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18.11.2023, 09:00 Uhr
Tanja Kinkel
Text & Debatte

Laudatio auf Yirgalem Fisseah Mebrahtu zum Georg-Elser-Preis 2023

Den Georg-Elser-Preis 2023 der Landeshauptstadt München erhält die eritreische Dichterin Yirgalem Fisseah Mebrahtu.  Die Jury begründet die Verleihung mit Mebrahtus beeindruckendem „Einsatz gegen undemokratische Strukturen – für Demokratie“. Die Autorin habe „großen Mut und Zivilcourage bewiesen. Trotz der traumatischen Erlebnisse während ihrer Gefangenschaft hat sie sich dem Willen der totalitären Obrigkeit nicht gebeugt – ja, bietet ihm aus dem Exil noch immer die Stirn“. Der Georg-Elser-Preis ist mit 5000 Euro dotiert. Die Verleihung fand am 8. November 2023 im NS-Dokumentationszentrum München statt. Laudatorin war die mit Mebrahtu befreundete Schriftstellerin Tanja Kinkel. Lesen Sie hier ihre Lobrede.

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Wow, was für eine Frau. Mit diesen fünf Worten wäre alles gesagt, wenn Sie unsere Preisträgerin bereits so kennen würden, wie ich es dankenswerterweise tue. Weil das nicht so ist, werde ich mit einem Zitat von ihr fortfahren: „Wir haben eine Redewendung, die sinngemäß besagt: „Iss Grünkohl, aber zeige nicht deine nackten Schultern.“ Heute hat sich die Sichtweise geändert, aber es gab eine Zeit, in der Grünkohl als das Essen armer Leute galt. Was die Redewendung bedeutet, ist, dass unabhängig davon, wie viele Schwierigkeiten es gibt, sie dem Fremden verborgen bleiben müssen. Kurz gesagt, man soll alles im Stillen ertragen. Ich allerdings bevorzuge das Sprichwort, das besagt: „Wer seine Wunde versteckt, versteckt das Heilmittel!““

Meine Damen und Herren, die Frau, von der die letzten Worte stammen, ist die Frau, die wir heute ehren: Yirgalem Fisseha Mebrahtu aus Eritrea. Ich kenne sie nun schon eine ganze Reihe von Jahren, habe von ihr Briefe, Gedichte und Essays gelesen. Viel davon bleibt mir im Gedächtnis, aber diese Passage, die ich gerade zitiert habe, vor allem anderen: „Wer seine Wunde versteckt, versteckt das Heilmittel.“ Das schreibt eine Autorin, der nicht nur in ihrer Heimat vorgeworfen wird, dass sie die Wunden ihres Landes, ihres Volkes, ihrer eigenen Erfahrung eben nicht versteckt. Oft wird Heimatliebe mit dem Verschweigen oder gar Leugnen von Unrecht verwechselt, wenn es denn von den eigenen Leuten begangen wurde. Gerade wir Deutsche können davon ein Lied singen. Das Unrecht in den Taten eines Feindes zu sehen, das fällt leicht. Aber wie hart ist es, über die Zustände des eigenen Landes zu sprechen, der eigenen, geliebten Heimat? Und wie nötig, wie bitter nötig, wenn man je Veränderung erreichen will?

Georg Elser, der Mann, in dessen Namen die Stadt München alle zwei Jahre das Wirken und Handeln von Menschen würdigt, die sich für demokratische Werte und Errungenschaften einsetzen, Georg Elser, dessen Name noch in meiner eigenen Schulzeit in den 80er Jahren in den Schulbüchern nicht auftauchte, dieser Georg Elser hat unter Heimatliebe nie das Verschweigen und die Kritiklosigkeit verstanden. Selbst nach seiner Verhaftung versuchte er nicht, dem Regime zu schmeicheln oder gar andere zu beschuldigen, sondern listete der ihn verhörenden Gestapo klipp und klar auf, warum er die Lage der Arbeiter durch Hitler eben nicht für verbessert, sondern für verschlechtert hielt, warum er sich bereits nach dem Münchner Abkommen denken konnte, dass Hitler den Krieg wollte, und glaubte, dass im November 1939 nur der Tod Hitlers und der NS-Führung diesen Krieg wieder stoppen konnte.

Ich denke, Georg Elser hätte Yirgalem verstanden.

Ich sage „Yirgalem“, denn „Mebrahtu“ ist, wie sie mir einmal erklärte, nicht wirklich ihr Name. Es ist der Name ihres Großvaters, den ihr ein ugandischer Arzt nach ihrer Flucht verlieh, um sie auf die europäischen Namensgepflogenheiten vorzubereiten. Lassen Sie mich Ihnen also von Yirgalem erzählen, die 1981 in Adi Keyh in Eritrea geboren wurde, dem Land, das nur noch von Nordkorea an Menschenrechtsverletzungen überboten wird. Aber es ist mehr als das. Es ist Yirgalems Heimat.

