Laudatio auf Andrea O'Brien zur Verleihung des Arbeitsstipendiums des Freistaats Bayern
Das mit 7.000 Euro dotierte Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern geht in diesem Jahr an Andrea O'Brien für ihre Übersetzung des englischsprachigen Romans Unsettled Ground von Claire Fuller. Sie erhält damit zum zweiten Mal das Arbeitsstipendium für literarische Übersetzerinnen und Übersetzer. Die Jury begründete Andrea O'Briens hohes übersetzerisches Können u.a. mit der reichen Sprache, dem sicheren Stilgefühl und der ästhetischen Sensibilität und Disziplin ihrer Übertragung. Das mit 7.000 Euro dotierte Arbeitsstipendium wird jährlich vom Freistaat Bayern verliehen, um es literarischen Übersetzerinnen und Übersetzern zu ermöglichen, sich ohne wirtschaftlich-materiellen Zwang einem Übersetzungsprojekt zu widmen. Die Preisverleihung fand am 11. Juli 2023 im Literaturhaus München statt. Die Laudatio auf die Preisträgerin hielt Kristina Kallert.
*
Liebe Andrea O'Brien, sehr geehrter Herr Staatsminister Blume, liebes Publikum,
es gibt ein sehr kurzes tschechisches Gedicht, von dem jungen Lyriker František Hruška, der zugleich Musiker ist mit besonderem Interesse für die Klänge des Windes. Er hat es einem Kollegen gewidmet.
STEAK
für Petr Král
Und dann hab ich's kapiert
Gedichte – da geht's nicht um Wörter
Ein Gedicht ist, wie Günter Eich sagt, ein Roman in Kurzform, und somit geht es also auch in einem Roman nicht einfach um viele, sehr sehr viele Wörter. Worum dann?
Aus Zeitgründen greife ich nochmals zum Gedicht: es sind drei Varianten einer vierzeiligen Strophe, die lexikalisch absolut identisch sind. Es geht also nicht um die Wörter selbst, sondern um ihr Verhältnis.
Die letzten Bäume gingen aus dem Park davon
Nur ein alter Herr blieb zurück und er zeichnet
mit einem messingbeschlagenem Stock
Vierecke und Kreise in die Luft
Die letzten Bäume gingen aus dem Park davon
Zurück blieb nur ein alter Herr und er zeichnet
in die Luft mit messingbeschlagenem Stock
Vierecke und geschlossene Kreise.
Die letzten Bäume gingen davon aus dem Park
Zurück blieb nur ein alter Herr und er zeichnet
mit messingbeschlagenem Stock
Vierecke in die Luft und geschlossene Kreise
Die beiden ersten Varianten sind eigentlich ganz schön. Einmal haben wir deutsche Normalfolge in der Syntax, hier mit dem Effekt einer fast etwas zu unentschlossenen Lakonie; dann folgt ein sehr genaues Abbild der tschechischen Wortstellung im Deutschen, vielleicht etwas zu bedeutungsheischend in den entstehenden Spannungsverhältnissen.
Und schließlich: Leichtigkeit, mit ein paar überraschenden Synkopen, und diese sparsam gesetzten präzis inszenierten Überraschungen sind wie Wegweiser ins Gedicht hinein. Die Übersetzung dieser vier Zeilen von Jan Skácel stammt von Reiner Kunze.
Die Grundregeln der Zielsprache kennen, dem Original folgen, nicht aber unter seiner Knute allzu schematisch an den Grenzen des Möglichen entlangwandern, sondern aus der Spannung zwischen beiden Polen zu einer neuen und überraschenden Freiheit gelangen – das ist die individuelle übersetzerische Leistung. Es ist ein Tanz der Grammatik, der die Lexik ins Leben zieht, und das entstehen lässt, was wir, verlegen um Besseres, sehr unbestimmt den Ton nennen. Der Ton ist getroffen. Als würden wir, wenn wir so urteilen, etwas wiedererkennen, und es ist doch gerade das Neue, was uns da berührt. Aber in diesem scheinbaren Widerspruch haben wir das Ereignis der Kunst. Deswegen wünscht man sich Übersetzungen.
Das vielzitierte Bild vom Übersetzen als Fährdienst hinüber zum anderen Ufer habe ich gecancelt. Ich finde es nicht treffend. Denn Autor und Übersetzer laufen auf etwas versetzter Höhe jeder an seinem Ufer zu auf die Mündung. Es geht um den Fluss, der derselbe bleibt, auch wenn sich links ein Prallhang zeigt und damit rechts ein Gleithang, und auch wenn öfters gemeldet wird: südlich der Donau vereinzelt Gewitter.
Die diesjährige Jury fand, liebe Andrea O'Brien, dass Sie wissen, was es heißt, den Ton zu treffen, dass Ihnen bewusst ist, wie sehr es auf jede Nuance ankommt, weil jede Nuance in ein größeres Umfeld strahlt und dass sie sich in der Reflexion dieser Strahlung einen singulären Auftritt verschafft, kurz: dass Sie, liebe Andrea O'Brien, wie ein Jongleur, sehr viele Bälle im Spiel des Ganzen in Bewegung zu halten verstehen. Verzeihen Sie mir, wenn ich meine Verneigung vor Ihrem übersetzerischen Können von meinem Terrain aus zu Ihnen hinübergwunken habe, von meiner kleinen tschechischen Insel zu Ihrem großen englischen Kontinent.
