprach-Gesellen: Uwe Timm gibt Auskunft über seine Sozialisation
In seinem neuen Buch Alle meine Geister erzählt Uwe Timm von seinen Lehrjahren als Kürschner im Hamburg der Fünfzigerjahre. Von kuriosen Erlebnissen im Beruf und der Welt der Mode, von besonderen Freundschaften und den Büchern, die sein Leben verändert haben. Christian Schüle hat Timms Erinnerungsbuch für uns gelesen.
*
Im Grunde dreht es sich in diesem Buch um Initiationen. Um Erstbegegnungen und Einführungen, um Biografiegeschichte und die Sozialisation eines künftigen Schriftstellers, dessen Aufbruch an der Abbruchkante der Republik begann. Hamburg, im März 1955. Nach der Flucht aus Hamburg nach Coburg wieder zurück in seiner Geburtsstadt, wird der noch vierzehnjährige Uwe Timm von seinem Vater beim Konkurrenten Levermann zur Kürschnerhandwerkslehre angemeldet. Das Modehaus Levermann in der Hamburger Innenstadt, das größte Pelzgeschäft Levermann, ist mitten in der Stadt, so elegant wie solide, und hat sechzig Angestellte; Pelze Timm, das Geschäft des Vaters, kommt nur auf zwölf. Die Herren Levermann und Timm verkörpern, nach der NS-Diktatur und dem großen Morden des Zweiten Weltkriegs, als selbstständige Unternehmer die aufgehende Nachkriegsrepublik. Timm gliedert sein Buch – und also seine Lehrjahre – nicht in Kapitel, sondern in zahllose Episoden. Rahmen der Erzählung sind die fünf Jahre von 1955 bis 1960. Alle meine Geister ist kein Roman, aber eine romanhafte Erzählung über die selbst erlebte Vergangenheit. Timm, der Lehrling, mit Blick aus dem Fenster auf die Hamburger Binnenalster, träumt vor sich hin, stolpert hier und da, stößt an Tische und schärft Tag für Tag, unterm Diktat der Stechuhr, seinen Blick für Felle und Schnitte, sublimiert den Sinn für Zeit und Schönheit, das Gefühl für Material und Zuschnitt. Mit dem Mut zur Ausführlichkeit schildert Timm, der Autor, Details und Finessen des Kürschnerhandwerks, Nerz, Nutria und Persianerfelle mit Zackennaht, wie man sie so noch nicht gelesen hat. Er, der heutige Autor, ist zugleich sein eigener Protagonist. In poetischen Pastichen und stilistisch eleganten Gouachen ersteht das Hamburg der Fünfziger Jahre wieder auf: Man sieht förmlich die Grafitschwärze auf den Arbeiter-Gesichtern der neben Levermanns mondänem Pelzgeschäft an der Alster gelegenen Batteriefabrik Habafa, und man sieht den Lippenstift der feinen Damen, für deren elegante Erscheinung in Pelz die Kürschner mit der Haut toter Tiere arbeiten.
Der Erzählfluss ist ein beständiger Strom subjektiver Erinnerungen, mit Sedimenten, Fetzen und aphoristisch anmutenden Lebensweisheiten. Manchmal sind es Schnipsel, manchmal Sentenzen, manchmal längere Szenen, alles in allem von Reflexionen unterbrochene, mit der Kunstfertigkeit des Handwerkers fast beiläufig einmontierte Anekdotenfragmente. Wunderbar, wie die Gestalten ins Texte-Gewebe einhuschen, wie sie geisterhaft auftauchen, so unkonkret wie an anderer Stelle detailliert, in verblüffender Verklärung ebenso wie in zarter Unschärfe, jederzeit aber mit rhythmisch schön phrasierter Sprache. Timms Geister sind sowohl reale Menschen als auch virtuelle Autoren; die doppelte Geisterbeschwörung zieht sich, in parallel laufenden Strängen und immer aufeinander bezogen, durch den gesamten Text über jene fünf Hamburger Jahre, in denen der junge Uwe Handwerk, Lesen und Leben lernte. Er trifft etwa auf den Jazzfanatiker Drechsler, auf den noch immer zackigen Leutnant zur See Breitkamp und den betont exquisiten Gesellen Dieter Zoern, der später zum international bekannten deutschen Modedesigner wird. Er begegnet Johnny-Look und dem „Roten Erik“, mit denen er die Reize der Reeperbahn und der Liebe erfährt. Unter allen, die ihn heimsuchen, ist Walther Kruse, dessen Haus und Schrebergarten auf der Halbinsel Veddel, südlich der Stadt Hamburg, war, womöglich der wichtigste Geist.
