„Ein großer Löffel voll“. Von Andrej Krasnjaschtschich
Der Schriftsteller und Literaturkritiker Andrej Krasnjaschtschich wurde 1970 in Poltawa, Ukraine, geboren und wuchs in Charkiw auf. Nach dem Studium an der dortigen Philologischen Fakultät wurde er mit einer Arbeit über Ulysses von James Joyce promoviert und arbeitete als außerordentlicher Professor. Bedingt durch den Krieg zog er mit seiner Familie 2022 zurück nach Poltawa. Krasnjaschtschich war Teilnehmer bei „Eine Brücke aus Papier“ in Weimar 2022, mit ihm führte das Literaturportal Bayern außerdem ein Interview.
*
Rrrumms – es kracht und donnert hier. Es lässt sich nicht leugnen. Die Binnenflüchtlinge erinnern sich gut daran.
Die Einheimischen haben keine Angst vor dem Getöse. Es erinnert sie einfach an Gewitter. Wenn es keinen Luftangriff gibt. Doch wenn die Sirenen heulen, und sie heulen laut in Poltawa, sie befinden sich überall hoch auf Masten, und plötzlich: das Donnergrollen – die Einheimischen fassen sich ans Herz. Sie denken: Es ist da. Etwas, das in Poltawa – klopf-klopf-klopf – noch nicht war. Die Binnenflüchtlinge witzeln: „Kein Treffer!“ Die Einheimischen atmen aus. Sie glauben den Binnenflüchtlingen, ihrer Erfahrung.
In Charkiw ist das Wasser hart, in Poltawa ist es weich, als ob es die Hände streichelt. Poltawa ist sanfter: Farben, Blumen, Namen. Die Straße heißt Rosotschka. Von Rosa Luxemburg. Heute heißt die Straße Raisa Kyrytschenko, aber es ist immer noch Rosotschka. Scholomka. Scholom Alejchem. Die junge Dame. Und es ist eine junge Dame. Sie kreuzt sich mit der Scholomka.
Der Fluss Tarapunka. Die Comedians Tarapunka und Schtepsel, für diejenigen, die sich an sie erinnern. Der Spitzname Tarapunka stammt von diesem Fluss.
Zu Beginn des Krieges, ganz am Anfang, als alle ihre eigenen Angelegenheiten liegen ließen und andern halfen, ging meine Tante zwei Stockwerke hinunter zu ihrer Nachbarin, um Warenyky zuzubereiten. Das ganze Treppenhaus stieg sie nach unten, um sie zuzubereiten. Das Symbol von Poltawa sind Haluschky, aber es ging nicht um Symbole, sondern darum, Warenyky zu machen. Wir haben die Jungs von der Territorialverteidigung damit gefüttert. Freiwillige. Wir haben sie in ihr Hauptquartier gebracht. Gemüse, Gries. Die Supermarktregale waren leer. Alles wurde gekauft. Dann schlossen sich die Restaurants an. Danach hat der Staat es übernommen.
Larysa ist eine Jugendfreundin. Wir leben in ihrer Wohnung in Poltawa. Sie ist in Italien. Jedes Jahr im Februar, wenn es wenig Touristen in Sorrent gibt, kommt sie nach Poltawa. Dieses Jahr hatte sie Angst zu kommen, sie hatten ihr Angst vor dem Krieg gemacht. Sie kam am Vorabend des Krieges an. Ich habe gesagt, dass es keinen Krieg geben wird. Dass man uns schon damit gedroht habe. Das würde die nicht wagen. Am 24. Februar wollte sie uns in Charkiw besuchen, sie fuhr aber zurück nach Italien. Sie hat drei Tage gebraucht, um dorthin zu gelangen. „Ich fühle mich wie eine Verräterin.“ – „Wir sind in deine Wohnung gezogen. Wo sollten wir sonst wohnen? Meine Eltern sind bei meiner Tante. Wenn wir da auch noch kommen, wären wir viel zu viele.“
Nachdem sie nach Italien zurückgekehrt war, sammelte sie Spenden für Hilfspakete. Verpflegung und andere Dinge. Ihr Sohn träumte von einem Auto. Er hat es vor dem Krieg gekauft. Zu Beginn des Krieges fuhr er die Hilfslieferungen an die Grenze und übergab sie an freiwillige Helfer.