Adi Keyh liegt sehr hoch und gilt als die kälteste aller Städte Eritreas. Das Haus ihrer Eltern steht in einem Viertel, das wiederum innerhalb von Adi Keyh hoch liegt. Ja, Eritrea hat auch eine über 100 Kilometer lange Meeresküste, aber das Kind Yirgalem bekam sie nie zu sehen. Fischgerichte aß sie zum ersten Mal als Erwachsene, viele Jahre später. Stattdessen hörte sie vom Meer nur durch Regime-Propaganda. „Diese Schönheit des Landes wird jedoch vom Regime dazu benutzt, um die Gedanken seiner Bürger auf einen Krieg zu lenken, indem es ihnen predigt, fremde Mächte würden nicht eher ruhen, bis sie unsere Küste vereinnahmt haben“, schreibt Yirgalem.

Die Gesellschaft ihrer Kindheit war eine, die Georg Elser besser wiedererkannt hätte als die deutschen Kinder heute. Sobald ein Gast das Haus betrat, musste das Kind sich unbedingt unbemerkt nach draußen begeben und durfte sich nicht an den Unterhaltungen der Erwachsenen beteiligen. Wenn man sich draußen falsch verhielt, dann hatte jeder Erwachsene, der das beobachtete, auch das Recht, das Kind zu bestrafen. Umgekehrt fühlten sich alle Fremden verpflichtet, einem Kind zu helfen und sich um es zu kümmern, sollte das nötig sein. „In Eritrea“, sagte mir Yirgalem einmal, „ist es fast nicht möglich, dass jemand an einem Kind schweigend vorbeiläuft, ohne es zu küssen, und sich mit ihm in der Kindersprache zu unterhalten oder mit den Augen und einem Lächeln Aufmerksamkeit zu schenken. Dabei ist es kein Hindernis, wenn man seine Eltern nicht kennt.“

Aus dem Kind Yirgalem wurde eine idealistische Jugendliche. „Als ich Schülerin in der Sekundarstufe war, hatte ich die Sehnsucht und den Wunsch, meine Schule abzuschließen, meine nationale Pflicht zu erfüllen, eben den Beitrag eines ordentlichen Menschen zu leisten. Daran erinnere ich mich mit Wehmut. Meinen unschuldigen Traum, wie soll ich den vergessen?“

Die Erfüllung der nationalen Pflicht in Eritrea bestand aus Militärtraining. Alle Schüler müssen nach der 11. Klasse Militärdienst leisten. Danach besuchen sie die 12. Klasse. Wo? In dem Camp, wo das Militärtraining stattfindet. An diesem Ort nehmen sie auch an der Abschlussprüfung der Sekundarstufe teil. Für Yirgalem war die Militärausbildung, die nächtlichen Märsche, bei denen die übermüdeten Jugendlichen oft mit geschlossenen Augen durch unwägbares Gelände stolpern mussten, die erste Zeit des Zweifels. Eine Entscheidung für einen Beruf konnte sie nicht wirklich treffen, nicht, wie wir uns das vorstellen. Aufgrund ihrer Abschlussnoten bekam sie vom Staat nur die Wahl, entweder Krankenschwester oder Lehrerin zu werden. Sie entschied sich für eine Ausbildung als Lehrerin, hat diesen Beruf jedoch nie praktiziert, weil es ihr gelang, im Radio des Schulministeriums, Radio Bana, als Moderatorin und Reporterin eingestellt zu werden. So fand sie in mehr als einem Sinn ihre Stimme, arbeitete in dem einzigen Radiosender, der außerhalb der Kontrolle des Informationsministeriums stand, bis er 2009 nach der Verhaftung aller Mitarbeiter, auch Yirgalems, geschlossen wurde. Aber lassen Sie uns noch einmal ein paar Jahre vorher zurückgehen. Yirgalem gründete mit anderen jungen Autorinnen den Adi Keyh Literatur-Club. Sie hörte zu. Sie sah. Und sie sprach über das, was sie sah. Zum Beispiel:

„Im Jahr 2001 stellten die Studenten der Universität in Asmara Forderungen, welche die Regierung so empörten, dass sie alle Studenten an einen Ort transportierten, der sich Wia nannte. Dort wurden sie für 50 Tage wie Häftlinge festgehalten. Es war sehr heiß, und die Regierung hatte keinerlei Vorbereitung getroffen, um die Studenten unterzubringen. Aufgrund der Hitze starben zwei Studenten. Andere verloren dort den Verstand.“