Kruse steht in der Hierarchie der Kürschner ganz oben. Der junge Timm wird ihm im zweiten Lehrjahr zugeteilt, kurz vor der Gesellenprüfung bietet der Meister ihm das ‚Du’ an. Die ganze Zeit über liest man bereits in der Ahnung, dass Walther Kruse mehr ist, ein geistig-intellektueller Ziehvater, denn dieser Kruse, der im Auftrag eines Kapitalisten Pelze für die Reichen herstellt, ist bekennender Sozialist. Und ein nach wie vor eifriger Hitlerhasser, der es nie verwand, dass „seine“ Sozialdemokraten 1933 zu den Nazis überliefen. Kruse, das Gegenstück zum nichtsgewussthabenden wollenden Kriegsvater Timm, leugnet eine ‚Stunde Null’ ab 1945, überredet den jungen Uwe aber nie, in die SPD einzutreten, und leiht ihm stattdessen Eugen Kogons Der SS-Staat. Mit diesem Buch zieht Timm sich seine Empörung zu – für den späteren Vertreter engagierter Literatur geradezu eine Erweckung.
Literarische Initiationserlebnisse, die ja keinem Leser unbekannt sind, lassen Timm noch heute von seinen ersten Begegnungen mit entscheidenden Werken schwärmen. 1956, als fast Sechzehnjähriger, liest er Dostojewski und beginnt ihn zu lieben. Im „Idioten“ und Epileptiker Fürst Myschkin erkennt der Teenager eine Art Bruder. Dostojewski lehrte den Lehrling, so schreibt der Autor heute, „welch ausschließende Macht das Konstrukt des Normalen hat, wie es das Ein – und Unterordnen bestimmt.“ Den großen Roman liest Timm größtenteils am Hundestrand in Travemünde bei Lübeck, ehe es, Sonntagabend, von der Ostsee zurück nach Hamburg geht.
Die Rückfahrt am späten Abend im überfüllten Zug mit all dem von Sonne und Wind müde braun gebrannten Fleisch. Draußen zog die Holsteinische Landschaft vorbei, schwarz-weiße Kühe, Knicks, kleine umbuschte Toteistümpel, daraus aufrudernde Krähen, am Wegrand Milchkannen, solitäre Eichen. Es roch nach getrocknetem Schweiß und Sonnenöl, und das erschöpfte Schweigen galt schon dem kommenden Tag, dem Montag.
Es sind vor allem Dostojewski und Tolstoi, die beiden bedeutenden Russen, die ihn damals prägen. Der Autor Timm zitiert sie seitenlang und liefert kompakte Exegesen des Idioten oder der Anna Karenina. Bei Tolstoi lernt er die Literatur als Handwerk zu verstehen – das Ausbessern, Ausstreichen, Überschreiben und Verschieben von Textteilen, wie es analog bei den Textilien im Pelzhandwerk auch geschieht. Ausgeschnitten, gekürzt, arrangiert: Pelz wie Roman sind in erster Linie handwerklich gefertigte Produkte, auch wenn im mittelalterlichen Florenz das Pelzhandwerk als große Kunst galt. Tier und Text, beide in gewisser Weise tote Materie, werden durch Tragen und Lesen in Pelz und Buch zum Leben erweckt.