Natalka Krynyzka überreichte mir ein Paket. Ich zögerte. Wir waren gemeinsam bei einer Abschussprüfung in Simferopol gewesen: Ich war der wissenschaftliche Leiter und sie die sogenannte Opponentin der Prüfung. Wir sind in Simferopol spazieren gegangen. Vor einhundert Jahren, im Jahr zweitausendzehn. Dann machte eine andere meiner Doktorandinnen ihre Abschlussarbeit in Dnipro. Natalka ist die netteste Opponentin, die es geben kann.
Es ist Wurst in der Tüte. Ich bin ein Binnenflüchtling. Natalka mit ihrem zweijährigen Kind und ihrem Mann standen beim Roten Kreuz für mich an. Es ist in der Nähe ihres Hauses. So brauche ich nicht vom anderen Ende der Stadt herfahren, und dann dauert die Ansteherei auch noch ewig. Nachdem Natalka drei Stunden lang angestanden hatte, nahm sie den Gutschein und sagte: „Komm.“
Viele Menschen kehren nach Charkiw zurück: Sie haben kein Geld mehr, um die Wohnungen hier zu bezahlen. Zehntausend pro Monat ist noch nicht einmal die Obergrenze. Natalka bringt Binnenflüchtlinge kostenlos in der Wohnung ihrer Tante oder in den Datschen der Nachbarn unter. Ihre Verwandten und Nachbarn sind genau wie sie. Ihre Freundin, die Künstlerin Olja Snyder, die in Amerika lebt, schickt den Binnenflüchtlingen Geld. „Ich bin froh, dass wir helfen können. Wenn du etwas brauchst, melde dich bitte.“
Natalka kam nicht mit leeren Händen zur Abschlussprüfung. „Es kommt aus unserer Süßwarenfabrik.“ Es war ihr auch irgendwie peinlich.
Manchmal hat man Glück. Eine Freundin ruft ihre Bekannten an. Sie ist auch ein Binnenflüchtling. Morgen, am Montag, wird Essen ausgegeben. Ein großes Paket. Sehr viel. Sehr-sehr viel. In der Kirche in der Latyschewa-Straße.
Eine Kirche der Adventisten des Siebenten Tags, sagt Google dazu.
Das Treffen geht bis neun Uhr morgens. Manche waren schon um vier Uhr da. Es gibt Listen. Nicht viele Leute: der erste Tag. Danach werden es alle wissen.
„Nur für Binnenflüchtlinge. Mit Ausweis“. Die Adventisten scheuchen uns in die Kirche. Damit sie im Regen nicht nass werden. Und vielleicht auch, um zu beten. Eine Warteschlange ist eine Warteschlange, die betet nicht, sondern versucht die eigenen Probleme zu lösen. Über dem Ausgang steht in großen Buchstaben „Geh und fortan sündige nicht mehr“. Keiner wird sündigen. Die meisten sind alt. Und auch die Jüngeren haben das Sündigen hinter sich.
Achtzehn Kilogramm, nicht weniger. Vom Welternährungsprogramm. Kisten. Sie enthalten einen Sack Reis, 7,5 Kilogramm, fünfzehn Packungen Spaghetti, eine Literflasche Sonnenblumenöl, fünf Dosen Hühnerpaste. Alles türkischer Herkunft, außerdem Sonnenblumenöl. Es ist aus Odessa. Alles, was du jetzt für ein hartes Leben brauchst. Die schweren Kisten werden von Adventisten hinausgetragen, dann übernehmen die alten Menschen selbst das Tragen. Sie packen das Essen in Tüten und Säcke. Jemand hat einen Rucksack mitgenommen. Sie erreichen die Bushaltestelle. Bleiben oft stehen. Die jungen schreiten fröhlicher aus. Das Gefühl „Beute gemacht zu haben“ ist mit nichts zu vergleichen. Sie wird für einige Zeit reichen.