Als Yirgalem 2009 verhaftet wurde, waren die Vorwürfe, wie in solchen Fällen in Diktaturen üblich: Verbindung zu ausländischen Medien, Herabwürdigung eritreischer Politiker. Man warf ihr sogar vor, ein Attentat auf den Präsidenten geplant zu haben. Ein Gerichtsverfahren gab es für sie jedoch nicht. Stattdessen wurde sie sechs Jahre eingesperrt und wiederholt gefoltert. Über diese Zeit im Gefängnis hat Yirgalem später geschrieben, 31 Porträts ihrer Mitgefangenen aus der Haftzeit, die in ihrer schmerzhaften, detailgenauen und doch schnörkellosen Intensität vor Augen führen, was die Gefangenschaft in Eritrea bedeutet. Da gibt es die stillende Mutter, die aber ohne ihre Kinder entführt und inhaftiert wurde, deren Brüste anschwollen und schmerzten. Die verhaftete alte Dame, die sich auf einen Gehstock stützen muss, der zum Verrichten der Notdurft aber nicht der Zugang zu einer Toilette gewährt wird. Als sie sich unter großen Mühen auf den Boden hocken will, bringt sie das nicht fertig und stürzt. Es sind die täglichen, genau beobachteten Demütigungen, von Menschen an Menschen begangen, die mich auch an die letzte Lebensphase von Georg Elser erinnern, seine Gefangenschaft in Dachau.

Für Yirgalem gab es schließlich ein Entkommen in die Freiheit. Aber sie trägt die Erinnerung und die Gefangenschaft mit sich. In ihrem Gedicht „Die Enge“ heißt es:

Meine Zelle so groß wie ich.
Der Boden mein Bett
Die Luft karg, spärlich die Wärme (als wäre sie Medizin).
Hier drinnen die Hölle, die Tür das Maul der Bestie.

Nach Jahren in dieser Hölle wäre es mehr als verständlich, hätte Yirgalem aufgegeben und wäre verstummt. Überdies hat sie Familie. Der jüngste Bruder, der erst dreizehn Jahre alt war, als sie zum ersten Mal verhaftet wurde, versuchte nach seinem Militärdienst selbst zu fliehen, wurde dabei verhaftet und machte einen zweiten, erfolgreichen Fluchtversuch, wie auch sein älterer Bruder, der zweitjüngste. Die Route der Brüder war die gefährlichste von allen: durch die Sahara, über Libyen und das Mittelmeer. Die Eltern, die ihren Kindern Essen ins Gefängnis brachten, „Kolokio“, wie man das in Eritrea nennt, blieben zurück, und wussten lange nicht, wer von ihren Kindern überhaupt noch am Leben war. Das, was Yirgalems Eltern 2015 erlebten, war die andere Seite der Geschichte, die sich in unseren Nachrichten abspielte.

„Stell dir mal vor, du siehst, wie in deiner Nachbarschaft oder in einer Siedlung der Stadt Familien die Todesnachricht über ihre Kinder bekommen und Zelte für die Trauergäste bauen. Da wird dir Angst und Bange, dass du bald auch damit an der Reihe bist“, schrieb Yirgalem. Ja, es wäre begreiflich gewesen, hätte Yirgalem nun das sichere Schweigen gewählt. Aber nichts zu tun, das kam für sie auch nach allem, was sie erlebt hatte, und trotz der Sorgen um die Eltern so wenig in Frage, wie für Georg Elser.

Yirgalem glaubt, dass viel zu viel geschwiegen und beschönigt wird. Selten habe ich sie so erzürnt erlebt wie über einen westlichen Journalisten, der sich nach einer staatlich betreuten Reise von der eritreischen Regierung für Propaganda missbrauchen ließ, oder über die Entscheidung des Nobelpreiskomitees, 2019 dem äthiopischen Präsidenten, schon damals ein Bundesgenosse des eritreischen Diktators, den Friedensnobelpreis zu verleihen. Gleichzeitig ist sie auch voller Mitgefühl und Engagement, das von Gruppenhass nichts weiß. Eines ihrer einfühlsamsten Gedichte gilt ausgerechnet der Tochter des ehemaligen Informationsministers von Eritrea, der lange Zeit die rechte Hand des Diktators war, bis er floh. Seine Tochter wurde festgenommen, und ihr Verbleib ist bis heute unbekannt. Für Yirgalem ist sie ein weiteres Opfer des Regimes. Wer in Freiheit ist und die Namen nennen kann, verhindern, dass der Mantel der Vergessenheit wirkt, den das Regime über sie ausgebreitet hat, der muss das Yirgalems Überzeugung nach auch tun.