Aber – ich habe Claire Fullers Unsettled Ground gelesen, neugierig geworden durch Ihre Übersetzungsprobe. Und ich habe dabei an Sie gedacht. Mit einem Ton wird es nicht getan sein. Sie haben da etwas sehr Vielstimmiges zu orchestrieren, entstehen doch die Charaktere und Atmosphären hauptsächlich aus der Figurensprache und den inneren Perspektiven, bei der Hauptfigur Jeanie auch aus ihrer Art, die Welt zu hören: die Bäume, den Hund, die Musik und den Wind. Der Text hält sich in einer eigenartigen Schwebe; manchmal war ich mir nicht mehr sicher, in welcher Zeit das Geschehen spielt. Diese Unbestimmtheit hat etwas mit Jeanie zu tun, sie lebt in den anderen Zeiten des Gartens und der Musik. Ich will den Schluss nicht verraten, aber ich würde sagen: Es ist ein Entwicklungsroman in die Sprache und ein aktives, ein handelndes Verhältnis zur Welt hinein. Alles vertauscht dabei seine Position, wird wie das Klavier von Julius nach draußen und auf den Kopf gestellt. Eine behutsame, fast widerwillige, auch gewalttätig sich ereignende Entwicklung ins Freie. Eine Explosion an Stimmen, eingebettet in eine höchst zurückgenommene auktoriale Erzählweise. Schwierig, verlockend und sehr viel genaue Arbeit, bei der es wahrlich nicht nur um Wörter geht, sondern ums Steak.
Dass Sie das können, liebe Andrea O'Brien, beweist Ihre Übersetzungsprobe. Damit Sie es aber auch aus- und durchhalten, bekommen Sie heute ein Stipendium. Wir freuen uns auf Ihre Übersetzung und gratulieren Ihnen alle sehr herzlich.
**
Kristina Kallert, geboren in Weißenburg, studierte Germanistik und Ostslavistik in Regensburg und St. Petersburg, später Bohemistik an der Masaryk-Universität in Brno. Sie arbeitete als Lektorin für Russisch (Universität Regensburg), als DAAD-Lektorin in Brno und lebt inzwischen als freie Übersetzerin in Regensburg; außerdem ist sie Lektorin für Tschechisch.
Laudatio auf Andrea O'Brien zur Verleihung des Arbeitsstipendiums des Freistaats Bayern>
Das mit 7.000 Euro dotierte Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern geht in diesem Jahr an Andrea O'Brien für ihre Übersetzung des englischsprachigen Romans Unsettled Ground von Claire Fuller. Sie erhält damit zum zweiten Mal das Arbeitsstipendium für literarische Übersetzerinnen und Übersetzer. Die Jury begründete Andrea O'Briens hohes übersetzerisches Können u.a. mit der reichen Sprache, dem sicheren Stilgefühl und der ästhetischen Sensibilität und Disziplin ihrer Übertragung. Das mit 7.000 Euro dotierte Arbeitsstipendium wird jährlich vom Freistaat Bayern verliehen, um es literarischen Übersetzerinnen und Übersetzern zu ermöglichen, sich ohne wirtschaftlich-materiellen Zwang einem Übersetzungsprojekt zu widmen. Die Preisverleihung fand am 11. Juli 2023 im Literaturhaus München statt. Die Laudatio auf die Preisträgerin hielt Kristina Kallert.
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Liebe Andrea O'Brien, sehr geehrter Herr Staatsminister Blume, liebes Publikum,
es gibt ein sehr kurzes tschechisches Gedicht, von dem jungen Lyriker František Hruška, der zugleich Musiker ist mit besonderem Interesse für die Klänge des Windes. Er hat es einem Kollegen gewidmet.
STEAK
für Petr Král
Und dann hab ich's kapiert
Gedichte – da geht's nicht um Wörter
Ein Gedicht ist, wie Günter Eich sagt, ein Roman in Kurzform, und somit geht es also auch in einem Roman nicht einfach um viele, sehr sehr viele Wörter. Worum dann?
Aus Zeitgründen greife ich nochmals zum Gedicht: es sind drei Varianten einer vierzeiligen Strophe, die lexikalisch absolut identisch sind. Es geht also nicht um die Wörter selbst, sondern um ihr Verhältnis.
Die letzten Bäume gingen aus dem Park davon
Nur ein alter Herr blieb zurück und er zeichnet
mit einem messingbeschlagenem Stock
Vierecke und Kreise in die Luft
Die letzten Bäume gingen aus dem Park davon
Zurück blieb nur ein alter Herr und er zeichnet
in die Luft mit messingbeschlagenem Stock
Vierecke und geschlossene Kreise.
