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26.05.2023, 12:57 Uhr
Christian Ude
Text & Debatte
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Ernst Hoferichter beim Heiteren Autorenabend des Tukan-Kreises am 10. Januar 1955 (Bayerische Staatsbibliothek/Timpe)

Ernst-Hoferichter-Preis 2021 an Wolfgang Ettlich. Laudatio von Christian Ude

2021 wurden der Filmemacher Wolfgang Ettlich, der Schriftsteller und Slam-Poet Jaromir Konecny sowie die Comiczeichnerin Barbara Yelin mit den Ernst-Hoferichter-Preisen ausgezeichnet. Der mit jeweils 5.000 Euro dotierte Preis wird seit 1975 jährlich an Münchner Künstlerinnen und Künstler der erzählenden Kunst vergeben, die – wie Ernst Hoferichter – Originalität mit Weltoffenheit und Humor verbinden. Die Preise wurden 2022 – zusammen mit den Ernst-Hoferichter-Preisen an Felicia (Fee) Brembeck und Alex Rühle – im Literaturhaus München mit geladenen Gästen verliehen. Anlässlich seines 76. Geburtstages am 26. Mai 2023 veröffentlichen wir die Laudatio an den Münchner Regisseur, Drehbuchautor und Filmproduzenten Wolfgang Ettlich. Von Christian Ude.

*

Ach Wolle, ist das alles wirklich schon so lange her? An die Zeit davor, die Vorzeit also, habe ich meist nur blasse Erinnerungen. Schwabing wollte schon ein Künstlerviertel sein, von Musen geküsst wie einst im Mai, auch ein „angesagtes“ Viertel, obwohl es den Ausdruck noch gar nicht gab, nur den Ehrgeiz, es zu sein, und alle, die die alten Zeiten hochleben lassen wollten, waren selber schon recht alt. Immerhin hatten sie es in vielen Fällen zu einer Schwabinger Institution gebracht, und ihr gemeinsames Kennzeichen war, dass sie mit dem Ernst-Hoferichter-Preis geehrt worden sind. Als Dieter Hildebrandt ihn bekam, sagte er: „Preise suchen unerbittlich ihre Träger. Das wird Dich trösten.“

Nach der Vorzeit seid ihr gekommen. Einfach so. Ungefragt. Noch bevor Hans-Jochen Vogel die Jugend der Welt nach München rief. Ihr seid ohne Ruf gekommen. Aus Neukölln in der unheimlichen Hauptstadt. Die heimliche versprach euch wohl ein besseres Leben. Oder war es doch ein missionarischer Eifer, endlich großstädtisches Flair in die bayerische Provinz und ihre heimelige Residenzstadt zu tragen? Ich weiß es nicht. Verschlechtern wolltet ihr euch aber keineswegs.

Und wer wart ihr überhaupt? Auf jeden Fall mehrere. Der Henny Heppel, Du, der Lutze Neumann, eure Frauen, wenn das besitzanzeigende Pronomen in diesem Kontext noch erlaubt ist, weil es dem damaligen Zeitgeist noch entsprach, eure Kellnerinnen und Kellner, eure Discjockeys und Kabarettisten, Filmvorführer und Gäste und und und, auch wenn sie nicht aus Neukölln stammten, sondern schon Schwabinger waren und in ihrem Dornröschenschlaf darauf warteten, von Exil-Berlinern wachgeküsst zu werden. Mit einer Kneipe voller Flohmarkt-Trödel. Wie geil ist das denn!? Mit einer Speisekarte voller Frikadellen, die natürlich Bouletten hießen und keinesfalls Fleischpflanzerl genannt werden durften, weil das bayerisch geklungen hätte, was weder Berliner Schnauzen noch Münchner Linke ertragen hätten. Und mit Kabarett am Abend, was den Schwabinger Wunsch, kompromisslose Gesellschaftskritik mit vergnüglicher Unterhaltung zu vermählen, wunderbar erfüllte.

Aber es fing ja gar nicht in der Kaiserstraße an. Sondern um die Ecke im Jennerwein. Das war ein Geniestreich. Ausgerechnet ein paar Jungs aus Preußens Hauptstadt haben messerscharf erkannt, dass die Bayern trotz anderslautender Wahlergebnisse im Grunde ihres Herzens gar nicht obrigkeitsgläubig sind, sondern aufmüpfig – und deshalb den illegal agierenden Wilderer kultisch verehren und den „feigen Jäger“, den Repräsentanten der Ordnungsmacht, zutiefst verachten. Wer diese Lektion verstanden hatte, musste sich Jahrzehnte später nicht wundern, dass die „Krawallmacher“ von Wackersdorf obsiegten und die größten Strategen der Atomwirtschaft heute beteuern, immer schon für grünen Strom gewesen zu sein.