Schreiben ist also ebenso Handarbeit wie Kürschnern. Die hoch verfeinerte Arbeit mit den Häuten der Tiere erzieht Timm zu einer Präzision und Wahrhaftigkeit, die seiner Prosa bis heute eigen ist. Wie er drei historische Zeitebenen auf knappen Raum von fünf Seiten inhaltlich ineinander verwebt – der Geselle im Nachkriegshamburg der 50er, der sich nach Walther Kruses „Verrat“ der Sozialdemokraten an der guten Sache 1933 wie Dostojewskis Fürst Myschkin 1868 verhält – das ist, um im Bilde des Handwerks zu bleiben, meisterlich. Brecht verehrt der Teenager für dessen staunenswerten Reichtum an Formen und Rhythmen, Gottfried Benn für die große Meisterschaft des Anziehend-Abstoßenden. Er lernt den Autor der bewunderten Gedichte ‚Teils-Teils‘ oder ‚D-Zug‘ vom NS-nahen Menschen zu trennen – auch gegen die Intention des Autors kann ein Werk seine eigene Kunstschönheit haben. Und an der Prosa Alfred Brehms und dessen Buch Brehms Tierleben geschult, erkennt Timm schließlich, welcher Sprachverlust entstehen könnte, würde das Deutsche zugunsten des Englischen noch weiter aus den Wissenschaften verdrängt.
Von Brehmscher Sprachmächtigkeit wiederum ist die Schilderung seines Versagens bei der Arbeit an einem Nerzkragen; wie man wieder alles auftrennen muss, mühselig, die schmalen Streifen mit Stecknadeln auf einem Brett feststecken, die Bahnen mussten neu genäht werden, ein wenig wie das Handwerk des Schreibens, wo man auch verrechnet, auftrennt, neu näht. Was Timm beim Kürschner lernt, wendet er später als Schriftsteller selbst an: die Akkuratesse der Naht. Angemessene Kürze und notwendige Präzision bringen das herrliche Wort „Krähengewitter“ hervor. Vollendetes Nature Writing.
Uwe ist gerade achtzehn, 1958, da stirbt sein Vater in einer heißen Nacht am Herzinfarkt. Das Geschäft ist da bereits längst völlig verschuldet, und der just volljährig gewordene Uwe übernimmt schließlich den Laden seiner Eltern und führt ihn mit der Mutter einige Jahre weiter. Dann kommt die Insolvenz, Pelze-Timm ist passé, für den jungen Timm beginnt jetzt die selbstbestimmte Freiheit. Der junge Mann, mittlerweile zwanzig, wird nach bestandem Intelligenztest auf das Kolleg nach Braunschweig übersiedeln, um dort das Abitur nachzumachen, aber erst einmal mit seinem Kumpel Jensen nach Schweden reisen. Jensen ist ein Synonym, seinen richtigen Namen erfahren wir nicht, aber mit seinem Buch beschwört Uwe Timm nicht nur die freundlichen Geister und den Geist der Freundschaft herauf, sondern spricht den verlorenen Freund direkt an und lädt Jensen schriftlich zum Wiedersehen ein.
Alle meine Geister ist kein Roman, sondern ein Memoir. Eine Hommage an das Handwerk in Zeiten virtueller Realitäten, ein Plädoyer für die Mühe und Bemühung und die Disziplin. Seine akribische Beschreibung akribischer Arbeit darf man ohne weiteres als wohltuenden Kommentar auf die leere Oberflächlichkeit unserer Gegenwart lesen. Dieser prosaische Werkstattbericht eines lernenden Schriftstellers wirkt wie ein mit Menschen und Motiven gefüllter Reminiszenzspeicher, der wertvolle Verweise auf Timms ganzes Werk anbietet. Die fein verästelte Erinnerungsprosa erzählt von Deutschland auf eine Weise, wie man es diesertage nur noch selten unter die Augen bekommt: gelassen, souverän, aufrichtig und unaufgeregt. Im Leben des Uwe Timm, der schließlich dem großen Albert Camus und dessen Roman Der Fremde verfällt und dessen Poetik sich als „Anschreiben gegen das Vergessen“ entwickelt, gibt es sicher auch nach 1960 noch zahlreiche Bekannte, die irgendwo in der Tiefe seines Raums lungern und schweben, was Grund zur Hoffnung gibt, sich auf weitere Geisterbeschwörungen zu freuen.
Uwe Timm: Alle meine Geister. Roman. Kiepenheuer&Witsch, Köln 2023, 288 S., EAN 978-3-462-00549-3, € 25,00.