Die letzten Bäume gingen davon aus dem Park
Zurück blieb nur ein alter Herr und er zeichnet
mit messingbeschlagenem Stock
Vierecke in die Luft und geschlossene Kreise
Die beiden ersten Varianten sind eigentlich ganz schön. Einmal haben wir deutsche Normalfolge in der Syntax, hier mit dem Effekt einer fast etwas zu unentschlossenen Lakonie; dann folgt ein sehr genaues Abbild der tschechischen Wortstellung im Deutschen, vielleicht etwas zu bedeutungsheischend in den entstehenden Spannungsverhältnissen.
Und schließlich: Leichtigkeit, mit ein paar überraschenden Synkopen, und diese sparsam gesetzten präzis inszenierten Überraschungen sind wie Wegweiser ins Gedicht hinein. Die Übersetzung dieser vier Zeilen von Jan Skácel stammt von Reiner Kunze.
Die Grundregeln der Zielsprache kennen, dem Original folgen, nicht aber unter seiner Knute allzu schematisch an den Grenzen des Möglichen entlangwandern, sondern aus der Spannung zwischen beiden Polen zu einer neuen und überraschenden Freiheit gelangen – das ist die individuelle übersetzerische Leistung. Es ist ein Tanz der Grammatik, der die Lexik ins Leben zieht, und das entstehen lässt, was wir, verlegen um Besseres, sehr unbestimmt den Ton nennen. Der Ton ist getroffen. Als würden wir, wenn wir so urteilen, etwas wiedererkennen, und es ist doch gerade das Neue, was uns da berührt. Aber in diesem scheinbaren Widerspruch haben wir das Ereignis der Kunst. Deswegen wünscht man sich Übersetzungen.
Das vielzitierte Bild vom Übersetzen als Fährdienst hinüber zum anderen Ufer habe ich gecancelt. Ich finde es nicht treffend. Denn Autor und Übersetzer laufen auf etwas versetzter Höhe jeder an seinem Ufer zu auf die Mündung. Es geht um den Fluss, der derselbe bleibt, auch wenn sich links ein Prallhang zeigt und damit rechts ein Gleithang, und auch wenn öfters gemeldet wird: südlich der Donau vereinzelt Gewitter.
Die diesjährige Jury fand, liebe Andrea O'Brien, dass Sie wissen, was es heißt, den Ton zu treffen, dass Ihnen bewusst ist, wie sehr es auf jede Nuance ankommt, weil jede Nuance in ein größeres Umfeld strahlt und dass sie sich in der Reflexion dieser Strahlung einen singulären Auftritt verschafft, kurz: dass Sie, liebe Andrea O'Brien, wie ein Jongleur, sehr viele Bälle im Spiel des Ganzen in Bewegung zu halten verstehen. Verzeihen Sie mir, wenn ich meine Verneigung vor Ihrem übersetzerischen Können von meinem Terrain aus zu Ihnen hinübergwunken habe, von meiner kleinen tschechischen Insel zu Ihrem großen englischen Kontinent.
Aber – ich habe Claire Fullers Unsettled Ground gelesen, neugierig geworden durch Ihre Übersetzungsprobe. Und ich habe dabei an Sie gedacht. Mit einem Ton wird es nicht getan sein. Sie haben da etwas sehr Vielstimmiges zu orchestrieren, entstehen doch die Charaktere und Atmosphären hauptsächlich aus der Figurensprache und den inneren Perspektiven, bei der Hauptfigur Jeanie auch aus ihrer Art, die Welt zu hören: die Bäume, den Hund, die Musik und den Wind. Der Text hält sich in einer eigenartigen Schwebe; manchmal war ich mir nicht mehr sicher, in welcher Zeit das Geschehen spielt. Diese Unbestimmtheit hat etwas mit Jeanie zu tun, sie lebt in den anderen Zeiten des Gartens und der Musik. Ich will den Schluss nicht verraten, aber ich würde sagen: Es ist ein Entwicklungsroman in die Sprache und ein aktives, ein handelndes Verhältnis zur Welt hinein. Alles vertauscht dabei seine Position, wird wie das Klavier von Julius nach draußen und auf den Kopf gestellt. Eine behutsame, fast widerwillige, auch gewalttätig sich ereignende Entwicklung ins Freie. Eine Explosion an Stimmen, eingebettet in eine höchst zurückgenommene auktoriale Erzählweise. Schwierig, verlockend und sehr viel genaue Arbeit, bei der es wahrlich nicht nur um Wörter geht, sondern ums Steak.
Dass Sie das können, liebe Andrea O'Brien, beweist Ihre Übersetzungsprobe. Damit Sie es aber auch aus- und durchhalten, bekommen Sie heute ein Stipendium. Wir freuen uns auf Ihre Übersetzung und gratulieren Ihnen alle sehr herzlich.
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Kristina Kallert, geboren in Weißenburg, studierte Germanistik und Ostslavistik in Regensburg und St. Petersburg, später Bohemistik an der Masaryk-Universität in Brno. Sie arbeitete als Lektorin für Russisch (Universität Regensburg), als DAAD-Lektorin in Brno und lebt inzwischen als freie Übersetzerin in Regensburg; außerdem ist sie Lektorin für Tschechisch.