Am markantesten ist mir von eurem Jennerwein in Erinnerung, dass man vor lauter Qualm kaum die Bedienung sah. Den beißenden Zigarettenqualm konnte man nach der dritten Halben schon für revolutionären Pulverdampf halten. Schmerzhaft, aber voll im Trend. Irgendwie ein Pyrrhus-Sieg für Schulabsolventen, die als größten Fortschritt ihres bisherigen politischen Wirkens die Durchsetzung eines Raucherzimmers in ihrem Gymnasium feiern mussten. Noch ein paar Jahrzehnte später setzten wir dann mit einem herrlich aufmüpfigen Bürgerbegehren das „strengste Rauchverbot Europas“ in allen Kneipen und sogar auch unter freiem Himmel durch. Die Richtung mag sich total geändert haben – aber wir waren jedenfalls immer engagiert und blieben immer die Avantgarde.

Mit dieser fröhlichen Gelassenheit wurden wir schon früh im Jennerwein sozialisiert: Wir bekräftigten bei jeder Versammlung unsere Beschlusslage, wonach es mit dem Kapitalismus sehr bald ein böses Ende nehmen werde, einigten uns aber anschließend darauf, vorher noch gemeinsam im Jennerwein ein Helles zu trinken. Der Kater kam schneller als die Revolution, die angesichts unserer klaren jungsozialistischen Beschlusslage unbotmäßig lange auf sich warten ließ – und lässt.

Dann aber kam der Umzug in die Kaiserstraße 67. Wo der Fäustlegarten war, stand jetzt plötzlich Heppel und Ettlich. Klang norddeutsch, war es auch. Zu eurem 30. Jubiläum habe ich euch ins Stammbuch geschrieben: „So heißt man in München einfach nicht. Hier heißt man Zum Hirschen, Zum Adler oder Zur Post oder so.“ Aber genau dieser Name war nach eurem eigenen Eingeständnis nicht nur eure erste, sondern vielleicht auch letzte gute Idee – er hat sich rumgesprochen wie ein Lauffeuer und blieb gerade wegen seiner Fremdartigkeit, man könnte auch sagen: seiner Multikulturalität im Gedächtnis haften.

Damit sind wir endlich bei der Kultur, denn der Hoferichter-Preis ist ja kein Bouletten-Wettbewerb, sondern eine kulturelle Ehrung. Ihr habt das KiKo, das Kino für Kinder zwar nicht erfunden, aber mit beachtlicher Ausdauer fortgeführt, cineastisch aufgemöbelt und zu einem geselligen Familientreffen im rappenvollen Nebenraum am Sonntag ausgebaut. Das KiKo hat den langsam, aber unaufhaltsam steigenden Altersdurchschnitt eures Publikums gnädig gesenkt und Zukunft verheißen. Viele Kinder hingen eine Generation später auf den Stammplätzen ihrer Eltern am Tresen herum.

Vor allem aber habt ihr im Nebenraum, der bald die Hauptsache war, Kabarett veranstaltet, mit unermüdlicher Entdeckerfreude in der bundesweiten Szene. Euer Nebenraum erwies sich bald als Talentschmiede mit unerschöpflicher Reichweite, als Startrampe für unendlich viele, die heute „bekannt aus Film und Fernsehen“ sind, aber auf der Kleinkunstbühne in der Kaiserstraße 67 angefangen oder dort zumindest neue Formate erprobt haben.

Doris Dörrie hat hier gelesen, Luise Kinseher Solos gegeben, Gabi Lodermeier ist aufgetreten und Susanne Weinhöppel mit ihrer Harfe, und immer wieder „Kabarest“, die „Frechen Frauen“, der Haidhauser Damenchor und die „Traumfrauen“ und die „Meedels“, Axel Hacke mit seinen Kolumnen und Fredl Fesl mit seinen Liedern, Uli Bauer und Andre Hartmann mit Songs und Parodien, Helge Schneider gleich zu Beginn seiner Karriere, aber auch bereits „große Namen“ fanden sich auf euren Plakaten, Sigi Zimmerschied zum Beispiel oder Frank-Markus Barwasser oder Peter Kraus aus der Nachbarschaft oder die bekanntesten der SZ-Autoren, die gleich acht Abende in Folge bestritten. Und und und, man kommt ja leider um Unterlassungssünden nicht herum. Nun stimmt zwar, dass solche Namen im Laufe der Jahre auch in Bürgersälen und Dreifachturnhallen überall im Lande zusammenkommen, aber bei Heppel und Ettlich kamen auch die Qualität der Auswahl, die Intimität des Nebenraums, die Atmosphäre der Kneipe, das sachkundige Publikum, das Beziehungsgeflecht der Stammgäste und das kollektive Gedächtnis des Stadtteils zusammen, um eine Institution zu schaffen, was halt viel mehr ist als ein Veranstaltungsort. Allein schon eure Plakate wurden Kult und begehrte Sammlerstücke: historisch geprägt, stilsicher und immer originell.