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In seinem neuen Buch Alle meine Geister erzählt Uwe Timm von seinen Lehrjahren als Kürschner im Hamburg der Fünfzigerjahre. Von kuriosen Erlebnissen im Beruf und der Welt der Mode, von besonderen Freundschaften und den Büchern, die sein Leben verändert haben. Christian Schüle hat Timms Erinnerungsbuch für uns gelesen.
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Im Grunde dreht es sich in diesem Buch um Initiationen. Um Erstbegegnungen und Einführungen, um Biografiegeschichte und die Sozialisation eines künftigen Schriftstellers, dessen Aufbruch an der Abbruchkante der Republik begann. Hamburg, im März 1955. Nach der Flucht aus Hamburg nach Coburg wieder zurück in seiner Geburtsstadt, wird der noch vierzehnjährige Uwe Timm von seinem Vater beim Konkurrenten Levermann zur Kürschnerhandwerkslehre angemeldet. Das Modehaus Levermann in der Hamburger Innenstadt, das größte Pelzgeschäft Levermann, ist mitten in der Stadt, so elegant wie solide, und hat sechzig Angestellte; Pelze Timm, das Geschäft des Vaters, kommt nur auf zwölf. Die Herren Levermann und Timm verkörpern, nach der NS-Diktatur und dem großen Morden des Zweiten Weltkriegs, als selbstständige Unternehmer die aufgehende Nachkriegsrepublik. Timm gliedert sein Buch – und also seine Lehrjahre – nicht in Kapitel, sondern in zahllose Episoden. Rahmen der Erzählung sind die fünf Jahre von 1955 bis 1960. Alle meine Geister ist kein Roman, aber eine romanhafte Erzählung über die selbst erlebte Vergangenheit. Timm, der Lehrling, mit Blick aus dem Fenster auf die Hamburger Binnenalster, träumt vor sich hin, stolpert hier und da, stößt an Tische und schärft Tag für Tag, unterm Diktat der Stechuhr, seinen Blick für Felle und Schnitte, sublimiert den Sinn für Zeit und Schönheit, das Gefühl für Material und Zuschnitt. Mit dem Mut zur Ausführlichkeit schildert Timm, der Autor, Details und Finessen des Kürschnerhandwerks, Nerz, Nutria und Persianerfelle mit Zackennaht, wie man sie so noch nicht gelesen hat. Er, der heutige Autor, ist zugleich sein eigener Protagonist. In poetischen Pastichen und stilistisch eleganten Gouachen ersteht das Hamburg der Fünfziger Jahre wieder auf: Man sieht förmlich die Grafitschwärze auf den Arbeiter-Gesichtern der neben Levermanns mondänem Pelzgeschäft an der Alster gelegenen Batteriefabrik Habafa, und man sieht den Lippenstift der feinen Damen, für deren elegante Erscheinung in Pelz die Kürschner mit der Haut toter Tiere arbeiten.
Der Erzählfluss ist ein beständiger Strom subjektiver Erinnerungen, mit Sedimenten, Fetzen und aphoristisch anmutenden Lebensweisheiten. Manchmal sind es Schnipsel, manchmal Sentenzen, manchmal längere Szenen, alles in allem von Reflexionen unterbrochene, mit der Kunstfertigkeit des Handwerkers fast beiläufig einmontierte Anekdotenfragmente. Wunderbar, wie die Gestalten ins Texte-Gewebe einhuschen, wie sie geisterhaft auftauchen, so unkonkret wie an anderer Stelle detailliert, in verblüffender Verklärung ebenso wie in zarter Unschärfe, jederzeit aber mit rhythmisch schön phrasierter Sprache. Timms Geister sind sowohl reale Menschen als auch virtuelle Autoren; die doppelte Geisterbeschwörung zieht sich, in parallel laufenden Strängen und immer aufeinander bezogen, durch den gesamten Text über jene fünf Hamburger Jahre, in denen der junge Uwe Handwerk, Lesen und Leben lernte. Er trifft etwa auf den Jazzfanatiker Drechsler, auf den noch immer zackigen Leutnant zur See Breitkamp und den betont exquisiten Gesellen Dieter Zoern, der später zum international bekannten deutschen Modedesigner wird. Er begegnet Johnny-Look und dem „Roten Erik“, mit denen er die Reize der Reeperbahn und der Liebe erfährt. Unter allen, die ihn heimsuchen, ist Walther Kruse, dessen Haus und Schrebergarten auf der Halbinsel Veddel, südlich der Stadt Hamburg, war, womöglich der wichtigste Geist.