Es läuft gut und hört auch nicht auf. Eine SMS aus „Respublika“. Niemand weiß, was „Respublika“ ist. „Produkte der World Central Kitchen, 3.08, um 9.30 Uhr. Sinna-Straße 10. Hilfe für Binnenflüchtlinge“. Auch „World Central Kitchen“ kennt keiner. Einige erinnern sich, dass sie sich registriert, ein Google-Formular ausgefüllt hatten. Jemand hatte es ihnen geschickt.
In der Sinna-Straße 10 ist eine lange Schlange. Es ist noch nicht geöffnet. Man überlegt, dass es Gutscheine für das Mittagessen oder für Lebensmittel geben wird. Lebensmittel. Ab drei Uhr. In der Gogol-Straße 20, beim Kolos.
Die Warteschlange beim Kolos ist kilometerlang. Sie haben tausend Gutscheine verteilt. Das ist das Zentrum. Ganz Poltawa ist auf den Beinen. Früher schlenderte man umher und saß in Cafés und jetzt steht man in einer Schlange für ein Essenspaket an. Es gibt einen LKW, er wird ausgeladen, die Sachen werden in ein Zelt gebracht und sofort verteilt. Ein Coupon ist ein Paket, ein Berechtigungsnachweis wird nicht mehr verlangt. Es geht schnell. Tausend Coupon-Leute in zwei Stunden.
Es sind Äpfel in den Tüten. Fünf Stück. Und eine Zitrone. Nudeln, zwei Packungen, Reis, Erbsen, Weizengrütze, Haferflocken, Mehl, Zucker, Salz, ein paar Tomaten, Sardinen in Dosen. Zwei Dosen Eintopf, Rindfleisch und Geflügel. Tomaten-Paprikasoße „Für zweite und erste Gänge“. Zwei Schokoriegel, süße Kringel und Tee. No name. Einhundert Gramm. „Ukrainer, ihr seid unglaublich!“ steht auf einer Karte, die sich im Paket befindet. „Die ganze Welt sieht es und bewundert den Mut und die Tapferkeit eines jeden Ukrainers. Dieses Paket ist ein Teil unserer Hilfe, damit ihr stark bleibt und zuversichtlich dem Sieg entgegen schreitet.“
Nicht alle können gleich losschreiten, das Paket ist schwer. Das Fest oben auf dem Hügel unter dem Gogol-Denkmal in der Gogol-Straße wird gleich beginnen. Mit Brotlaiben und Äpfeln, der Rest – mit den Augen. Zu Hause. Zu Hause wartet die Familie auf ein Paket für die Familie. Jemand aus dem Haushalt hilft, es zu tragen. „Das gesamte Team von World Central Kitchen und die Wohltäter aus aller Welt sagen: „Danke und bleibt stark! Wir halten zu euch! Und wir werden so lange zu euch halten, wie nötig!“ Gogol auf dem Denkmal ist sich selbst sehr ähnlich. Er hat einen Bleistift in der einen und ein Notizbuch in der anderen Hand. Er schaut, schreibt auf. Die Binnenflüchtlinge, die wieder ihre Sachen eingepackt haben, machen Selfies mit ihm.
Wenn alles glatt läuft, dann auch „wegen der Aura der Stadt“. In Wirklichkeit ist es die Achmetow-Stiftung. Die Stadt ruft mit einer weiblichen Stimme, lädt auf den Platz der Unabhängigkeit, Nummer fünf. Das Zentrum für Kultur und Freizeit. Bei der Ausgabe sagte ein Mann: „Guten Tag. Einen friedlichen Himmel wünsche ich uns“. Der Karton sieht aus wie ein Postpaket. Auf dem Paket steht nur die Adresse des Absenders: das Logo der Stiftung. Auf jedem Produkt befindet sich ein Aufkleber mit der Aufschrift „Kostenlose Hilfe, Verkauf verboten, Rinat Achmetow Stiftung zur Lebensrettung“. Keiner denkt daran, sie zu verkaufen. Der Packungsinhalt steht auf einem Zettel im Paket. Nach INHALT DES LEBENSMITTEL-SETS der Rinat Achmetow Stiftung folgt die Aufzählung:
Nudeln
Mehl
Zucker
Dosenfleisch
Pastete
Kekse
Salz
Gries
Bohnen in Dosen.