Und jetzt komme ich nicht zum Schluss, sondern zum Höhepunkt: Wolle, der Filmemacher! Auch hier geht es wieder um Jahrzehnte kontinuierlicher Arbeit, um viel Aufgeschlossenheit und Teamarbeit und Freundschaft und Verdienste um Schwabing, aber auch um ganz persönliche Sensibilität und Kreativität und Sichtweisen, die Wolfgang Ettlich in diesem Fach besonders, ich meine einzigartig auszeichnen – auch wenn er natürlich wie alle Filmemacher einen Kameramann dabeihat, Hans-Albrecht Lusnat, den man mit nennen muss. Letztes Jahr wurde Wolles filmisches Lebenswerk bei den Hofer Filmfesttagen mit dem Ehrenpreis gewürdigt – Respekt!

In der Regel leben viele Dokumentarfilme vom spektakulären Thema, von der Aufdeckung eines Missstandes, der Enthüllung eines Skandals, der Sicherung einer vergänglichen Spur, der Erschließung einer fremden Welt. Bei Wolfgang Ettlichs unfassbar zahlreichen Filmen ist das meist anders: Sie erschließen Welten, in denen wir lange gelebt haben oder achtlos immer noch leben, sie wollen nicht anklagen, sondern bewahren, brauchen nichts Spektakuläres, sondern lehren uns, genauer hinzusehen, mehr zu verstehen, einfühlsamer zu werden. Durchaus auch im eigenen Viertel, wenn er „Schwabing – meine nie verblasste Liebe“ schildert oder lange Zeit die Hohenzollernstraße im Auge behält oder die Entstehung der Fußball-Arena und den Wandel der Umgebung.

Zum Glück ist der Filmemacher aber nicht durch Ortstreue gebunden und auf sein Revier beschränkt wie der Gastwirt und Veranstalter. Das verraten schon seine Titel: Venedig – der andere Blick, Drei Frauen in Rumänien, Hauptsache Amerika – von Fichtelberg nach Florida, Die Engel von Manhattan oder New Orleans – City of Jazz oder Kunst im Oman. Diese Bandbreite zeigt, dass er nicht nur wie einst Ernst Hoferichter seine Wurzeln im Kiez – erst Neukölln, dann Schwabing – pflegt, sondern auch von Weltweite fasziniert und erfüllt ist und gerne Erlebnisse aus anderen Ländern und Kontinenten bewahrt und weitervermittelt – ebenfalls wie Ernst Hoferichter, der sogar ein Jahrzehnt lang auf fünf Kontinenten unterwegs war und mit Reiseberichten und Büchern humorvoll darüber berichtete.

Die bedeutsamsten Filme von Wolfgang Ettlich – als Zeitdokumente – könnten aber seine Langzeitbeobachtungen über das Leben „drüben“ nach dem Fall von Mauer und Stacheldraht sein. Er lief nicht dem aktuellen Geschehen nach der Wende hinterher und trat auch nicht als Besserwessi auf, sondern nahm sich die Zeit, sehr sorgfältig und geduldig die Menschen in stillen Winkeln zu begleiten und zu beobachten, ihren Umgang mit der neuen Lage, ihre Hoffnungen, Illusionen, Erfahrungen und Enttäuschungen, auch Irrtümer. Da kommt viel Neugier und Respekt zum Vorschein, viel Mitgefühl, auch wenn gelegentlich Ironie mitschwingt, die aber heiter bleibt und nie verletzt.

Wahrscheinlich ist es diese Einstellung, die dazu führte, dass der Wolle so beliebt ist. Ich kenne wahrlich viele in Schwabing, aber keinen, der ihn nicht leiden kann. Doch, einen schon: Meinen Computer, der jedes Mal, wenn ich Wolles Familiennamen eingebe, auf der Mattscheibe stattdessen das Wort „Etliche“ erscheinen lässt. Was soll das? Etwa ausdrücken, dass Wolle immer nur Teil einer Clique war? Das mag man bei der Kneipe noch so sehen, wo er stets als Teamplayer fungierte, aber beim filmischen Werk ist es Unfug. Der Wolle ist auch keine „Personenperson“, in der sich verschiedene Charaktere verbergen, sondern ein vollkommen stimmiger Typ mit großem Herz für die Menschen, mit denen er zu tun hat, ein einzigartig guter Freund, etwas pathetisch und dennoch zutreffend formuliert: ein Menschenfreund.

Wenn es den Hoferichter-Preis nicht schon gäbe, hätte man ihn für Dich erfinden müssen: für die Schwabinger Institution und den filmischen Erzähler voller Humor und Weltoffenheit. Ich gratuliere Dir von Herzen.

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