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01.03.2023, 14:45 Uhr
Kristin Vardi
Text & Debatte

„Der Gewinner geht. Wir bleiben“. Kurzprosa von Kristin Vardi

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Bild von Amy auf Pixabay

Kristin Vardi wurde in Riesa/Sachsen geboren und studierte in Leipzig, Berlin und Tel Aviv. Nach dem Abschluss des Studiums (MA) der Geschichtswissenschaft und einem Volontariat bei der Freien Presse in Chemnitz lebt und arbeitet sie heute in Wien. Sie ist Gewinnerin „Bester Stil und Beste Prosa“ für ihre Kurzgeschichte Rock Button Motel im Deutschen Schriftstellerforum (DSFO). Veröffentlichungen von ihr liegen unter anderem in der Literaturzeitschrift Edit vor („Null Zeichen – Ein ungefährer Wert“). 2023 erhält sie ein Arbeitsstipendium vom Österreichischen Bundesministerium für Kultur für ihren Roman Bestseller.

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Der Gewinner geht. Wir bleiben

 

Die Hundeauslaufwiese, eingezäunt, daneben der „Kardinal Döner“, die Streitigkeiten am Würstlstand vor der U-Bahn, alles Raucher, Profitrinker. Der Friseurladen mit der Frisurenwerbung. Jemand hat dem Modell vor Jahren eine Mäusenase angemalt. Der Friseurladen wirbt weiter damit, Mäusenase hin oder her, den Kunden in dieser Gegend ist es wurscht. Wir gehen weiter unseren Weg. Wir gehen in unser Wettbüro.

Ich schaue mir die Jungs im Wettbüro an. Dort sind die Fenster abgeklebt. Wie in einer Schutzzone. Manchmal gewinnt einer und holt sein Bargeld ab. Der extrem kurzsichtige Mann am Schalter hält den kleinen Wettschein ganz nah vor sein Gesicht und zahlt dann die grünen Scheine aus, immer zehn auf einen Stapel. Dann dreht sich der Gewinner um, grinst verlegen stolz und fächert die Scheine auseinander. Und die anderen machen ein Foto von ihm. Man gönnt es einander. Gewinner gibt es.

Der Gewinner geht. Wir bleiben. Wir schauen die Liveübertragungen, wir schauen alles. Fußball, eh. Tennis, Handball, Basketball, Eishockey. Seit kurzem laufen im Wettbüro auch Pferderennen, das hat was, das schaue ich gern. Wenn der Admiral geschlossen hat, wird es unruhig für uns. Wir streunen dann durch die Nachbarschaft. Ich fühle mich wie ein Dachs, sagt er. Ein bisschen zu hässlich. Ein bisschen zu plump. Wir leben allein. Wir gehen jeden Tag dieselben Wege. Im Billa kaufen wir Bananen, Oliven, Weißbrot. Und feines Gulasch, für mich. Das schmeckt mir, das esse ich gern.

Wir sind Tag und Nacht zusammen. Er lässt mich nie allein. Er hat seinen Sessel, ich meine Ecke. Das Parkett in unserer Wohnung ist an der Stelle, auf der ich seit siebzehn Jahren schlafe, dunkel geworden. Vielleicht mein Talg, meine Körperwärme.

Neulich standen wir an der Ampel und mussten warten. Wir schauten uns um. Die Apotheke hatte ein großes Poster im Schaufenster: „Wir haben die Antidepressiva. Sie die Wahl.“ Na Servas, hat er gesagt.

An einem Augusttag kann man sich noch vormachen, es sei ein ganz normaler Sommertag. Alles wie immer. In einer Augustnacht geht das nicht mehr. So ist das auch bei uns. Wir sind beide schon alt. Wir haben unsere Wege, unsere Sportbar, unsere Gespräche. Manchmal sagt er mir, wie froh er ist, dass ich bei ihm bin. Ich belle. Er streichelt mich behutsam an den Ohren.