Dann: „Sehr geehrter Empfänger des Lebensmittelpakets! Es ist uns wichtig zu erfahren, dass die humanitäre Hilfe den richtigen Adressaten gefunden hat. Bitte bestätigen Sie den Erhalt des Pakets durch einen Anruf bei der gebührenfreien Nummer 0 800 50 9001. Und bitte erzählen Sie ihre Geschichte und Kriegserfahrungen dem Museum Stimmen der Friedlichen.“
Wenige erzählen etwas oder rufen an. Die meisten haben keine Geschichte. Nur das übliche: Bombardierung – Keller – Freiwillige – und hier bekommst du Essen. Die Bombardierung, der Keller, die zerbrochenen Fenster sind dort geblieben, die Menschen wollen sich nicht erinnern. Friedliche Menschen wollen Frieden, um den Krieg zu vergessen. Sie waren am Tag der Binnenflüchtlinge bereits im Museum von Panas Myrnyj. Sie machten Fotos in der Nähe des Weißen Altans, des Poltawa-Denkmals und dem Symbol der Stadt. Dort können die Flüchtlinge lesen: „Wo Harmonie in der Familie und Frieden und Ruhe herrscht, da leben glückliche Menschen, da ist ein gesegnet' Land“. Das Gleiche steht auf dem Denkmal für Iwan Kotljarewskyj. Es stammt aus seinem Stück Natalka Poltawka. Ein Flüchtling liest es nun vor.
In der Nähe des Weißen Altans steht ein Denkmal für die Haluschki von Poltawa. Ein großer Teller mit Haluschki und einem Löffel. Ein Binnenflüchtling macht ein Selfie. In den großen Löffel passen alle hinein.
(Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil)
„Ein großer Löffel voll“. Von Andrej Krasnjaschtschich>
Der Schriftsteller und Literaturkritiker Andrej Krasnjaschtschich wurde 1970 in Poltawa, Ukraine, geboren und wuchs in Charkiw auf. Nach dem Studium an der dortigen Philologischen Fakultät wurde er mit einer Arbeit über Ulysses von James Joyce promoviert und arbeitete als außerordentlicher Professor. Bedingt durch den Krieg zog er mit seiner Familie 2022 zurück nach Poltawa. Krasnjaschtschich war Teilnehmer bei „Eine Brücke aus Papier“ in Weimar 2022, mit ihm führte das Literaturportal Bayern außerdem ein Interview.
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Rrrumms – es kracht und donnert hier. Es lässt sich nicht leugnen. Die Binnenflüchtlinge erinnern sich gut daran.
Die Einheimischen haben keine Angst vor dem Getöse. Es erinnert sie einfach an Gewitter. Wenn es keinen Luftangriff gibt. Doch wenn die Sirenen heulen, und sie heulen laut in Poltawa, sie befinden sich überall hoch auf Masten, und plötzlich: das Donnergrollen – die Einheimischen fassen sich ans Herz. Sie denken: Es ist da. Etwas, das in Poltawa – klopf-klopf-klopf – noch nicht war. Die Binnenflüchtlinge witzeln: „Kein Treffer!“ Die Einheimischen atmen aus. Sie glauben den Binnenflüchtlingen, ihrer Erfahrung.
In Charkiw ist das Wasser hart, in Poltawa ist es weich, als ob es die Hände streichelt. Poltawa ist sanfter: Farben, Blumen, Namen. Die Straße heißt Rosotschka. Von Rosa Luxemburg. Heute heißt die Straße Raisa Kyrytschenko, aber es ist immer noch Rosotschka. Scholomka. Scholom Alejchem. Die junge Dame. Und es ist eine junge Dame. Sie kreuzt sich mit der Scholomka.