Kruse steht in der Hierarchie der Kürschner ganz oben. Der junge Timm wird ihm im zweiten Lehrjahr zugeteilt, kurz vor der Gesellenprüfung bietet der Meister ihm das ‚Du’ an. Die ganze Zeit über liest man bereits in der Ahnung, dass Walther Kruse mehr ist, ein geistig-intellektueller Ziehvater, denn dieser Kruse, der im Auftrag eines Kapitalisten Pelze für die Reichen herstellt, ist bekennender Sozialist. Und ein nach wie vor eifriger Hitlerhasser, der es nie verwand, dass „seine“ Sozialdemokraten 1933 zu den Nazis überliefen. Kruse, das Gegenstück zum nichtsgewussthabenden wollenden Kriegsvater Timm, leugnet eine ‚Stunde Null’ ab 1945, überredet den jungen Uwe aber nie, in die SPD einzutreten, und leiht ihm stattdessen Eugen Kogons Der SS-Staat. Mit diesem Buch zieht Timm sich seine Empörung zu – für den späteren Vertreter engagierter Literatur geradezu eine Erweckung.
Literarische Initiationserlebnisse, die ja keinem Leser unbekannt sind, lassen Timm noch heute von seinen ersten Begegnungen mit entscheidenden Werken schwärmen. 1956, als fast Sechzehnjähriger, liest er Dostojewski und beginnt ihn zu lieben. Im „Idioten“ und Epileptiker Fürst Myschkin erkennt der Teenager eine Art Bruder. Dostojewski lehrte den Lehrling, so schreibt der Autor heute, „welch ausschließende Macht das Konstrukt des Normalen hat, wie es das Ein – und Unterordnen bestimmt.“ Den großen Roman liest Timm größtenteils am Hundestrand in Travemünde bei Lübeck, ehe es, Sonntagabend, von der Ostsee zurück nach Hamburg geht.
Die Rückfahrt am späten Abend im überfüllten Zug mit all dem von Sonne und Wind müde braun gebrannten Fleisch. Draußen zog die Holsteinische Landschaft vorbei, schwarz-weiße Kühe, Knicks, kleine umbuschte Toteistümpel, daraus aufrudernde Krähen, am Wegrand Milchkannen, solitäre Eichen. Es roch nach getrocknetem Schweiß und Sonnenöl, und das erschöpfte Schweigen galt schon dem kommenden Tag, dem Montag.
Es sind vor allem Dostojewski und Tolstoi, die beiden bedeutenden Russen, die ihn damals prägen. Der Autor Timm zitiert sie seitenlang und liefert kompakte Exegesen des Idioten oder der Anna Karenina. Bei Tolstoi lernt er die Literatur als Handwerk zu verstehen – das Ausbessern, Ausstreichen, Überschreiben und Verschieben von Textteilen, wie es analog bei den Textilien im Pelzhandwerk auch geschieht. Ausgeschnitten, gekürzt, arrangiert: Pelz wie Roman sind in erster Linie handwerklich gefertigte Produkte, auch wenn im mittelalterlichen Florenz das Pelzhandwerk als große Kunst galt. Tier und Text, beide in gewisser Weise tote Materie, werden durch Tragen und Lesen in Pelz und Buch zum Leben erweckt.