Dazu nutzt sie neue wie alte Medien – wie andere eritreische Journalisten verfasst sie Beiträge für das von Paris aus sendende Radio Erena, man findet sie auf YouTube, auf Facebook und auf Instagramm, und in diesem Jahr hat sie ihren ersten Gedichtband in deutscher Sprache veröffentlicht, Ich bin am Leben. Sie setzt sich für andere Geflüchtete ein, und spricht trotz weiterer Anfeindungen über das, was den Menschen in ihrer Heimat angetan wird. Es ist dem eritreischen Staat nicht gelungen, Yirgalem ihre Stimme zu nehmen – und auch nicht ihre Fähigkeit zur Freude, zur Sympathie, zur Liebe. Das, meine Damen und Herren, gehört zu den Dingen, die ich bei Yirgalem am meisten bewundere. Gerade in unserer Zeit, wo es so vielen Menschen, die eben nicht wie Yirgalem Furchtbares erlebten, trotzdem viel leichter fällt, zu hassen, so sehr, dass für positive Gefühle in ihnen überhaupt kein Raum mehr zu sein scheint.

„Dein Gewissen, lass es nicht untergehen“, heißt es in Yirgalems Gedicht „Erhobenen Hauptes“, und:

Gib deiner Sanftmut Raum.
Vergnüge dich, ja, suche die Freude, aber erkälte dich nicht
Es gibt Menschen, die deine Wärme brauchen.

Das bedeutet jedoch nicht, dass sie jenseits von Eritrea überall nur das Gute sieht. Yirgalem lebt seit 2018 in München, und natürlich hat sie auch eine Meinung zu dem, was sich in Deutschland oder in dem Rest der Welt tut. Beispielsweise: Das Phänomen Trump, mehr noch die Zahl seiner Anhänger hat sie entsetzt. Als sie einen ihrer Brüder wiedersah, der inzwischen in England lebt, war während der Johnson-Regierung einerseits von Hilfe für die Ukraine die Rede, andererseits von dem Plan, Flüchtlinge nach Ruanda abzuschieben, und das entging ihr keinesfalls. Und ihre Erfahrung bei der Anhörung ihres Asylantrags war für sie ein Schock: „Meiner Erwartung entgegengesetzt benahm sich der Befrager in der vierstündigen Anhörung“, schrieb sie mir. „Ohne zu übertreiben, seit ich nach Deutschland kam, bin ich niemandem wie ihm begegnet, der mich so hasserfüllt anschaute und mir offen demonstrierte, dass mein Kommen ihm missfalle. Ja, es ist seine Arbeit, mir provokative Fragen zu stellen. Ich habe auch keine Probleme, das zu verstehen. Allerdings hat mich sein Versuch verärgert, darüber hinaus meine Gefühle zu verletzen. Ich berichte ausführlich über alles, was mir in Eritrea zugestoßen war. Als hätte ich ihm über die Verspätung eines Zuges oder ähnliches erzählt, erniedrigte er meine Ausführungen, indem er sagte: „Was ist das schon? Nennen Sie mir doch ein richtiges Problem.““

Ja, Yirgalem hat nicht aufgehört, genau zu beobachten und die Wunde zu benennen, statt sie zu verstecken. Genau das macht sie meiner Ansicht nach zu einer Stimme, der wir zuhören sollten, und nicht nur, wenn sie uns von Eritrea erzählt. Wie Georg Elser mit seiner sperrigen Persönlichkeit, die sich in keine Schublade einordnen ließ, was vielleicht dazu beitrug, dass seine Tat so lange vom öffentlichen Gedenken ignoriert, heruntergespielt oder verfälscht wurde, ist sie keine bequeme Zeitzeugin, und genau deswegen freue ich mich darüber, dass die Stadt München ihr diesen Preis verleiht.

Wie ich sie kenne, wird sie ihre Verdienste herunterspielen, wenn sie ihn entgegennimmt. Über den „Independent Journalism and Courage Award“, der ihr in Schweden verliehen wurde, schrieb sie mir:

„Es ist wie ein wunderschönes Gewand, das dir zu groß ist. Du möchtest es tragen, aber es ist nicht in deiner Größe. Für mich hat es sich so angefühlt.“

Liebe Yirgalem, lass mich Dir versichern: für den Georg-Elser-Preis hast Du genau die richtige Größe, und er für Dich. Der Schreiner aus Königsbronn, der hier in München in der Türkenstraße alleine an einer Maschine baute, die eine Diktatur und einen Krieg beenden sollte, er hätte Deinen Mut und Deine unerschütterliche Menschlichkeit erkannt und bewundert. Helden seid Ihr für mich beide – und ein Ansporn, selbst nie die Augen zu verschließen. Dafür danke ich Dir.

Wow, was für ein Mensch!