Der Fluss Tarapunka. Die Comedians Tarapunka und Schtepsel, für diejenigen, die sich an sie erinnern. Der Spitzname Tarapunka stammt von diesem Fluss.
Zu Beginn des Krieges, ganz am Anfang, als alle ihre eigenen Angelegenheiten liegen ließen und andern halfen, ging meine Tante zwei Stockwerke hinunter zu ihrer Nachbarin, um Warenyky zuzubereiten. Das ganze Treppenhaus stieg sie nach unten, um sie zuzubereiten. Das Symbol von Poltawa sind Haluschky, aber es ging nicht um Symbole, sondern darum, Warenyky zu machen. Wir haben die Jungs von der Territorialverteidigung damit gefüttert. Freiwillige. Wir haben sie in ihr Hauptquartier gebracht. Gemüse, Gries. Die Supermarktregale waren leer. Alles wurde gekauft. Dann schlossen sich die Restaurants an. Danach hat der Staat es übernommen.
Larysa ist eine Jugendfreundin. Wir leben in ihrer Wohnung in Poltawa. Sie ist in Italien. Jedes Jahr im Februar, wenn es wenig Touristen in Sorrent gibt, kommt sie nach Poltawa. Dieses Jahr hatte sie Angst zu kommen, sie hatten ihr Angst vor dem Krieg gemacht. Sie kam am Vorabend des Krieges an. Ich habe gesagt, dass es keinen Krieg geben wird. Dass man uns schon damit gedroht habe. Das würde die nicht wagen. Am 24. Februar wollte sie uns in Charkiw besuchen, sie fuhr aber zurück nach Italien. Sie hat drei Tage gebraucht, um dorthin zu gelangen. „Ich fühle mich wie eine Verräterin.“ – „Wir sind in deine Wohnung gezogen. Wo sollten wir sonst wohnen? Meine Eltern sind bei meiner Tante. Wenn wir da auch noch kommen, wären wir viel zu viele.“
Nachdem sie nach Italien zurückgekehrt war, sammelte sie Spenden für Hilfspakete. Verpflegung und andere Dinge. Ihr Sohn träumte von einem Auto. Er hat es vor dem Krieg gekauft. Zu Beginn des Krieges fuhr er die Hilfslieferungen an die Grenze und übergab sie an freiwillige Helfer.
Natalka Krynyzka überreichte mir ein Paket. Ich zögerte. Wir waren gemeinsam bei einer Abschussprüfung in Simferopol gewesen: Ich war der wissenschaftliche Leiter und sie die sogenannte Opponentin der Prüfung. Wir sind in Simferopol spazieren gegangen. Vor einhundert Jahren, im Jahr zweitausendzehn. Dann machte eine andere meiner Doktorandinnen ihre Abschlussarbeit in Dnipro. Natalka ist die netteste Opponentin, die es geben kann.
Es ist Wurst in der Tüte. Ich bin ein Binnenflüchtling. Natalka mit ihrem zweijährigen Kind und ihrem Mann standen beim Roten Kreuz für mich an. Es ist in der Nähe ihres Hauses. So brauche ich nicht vom anderen Ende der Stadt herfahren, und dann dauert die Ansteherei auch noch ewig. Nachdem Natalka drei Stunden lang angestanden hatte, nahm sie den Gutschein und sagte: „Komm.“
Viele Menschen kehren nach Charkiw zurück: Sie haben kein Geld mehr, um die Wohnungen hier zu bezahlen. Zehntausend pro Monat ist noch nicht einmal die Obergrenze. Natalka bringt Binnenflüchtlinge kostenlos in der Wohnung ihrer Tante oder in den Datschen der Nachbarn unter. Ihre Verwandten und Nachbarn sind genau wie sie. Ihre Freundin, die Künstlerin Olja Snyder, die in Amerika lebt, schickt den Binnenflüchtlingen Geld. „Ich bin froh, dass wir helfen können. Wenn du etwas brauchst, melde dich bitte.“
Natalka kam nicht mit leeren Händen zur Abschlussprüfung. „Es kommt aus unserer Süßwarenfabrik.“ Es war ihr auch irgendwie peinlich.