Schreiben ist also ebenso Handarbeit wie Kürschnern. Die hoch verfeinerte Arbeit mit den Häuten der Tiere erzieht Timm zu einer Präzision und Wahrhaftigkeit, die seiner Prosa bis heute eigen ist. Wie er drei historische Zeitebenen auf knappen Raum von fünf Seiten inhaltlich ineinander verwebt – der Geselle im Nachkriegshamburg der 50er, der sich nach Walther Kruses „Verrat“ der Sozialdemokraten an der guten Sache 1933 wie Dostojewskis Fürst Myschkin 1868 verhält – das ist, um im Bilde des Handwerks zu bleiben, meisterlich. Brecht verehrt der Teenager für dessen staunenswerten Reichtum an Formen und Rhythmen, Gottfried Benn für die große Meisterschaft des Anziehend-Abstoßenden. Er lernt den Autor der bewunderten Gedichte ‚Teils-Teils‘ oder ‚D-Zug‘ vom NS-nahen Menschen zu trennen – auch gegen die Intention des Autors kann ein Werk seine eigene Kunstschönheit haben. Und an der Prosa Alfred Brehms und dessen Buch Brehms Tierleben geschult, erkennt Timm schließlich, welcher Sprachverlust entstehen könnte, würde das Deutsche zugunsten des Englischen noch weiter aus den Wissenschaften verdrängt.
Von Brehmscher Sprachmächtigkeit wiederum ist die Schilderung seines Versagens bei der Arbeit an einem Nerzkragen; wie man wieder alles auftrennen muss, mühselig, die schmalen Streifen mit Stecknadeln auf einem Brett feststecken, die Bahnen mussten neu genäht werden, ein wenig wie das Handwerk des Schreibens, wo man auch verrechnet, auftrennt, neu näht. Was Timm beim Kürschner lernt, wendet er später als Schriftsteller selbst an: die Akkuratesse der Naht. Angemessene Kürze und notwendige Präzision bringen das herrliche Wort „Krähengewitter“ hervor. Vollendetes Nature Writing.
Uwe ist gerade achtzehn, 1958, da stirbt sein Vater in einer heißen Nacht am Herzinfarkt. Das Geschäft ist da bereits längst völlig verschuldet, und der just volljährig gewordene Uwe übernimmt schließlich den Laden seiner Eltern und führt ihn mit der Mutter einige Jahre weiter. Dann kommt die Insolvenz, Pelze-Timm ist passé, für den jungen Timm beginnt jetzt die selbstbestimmte Freiheit. Der junge Mann, mittlerweile zwanzig, wird nach bestandem Intelligenztest auf das Kolleg nach Braunschweig übersiedeln, um dort das Abitur nachzumachen, aber erst einmal mit seinem Kumpel Jensen nach Schweden reisen. Jensen ist ein Synonym, seinen richtigen Namen erfahren wir nicht, aber mit seinem Buch beschwört Uwe Timm nicht nur die freundlichen Geister und den Geist der Freundschaft herauf, sondern spricht den verlorenen Freund direkt an und lädt Jensen schriftlich zum Wiedersehen ein.
Alle meine Geister ist kein Roman, sondern ein Memoir. Eine Hommage an das Handwerk in Zeiten virtueller Realitäten, ein Plädoyer für die Mühe und Bemühung und die Disziplin. Seine akribische Beschreibung akribischer Arbeit darf man ohne weiteres als wohltuenden Kommentar auf die leere Oberflächlichkeit unserer Gegenwart lesen. Dieser prosaische Werkstattbericht eines lernenden Schriftstellers wirkt wie ein mit Menschen und Motiven gefüllter Reminiszenzspeicher, der wertvolle Verweise auf Timms ganzes Werk anbietet. Die fein verästelte Erinnerungsprosa erzählt von Deutschland auf eine Weise, wie man es diesertage nur noch selten unter die Augen bekommt: gelassen, souverän, aufrichtig und unaufgeregt. Im Leben des Uwe Timm, der schließlich dem großen Albert Camus und dessen Roman Der Fremde verfällt und dessen Poetik sich als „Anschreiben gegen das Vergessen“ entwickelt, gibt es sicher auch nach 1960 noch zahlreiche Bekannte, die irgendwo in der Tiefe seines Raums lungern und schweben, was Grund zur Hoffnung gibt, sich auf weitere Geisterbeschwörungen zu freuen.
Uwe Timm: Alle meine Geister. Roman. Kiepenheuer&Witsch, Köln 2023, 288 S., EAN 978-3-462-00549-3, € 25,00.