Manchmal hat man Glück. Eine Freundin ruft ihre Bekannten an. Sie ist auch ein Binnenflüchtling. Morgen, am Montag, wird Essen ausgegeben. Ein großes Paket. Sehr viel. Sehr-sehr viel. In der Kirche in der Latyschewa-Straße.
Eine Kirche der Adventisten des Siebenten Tags, sagt Google dazu.
Das Treffen geht bis neun Uhr morgens. Manche waren schon um vier Uhr da. Es gibt Listen. Nicht viele Leute: der erste Tag. Danach werden es alle wissen.
„Nur für Binnenflüchtlinge. Mit Ausweis“. Die Adventisten scheuchen uns in die Kirche. Damit sie im Regen nicht nass werden. Und vielleicht auch, um zu beten. Eine Warteschlange ist eine Warteschlange, die betet nicht, sondern versucht die eigenen Probleme zu lösen. Über dem Ausgang steht in großen Buchstaben „Geh und fortan sündige nicht mehr“. Keiner wird sündigen. Die meisten sind alt. Und auch die Jüngeren haben das Sündigen hinter sich.
Achtzehn Kilogramm, nicht weniger. Vom Welternährungsprogramm. Kisten. Sie enthalten einen Sack Reis, 7,5 Kilogramm, fünfzehn Packungen Spaghetti, eine Literflasche Sonnenblumenöl, fünf Dosen Hühnerpaste. Alles türkischer Herkunft, außerdem Sonnenblumenöl. Es ist aus Odessa. Alles, was du jetzt für ein hartes Leben brauchst. Die schweren Kisten werden von Adventisten hinausgetragen, dann übernehmen die alten Menschen selbst das Tragen. Sie packen das Essen in Tüten und Säcke. Jemand hat einen Rucksack mitgenommen. Sie erreichen die Bushaltestelle. Bleiben oft stehen. Die jungen schreiten fröhlicher aus. Das Gefühl „Beute gemacht zu haben“ ist mit nichts zu vergleichen. Sie wird für einige Zeit reichen.
Es läuft gut und hört auch nicht auf. Eine SMS aus „Respublika“. Niemand weiß, was „Respublika“ ist. „Produkte der World Central Kitchen, 3.08, um 9.30 Uhr. Sinna-Straße 10. Hilfe für Binnenflüchtlinge“. Auch „World Central Kitchen“ kennt keiner. Einige erinnern sich, dass sie sich registriert, ein Google-Formular ausgefüllt hatten. Jemand hatte es ihnen geschickt.
In der Sinna-Straße 10 ist eine lange Schlange. Es ist noch nicht geöffnet. Man überlegt, dass es Gutscheine für das Mittagessen oder für Lebensmittel geben wird. Lebensmittel. Ab drei Uhr. In der Gogol-Straße 20, beim Kolos.
Die Warteschlange beim Kolos ist kilometerlang. Sie haben tausend Gutscheine verteilt. Das ist das Zentrum. Ganz Poltawa ist auf den Beinen. Früher schlenderte man umher und saß in Cafés und jetzt steht man in einer Schlange für ein Essenspaket an. Es gibt einen LKW, er wird ausgeladen, die Sachen werden in ein Zelt gebracht und sofort verteilt. Ein Coupon ist ein Paket, ein Berechtigungsnachweis wird nicht mehr verlangt. Es geht schnell. Tausend Coupon-Leute in zwei Stunden.
Es sind Äpfel in den Tüten. Fünf Stück. Und eine Zitrone. Nudeln, zwei Packungen, Reis, Erbsen, Weizengrütze, Haferflocken, Mehl, Zucker, Salz, ein paar Tomaten, Sardinen in Dosen. Zwei Dosen Eintopf, Rindfleisch und Geflügel. Tomaten-Paprikasoße „Für zweite und erste Gänge“. Zwei Schokoriegel, süße Kringel und Tee. No name. Einhundert Gramm. „Ukrainer, ihr seid unglaublich!“ steht auf einer Karte, die sich im Paket befindet. „Die ganze Welt sieht es und bewundert den Mut und die Tapferkeit eines jeden Ukrainers. Dieses Paket ist ein Teil unserer Hilfe, damit ihr stark bleibt und zuversichtlich dem Sieg entgegen schreitet.“
Nicht alle können gleich losschreiten, das Paket ist schwer. Das Fest oben auf dem Hügel unter dem Gogol-Denkmal in der Gogol-Straße wird gleich beginnen. Mit Brotlaiben und Äpfeln, der Rest – mit den Augen. Zu Hause. Zu Hause wartet die Familie auf ein Paket für die Familie. Jemand aus dem Haushalt hilft, es zu tragen. „Das gesamte Team von World Central Kitchen und die Wohltäter aus aller Welt sagen: „Danke und bleibt stark! Wir halten zu euch! Und wir werden so lange zu euch halten, wie nötig!“ Gogol auf dem Denkmal ist sich selbst sehr ähnlich. Er hat einen Bleistift in der einen und ein Notizbuch in der anderen Hand. Er schaut, schreibt auf. Die Binnenflüchtlinge, die wieder ihre Sachen eingepackt haben, machen Selfies mit ihm.
Wenn alles glatt läuft, dann auch „wegen der Aura der Stadt“. In Wirklichkeit ist es die Achmetow-Stiftung. Die Stadt ruft mit einer weiblichen Stimme, lädt auf den Platz der Unabhängigkeit, Nummer fünf. Das Zentrum für Kultur und Freizeit. Bei der Ausgabe sagte ein Mann: „Guten Tag. Einen friedlichen Himmel wünsche ich uns“. Der Karton sieht aus wie ein Postpaket. Auf dem Paket steht nur die Adresse des Absenders: das Logo der Stiftung. Auf jedem Produkt befindet sich ein Aufkleber mit der Aufschrift „Kostenlose Hilfe, Verkauf verboten, Rinat Achmetow Stiftung zur Lebensrettung“. Keiner denkt daran, sie zu verkaufen. Der Packungsinhalt steht auf einem Zettel im Paket. Nach INHALT DES LEBENSMITTEL-SETS der Rinat Achmetow Stiftung folgt die Aufzählung:
Nudeln
Mehl
Zucker
Dosenfleisch
Pastete
Kekse
Salz
Gries
Bohnen in Dosen.
Dann: „Sehr geehrter Empfänger des Lebensmittelpakets! Es ist uns wichtig zu erfahren, dass die humanitäre Hilfe den richtigen Adressaten gefunden hat. Bitte bestätigen Sie den Erhalt des Pakets durch einen Anruf bei der gebührenfreien Nummer 0 800 50 9001. Und bitte erzählen Sie ihre Geschichte und Kriegserfahrungen dem Museum Stimmen der Friedlichen.“
Wenige erzählen etwas oder rufen an. Die meisten haben keine Geschichte. Nur das übliche: Bombardierung – Keller – Freiwillige – und hier bekommst du Essen. Die Bombardierung, der Keller, die zerbrochenen Fenster sind dort geblieben, die Menschen wollen sich nicht erinnern. Friedliche Menschen wollen Frieden, um den Krieg zu vergessen. Sie waren am Tag der Binnenflüchtlinge bereits im Museum von Panas Myrnyj. Sie machten Fotos in der Nähe des Weißen Altans, des Poltawa-Denkmals und dem Symbol der Stadt. Dort können die Flüchtlinge lesen: „Wo Harmonie in der Familie und Frieden und Ruhe herrscht, da leben glückliche Menschen, da ist ein gesegnet' Land“. Das Gleiche steht auf dem Denkmal für Iwan Kotljarewskyj. Es stammt aus seinem Stück Natalka Poltawka. Ein Flüchtling liest es nun vor.
In der Nähe des Weißen Altans steht ein Denkmal für die Haluschki von Poltawa. Ein großer Teller mit Haluschki und einem Löffel. Ein Binnenflüchtling macht ein Selfie. In den großen Löffel passen alle hinein.
(Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil)