Zum populären Realismus von Moritz Baßler
Moritz Baßler, geboren 1962, lehrt Neuere deutsche Literatur an der Universität Münster. Bei C.H. Beck erschien von ihm 2005 Der deutsche Pop-Roman. 2022 wendet er sich mit der Polemik Der populäre Realismus erneut der Frage nach der Verfasstheit von – in erster Linie deutschsprachiger – Gegenwartsliteratur zu. Der Münchner Literaturwissenschaftler Kay Wolfinger veranstaltete im Rahmen der LMU-Reihe „literatur | saloon“ im November 2022 zu Baßlers Thesen eine Debatte. Ein Bericht von Thomas Lang.
*
Das Philologicum der Ludwig-Maximilians-Universität München beherbergt die Bibliothek ihrer sprach- und literaturwissenschaftlichen Fachbereiche. Das ehrwürdige Gebäude, in den 1830ern von Ludwig I. als Blindenanstalt erbaut, wurde in den 2000er-Jahren entkernt und zeitgemäß umgestaltet. In einem Raum im Erdgeschoss findet am 16. November 2022 eine Tagung zu dem germanistischen Sachbuch Der Populäre Realismus – vom International Style gegenwärtigen Erzählens statt. Die Fenster in dem hohen Raum sind über Blickhöhe angebracht, so dass man nur sieht, was schräg über einem auf der Schellingstraße bzw. auf dem kleinen Campus zwischen diesem und dem nächsten Universitätsgebäude geschieht.
Vorn stehen zwei Sessel und ein Stehpult, gegenüber mehrere Reihen von Stühlen, von denen im Laufe des Nachmittags kaum einer frei bleibt. Etwa 60 Besucher*innen nehmen an der Veranstaltung teil, darunter sind Münchner Autoren wie Hans Pleschinski, Thomas Meinecke oder der selbst im Laufe des Nachmittags zum Gespräch geladene Georg Oswald, Literaturwissenschaftler*in Prof. Annette Keck und Sven Hanuschek sowie die Journalistinnen Marie Schmidt (Süddeutsche Zeitung), Gisela Fichtl (Münchner Feuilleton) und Tina Rausch (u.a. für die Monacensia). Kay Wolfinger, ebenfalls Germanist und an der LMU tätig, ist Initiator des „literatur | saloon“ und führt durch die Veranstaltung.
Wolfinger referiert als Grundthesen des Baßlerschen Buches, dass im Roman heute der Inhalt die Form dominiere. Texte operierten häufig mit einer strategischen Lüge: Sie lüden sich etwa mit „genialen“ Inhalten oder als solche geltenden Figuren auf, lösten ihren Anspruch formell jedoch nicht ein. Baßler spitze dies zu der These zu, der Realismus habe gewonnen. Wobei Realismus, wie im folgenden Gespräch deutlich wird, hier als Abgrenzungsvokabel gegen Texte der Avantgarden, etwa von Carl Einstein, James Joyce oder Elisabeth Langgässer (so Baßler in seinem Buch), zu verstehen ist.
Im Gespräch mit dem langjährigen literarischen Programmleiter des C.H. Beck-Verlages, Martin Hielscher, kommt es zu einer ausführlicheren Diskussion dieser Auffassung von Realismus. Hielscher war vor seiner Arbeit für den Münchner Verlag über Jahre Lektor bei Kiepenheuer und Witsch (KiWi) und steht u.a. dafür, mit Autoren wie Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre die sog. Popliteratur beim Lesepublikum befördert zu haben. Allerdings betont er, dass der „Pop“-Begriff bei KiWi nicht verwendet worden sei. Hielscher hat 2005 das Buch Baßlers lektoriert und herausgegeben wie nun auch jenes über den populären Realismus.
Baßler und er, betont Hielscher, hätten unterschiedliche Auffassungen von Realismus und Gegenwartsliteratur, es habe beim Lektorat häufig Streit gegeben. Baßler, der im Publikum sitzt, lächelt dazu. Den Streit, so stellt sich heraus, empfanden beide als konstruktiv. Die Literatur, die bei C.H. Beck verlegt wird, dürfte teilweise unter den „Realismus“-Begriff Baßlers fallen. Hielscher erläutert, dass es ihm bei Literatur rein auf den sprachlichen Zugriff ankomme. Literatur soll ihm zufolge qua Sprache eine Erfahrung ermöglichen, die gegen die „narkotisierende Alltagswelt“, gegen den mit Schopenhauer sog. „Schleier der Maya“ wirke. Dabei gesteht er zu, dass ein potenzielles Publikum bei der Entscheidung, welches Manuskript verlegt wird, durchaus eine Rolle spielt. Er betont, dass erfolgreiche Bücher weniger erfolgreich in der verlegerischen Kalkulation gegeneinander aufgewogen werden können und so die Publikation weniger gut zu vermarktender Titel ermöglichen. Liest man bei Baßler nach, so steht – am Beispiel Fitzeks festgemacht – bei mancher publikumsorientierten Literatur die Verkäuflichkeit eindeutig im Vordergrund. Der alte Gegensatz von Kunst und Kommerz scheint auf, ohne dass er in dieser Eindeutigkeit benannt würde.
Nach diesem Auftakt wendet sich die Debatte ins Literaturwissenschaftliche. Von der Realität – nennen wir als Stichworte so weltbewegende Geschehnisse wie den Krieg gegen die Ukraine, die Störungen im internationalen Warenhandel oder die Unruhen im Iran – ist mit keinem Wort die Rede. Dr. Laura Schütz (LMU) greift in ihrem Vortrag noch einmal auf die Forderung des antiken Autors Horaz zurück, dass Literatur nützen und unterhalten möge („prodesse et delectare“). Sie stellt die Frage, ob Realismus als literarische nicht eine Kategorie der 19. Jahrhunderts sei. Baßler vertritt laut Schütz die Ansicht, dass realistische Literatur (der Gegenwart) nicht in der Lage sei, einen Gegenentwurf zur Wirklichkeit zu machen, sondern sich auf die beständige Sichtung unserer untergehenden Welt beschränke.
Auch der Theatermacher Milo Rau verwendet den Begriff des Realen, wie Schütz weiter ausführt. In seinem Genter Manifest von 2018 legt er zusammen mit dem „Leitungsteam“ des dortigen Theaters zehn Thesen vor. Die erste lautet: „Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern. Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, sondern dass die Darstellung selbst real wird.“ – Welche Konsequenzen das fürs Theater hat, sei in diesem Kontext dahingestellt. Übertragen auf die Literatur als beschreibende Kunst, würde es bedeuten, dass die Beschreibung selbst real werden sollte. Sprache kann Realität erzeugen oder sie abbilden – wäre bei dieser Überlegung jene Forderung bereits inbegriffen?
So weit würde Baßler bei aller Freude an der Polemik vermutlich nicht gehen. Er fordert eine Literatur, die Bedeutung hat. Das Lesen soll nicht einfach der Unterhaltung und, sagen wir, weltanschaulichen Gemütlichkeit dienen. Es sollte vielmehr ein Erkenntnisgewinn dabei herauskommen, was für viele zumindest ältere Leser ein Zündpunkt ihrer individuellen Begeisterung fürs Lesen gewesen ist: das Gefühl, etwas zu erfahren, was man anders nicht erfahren hätte, oder dass im eigenen Innern etwas fassbar wird, Gestalt annimmt, das vorher als amorpher Pfuhl aus Gefühlen und Gedanken im Dunkel lag. „Denken“, schreibt Baßler an einer Stelle, „auf rationale Weise Zukunftsoptionen entwickeln, das klingt wie ein entschiedenes literarisches Gegenprogramm zu den midcultigen Formen emotionalen Rechthabens, denen wir im bisherigen Verlauf unserer Studie von Stelling bis Knausgard, von Hungerford bis Feldman immer wieder begegnet sind.“
Midcult und Middlebrow
Damit sind wir bei den Begriffen angelangt, die Baßler als alte Kampfbegriffe wiederaufnimmt. Schon im Titel zitiert er den „International Style“, früher auch schnöde „Internationaler Stil“ genannt, als ein Merkmal von Architektur. Dieser Begriff aus den 1930er-Jahren stand zunächst emphatisch für einen nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Baustil, der sich nicht von lokalen Traditionen oder Gegebenheiten definieren lassen wollte, vielmehr Standards entwickelte, die an vielen Orten der Welt Gültigkeit besitzen sollten. Fehlende Ornamentik („Fassadenschmuck“), vielmehr flächige („glatte“) Außengestaltung, Regelmäßigkeit und Modularität gehören zu den Forderungen dieses Stils. Die Ergebnisse besonders ab den 1960er-Jahren, als Stichwort seien die corbusierschen Wohnmaschinen genannt, gerieten jedoch bald als menschenunfreundlich und technizistisch in Verruf. Überall auf der Welt werde bald alles gleich aussehen, so die Sorge. Wenn Baßler den Begriff auf die Literatur überträgt, kann das deshalb nur polemisch verstanden werden. Die alte Forderung nach einer Weltliteratur, die das Menschliche so allgemein fasst, dass eine jede und ein jeder davon profitieren können, mutiert dabei zum Synonym für ein Schreiben, das ausreichend mittelmäßig ist, um von der Masse der Rezipierenden gemocht, um nicht zu sagen „geliked“ zu werden.
Mittelmäßigkeit ist auch Gegenstand der Begriffe von „Middlebrow“ als Kategorie zwischen „Highbrow“ und „Lowbrow“, sehr grob gesagt elitärer und volkstümlicher Kultur. Lehnten Autoren wie Virginia Woolf in den 1920er-Jahren diesen Mittelweg entschieden ab, so wurden die Begriffe nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend kontrovers diskutiert und von dem amerikanischen Autor Dwight Macdonald sowie Umberto Ecco in den Begriff des „Midcults“ überführt. Damit ist ein Gestus bezeichnet, der „zu suggerieren versucht, daß der Leser im Genuß dieser Reize eine privilegierte ästhetische Erfahrung vervollkommne“, so zitiert Baßler Eco und übersetzt: „sprich: an KUNST im emphatischen Sinne partizipiere, der tatsächlich eine leicht lesbare und daher gut verkäufliche Unterhaltungsliteratur rezipiert, die weit hinter den poetischen Möglichkeiten wahrer Kunst zurückbleibt.“ Hieran lässt sich ablesen, dass der alte Gegensatz von künstlerisch-kultureller Bedeutsamkeit und Verkäuflichkeit in den Überlegungen zum „populären Realismus“ weiterhin virulent ist. Die Frage wäre: Wem diente diese Bedeutsamkeit, wenn sie denn vorhanden wäre? Die gesellschaftliche Wertschätzung künstlerisch avancierter Literatur ist vielleicht einmal sehr hoch, aber nie sehr breit gewesen. In einer Zeit, in der jede Form von Elitismus sich nicht auf Konsum bezieht, gewissermaßen auf die pekuniären Möglichkeiten, die beruflicher Erfolg mit sich bringen kann, ist kein Raum mehr, so scheint es, für sog. hochwertige Kunst oder hohe Literatur. Das Feuilleton als Hallraum für diese Literatur verschwindet selbst schneller als das ewige Eis.
So ist denn ein weiterer Vortrag der von Baßler ebenfalls beäugtem Rezeption gewidmet. Das bisschen, was ich über Literatur lese, schreibe ich mir selbst, könnte man einen Topos literarischer Salongespräche paraphrasieren, oder besser gesagt doch: das viele. Denn im Netz blüht eine besondere Form des Midcults: die Vermittlungskultur. Von der Amazon-Rezension über literarische Blogs bis zum bildorientierten Instagram-Post scheint das Urteilen über Lektüre, das Empfehlen oder auch Warnen recht beliebt zu sein. Fabienne Imlinger stellt in ihrer Auseinandersetzung mit Baßlers Buch fest, dass die Bücher, die jener unter die Lupe nimmt, im Online-Medium nicht oder nur am Rande vorkommen. Sie bemängelt eine fehlende Breite der Wahrnehmung bei Baßler, was Buchbesprechungen und ähnliches im Internet betrifft. Seinen Thesen von einer normierenden Stilgemeinschaft stellt sie ihre Bedenken und gegenläufige Beispiele entgegen. Baßler fasst diesen Begriff etwa so: „Beim synchronen Werk, beim populären Produkt von Konsumindustrie, Markt und Medien kommt der Erfolg, das Gutfinden denn auch systematisch vor dem Verstehen, der gemeinsame Kult der Stilgemeinschaft vor der Analyse des Spektakulären als Text – und dieser Kult richtet sich auf die Feier des Erwartbaren ...“ Meinung statt Analyse, Gemeinschaftsgefühl statt individuelles Nachdenken, so könnte man das paraphrasieren.
Ein Impuls der Avantgarden war schließlich das konsequente Herausstellen von Individualität und Gemeinschaftsverweigerung, wie sie etwa beim jungen Benn u.a. in der Rönne-Prosa aus der Zeit der Ersten Weltkriegs ebenso zu finden ist wie ein konsequent elitäres Literaturbewusstsein (Kunst sei etwas für zwanzig Leute, so erinnere ich mich). Auch die gute alte Hermeneutik, die „schwierige“ Texte durch gründliches, verstehendes Lesen aufschließen will, hat es in diesem Zusammenhang schwer, so der Münsteraner Literaturwissenschaftler: „Gutfinden ist in der Attraktionskultur das A und O, so wie die Kaufentscheidung in der marktförmigen Populärkultur. Alle weiteren Bestimmungen, die für die Beurteilung von Literatur noch primär waren – ästhetische Qualität, ethische Qualität, handwerkliche Qualität, Aussage, Sinn im weitesten Sinne –, sind demgegenüber sekundär; sie spielen immer noch eine Rolle, rücken aber ins zweite Glied.“
Auch Georg Oswald sieht manche These in Baßlers Buch kritisch. Der Münchner Autor, selbst zweitweise Verleger und gegenwärtig Lektor beim Hanser Verlag, außerdem Jurist, kennt die Literatur und den sog. „Betrieb“ von mehreren Seiten. Er weist darauf hin, dass man nicht vergessen dürfe, woher die Erzählmittel stammen, die heute etwa an Serien bekannter Streamingdienste bemängelt werden. So habe Balzac den Cliffhanger erfunden und nicht die Drehbuchautoren von Netflix. Auch auf der Seite der Produktion widerspricht er dem Literaturwissenschaftler bzw. bemängelt, dass jener die Verflechtung der Ökonomie mit der Frage, was gute Literatur sei, nicht berücksichtige. Aus seiner verlegerischen Erfahrung kann Oswald berichten, dass gut verkäufliche Bücher schwer herzustellen und praktisch nicht zu klonen seien. Damit greift er zurück auf das Fitzek-Argument vom Beginn und entkräftet eines der häufigsten Argumente im Zusammenhang mit am Markt erfolgreicher Literatur: dass sie nicht originell, sondern quasi industriell sei, zusammengerührt wie ein süßer Kuchen. Danach gefragt stellt Oswald außerdem fest, dass man auf die Verfilmbarkeit eines Buches beim Schreiben nicht schielen könne, sondern nur darauf, dass der Text gelinge. Auf diese Weise erfährt der zwischenzeitlich doch etwas wissenschaftlich abgehobene Diskurs eine angenehm an der Praxis orientierte Erdung.
Bei aller geäußerten Kritik an seinen Thesen lässt sich sagen, dass dem Autor Moritz Baßler Ehre erweisen wird. Mindestens eines zeigt die Debatte über den „Populären Realismus“: Es lohnt die Mühe, sich mit den Argumenten des Literaturwissenschaftlers auseinanderzusetzen. Ein Gespräch über Literatur – was kann sie und was soll sie, um mit Sartre zu sprechen – scheint nach wie vor möglich zu sein. Wünschenswert wäre, wenn solche Gespräche sich etwas enger an eine vermutlich vorhandene externe Lebensrealität anschlössen, wenn der Blick draußen nicht über Blickhöhe auf die Beine der Passanten ginge, sondern geradeaus in die Gesichter der Menschen. Eine Literatur für alle wird es nicht geben, schon weil es so viele Analphabeten gibt, darüber hinaus eine Menge Menschen, die nicht lesen wollen – auch das wäre mal Realismus. Aber dasselbe gilt letztendlich ja genauso für den Fußball.
Zum populären Realismus von Moritz Baßler>
Moritz Baßler, geboren 1962, lehrt Neuere deutsche Literatur an der Universität Münster. Bei C.H. Beck erschien von ihm 2005 Der deutsche Pop-Roman. 2022 wendet er sich mit der Polemik Der populäre Realismus erneut der Frage nach der Verfasstheit von – in erster Linie deutschsprachiger – Gegenwartsliteratur zu. Der Münchner Literaturwissenschaftler Kay Wolfinger veranstaltete im Rahmen der LMU-Reihe „literatur | saloon“ im November 2022 zu Baßlers Thesen eine Debatte. Ein Bericht von Thomas Lang.
*
Das Philologicum der Ludwig-Maximilians-Universität München beherbergt die Bibliothek ihrer sprach- und literaturwissenschaftlichen Fachbereiche. Das ehrwürdige Gebäude, in den 1830ern von Ludwig I. als Blindenanstalt erbaut, wurde in den 2000er-Jahren entkernt und zeitgemäß umgestaltet. In einem Raum im Erdgeschoss findet am 16. November 2022 eine Tagung zu dem germanistischen Sachbuch Der Populäre Realismus – vom International Style gegenwärtigen Erzählens statt. Die Fenster in dem hohen Raum sind über Blickhöhe angebracht, so dass man nur sieht, was schräg über einem auf der Schellingstraße bzw. auf dem kleinen Campus zwischen diesem und dem nächsten Universitätsgebäude geschieht.
Vorn stehen zwei Sessel und ein Stehpult, gegenüber mehrere Reihen von Stühlen, von denen im Laufe des Nachmittags kaum einer frei bleibt. Etwa 60 Besucher*innen nehmen an der Veranstaltung teil, darunter sind Münchner Autoren wie Hans Pleschinski, Thomas Meinecke oder der selbst im Laufe des Nachmittags zum Gespräch geladene Georg Oswald, Literaturwissenschaftler*in Prof. Annette Keck und Sven Hanuschek sowie die Journalistinnen Marie Schmidt (Süddeutsche Zeitung), Gisela Fichtl (Münchner Feuilleton) und Tina Rausch (u.a. für die Monacensia). Kay Wolfinger, ebenfalls Germanist und an der LMU tätig, ist Initiator des „literatur | saloon“ und führt durch die Veranstaltung.
Wolfinger referiert als Grundthesen des Baßlerschen Buches, dass im Roman heute der Inhalt die Form dominiere. Texte operierten häufig mit einer strategischen Lüge: Sie lüden sich etwa mit „genialen“ Inhalten oder als solche geltenden Figuren auf, lösten ihren Anspruch formell jedoch nicht ein. Baßler spitze dies zu der These zu, der Realismus habe gewonnen. Wobei Realismus, wie im folgenden Gespräch deutlich wird, hier als Abgrenzungsvokabel gegen Texte der Avantgarden, etwa von Carl Einstein, James Joyce oder Elisabeth Langgässer (so Baßler in seinem Buch), zu verstehen ist.
Im Gespräch mit dem langjährigen literarischen Programmleiter des C.H. Beck-Verlages, Martin Hielscher, kommt es zu einer ausführlicheren Diskussion dieser Auffassung von Realismus. Hielscher war vor seiner Arbeit für den Münchner Verlag über Jahre Lektor bei Kiepenheuer und Witsch (KiWi) und steht u.a. dafür, mit Autoren wie Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre die sog. Popliteratur beim Lesepublikum befördert zu haben. Allerdings betont er, dass der „Pop“-Begriff bei KiWi nicht verwendet worden sei. Hielscher hat 2005 das Buch Baßlers lektoriert und herausgegeben wie nun auch jenes über den populären Realismus.
Baßler und er, betont Hielscher, hätten unterschiedliche Auffassungen von Realismus und Gegenwartsliteratur, es habe beim Lektorat häufig Streit gegeben. Baßler, der im Publikum sitzt, lächelt dazu. Den Streit, so stellt sich heraus, empfanden beide als konstruktiv. Die Literatur, die bei C.H. Beck verlegt wird, dürfte teilweise unter den „Realismus“-Begriff Baßlers fallen. Hielscher erläutert, dass es ihm bei Literatur rein auf den sprachlichen Zugriff ankomme. Literatur soll ihm zufolge qua Sprache eine Erfahrung ermöglichen, die gegen die „narkotisierende Alltagswelt“, gegen den mit Schopenhauer sog. „Schleier der Maya“ wirke. Dabei gesteht er zu, dass ein potenzielles Publikum bei der Entscheidung, welches Manuskript verlegt wird, durchaus eine Rolle spielt. Er betont, dass erfolgreiche Bücher weniger erfolgreich in der verlegerischen Kalkulation gegeneinander aufgewogen werden können und so die Publikation weniger gut zu vermarktender Titel ermöglichen. Liest man bei Baßler nach, so steht – am Beispiel Fitzeks festgemacht – bei mancher publikumsorientierten Literatur die Verkäuflichkeit eindeutig im Vordergrund. Der alte Gegensatz von Kunst und Kommerz scheint auf, ohne dass er in dieser Eindeutigkeit benannt würde.
Nach diesem Auftakt wendet sich die Debatte ins Literaturwissenschaftliche. Von der Realität – nennen wir als Stichworte so weltbewegende Geschehnisse wie den Krieg gegen die Ukraine, die Störungen im internationalen Warenhandel oder die Unruhen im Iran – ist mit keinem Wort die Rede. Dr. Laura Schütz (LMU) greift in ihrem Vortrag noch einmal auf die Forderung des antiken Autors Horaz zurück, dass Literatur nützen und unterhalten möge („prodesse et delectare“). Sie stellt die Frage, ob Realismus als literarische nicht eine Kategorie der 19. Jahrhunderts sei. Baßler vertritt laut Schütz die Ansicht, dass realistische Literatur (der Gegenwart) nicht in der Lage sei, einen Gegenentwurf zur Wirklichkeit zu machen, sondern sich auf die beständige Sichtung unserer untergehenden Welt beschränke.
Auch der Theatermacher Milo Rau verwendet den Begriff des Realen, wie Schütz weiter ausführt. In seinem Genter Manifest von 2018 legt er zusammen mit dem „Leitungsteam“ des dortigen Theaters zehn Thesen vor. Die erste lautet: „Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern. Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, sondern dass die Darstellung selbst real wird.“ – Welche Konsequenzen das fürs Theater hat, sei in diesem Kontext dahingestellt. Übertragen auf die Literatur als beschreibende Kunst, würde es bedeuten, dass die Beschreibung selbst real werden sollte. Sprache kann Realität erzeugen oder sie abbilden – wäre bei dieser Überlegung jene Forderung bereits inbegriffen?
So weit würde Baßler bei aller Freude an der Polemik vermutlich nicht gehen. Er fordert eine Literatur, die Bedeutung hat. Das Lesen soll nicht einfach der Unterhaltung und, sagen wir, weltanschaulichen Gemütlichkeit dienen. Es sollte vielmehr ein Erkenntnisgewinn dabei herauskommen, was für viele zumindest ältere Leser ein Zündpunkt ihrer individuellen Begeisterung fürs Lesen gewesen ist: das Gefühl, etwas zu erfahren, was man anders nicht erfahren hätte, oder dass im eigenen Innern etwas fassbar wird, Gestalt annimmt, das vorher als amorpher Pfuhl aus Gefühlen und Gedanken im Dunkel lag. „Denken“, schreibt Baßler an einer Stelle, „auf rationale Weise Zukunftsoptionen entwickeln, das klingt wie ein entschiedenes literarisches Gegenprogramm zu den midcultigen Formen emotionalen Rechthabens, denen wir im bisherigen Verlauf unserer Studie von Stelling bis Knausgard, von Hungerford bis Feldman immer wieder begegnet sind.“
Midcult und Middlebrow
Damit sind wir bei den Begriffen angelangt, die Baßler als alte Kampfbegriffe wiederaufnimmt. Schon im Titel zitiert er den „International Style“, früher auch schnöde „Internationaler Stil“ genannt, als ein Merkmal von Architektur. Dieser Begriff aus den 1930er-Jahren stand zunächst emphatisch für einen nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Baustil, der sich nicht von lokalen Traditionen oder Gegebenheiten definieren lassen wollte, vielmehr Standards entwickelte, die an vielen Orten der Welt Gültigkeit besitzen sollten. Fehlende Ornamentik („Fassadenschmuck“), vielmehr flächige („glatte“) Außengestaltung, Regelmäßigkeit und Modularität gehören zu den Forderungen dieses Stils. Die Ergebnisse besonders ab den 1960er-Jahren, als Stichwort seien die corbusierschen Wohnmaschinen genannt, gerieten jedoch bald als menschenunfreundlich und technizistisch in Verruf. Überall auf der Welt werde bald alles gleich aussehen, so die Sorge. Wenn Baßler den Begriff auf die Literatur überträgt, kann das deshalb nur polemisch verstanden werden. Die alte Forderung nach einer Weltliteratur, die das Menschliche so allgemein fasst, dass eine jede und ein jeder davon profitieren können, mutiert dabei zum Synonym für ein Schreiben, das ausreichend mittelmäßig ist, um von der Masse der Rezipierenden gemocht, um nicht zu sagen „geliked“ zu werden.
Mittelmäßigkeit ist auch Gegenstand der Begriffe von „Middlebrow“ als Kategorie zwischen „Highbrow“ und „Lowbrow“, sehr grob gesagt elitärer und volkstümlicher Kultur. Lehnten Autoren wie Virginia Woolf in den 1920er-Jahren diesen Mittelweg entschieden ab, so wurden die Begriffe nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend kontrovers diskutiert und von dem amerikanischen Autor Dwight Macdonald sowie Umberto Ecco in den Begriff des „Midcults“ überführt. Damit ist ein Gestus bezeichnet, der „zu suggerieren versucht, daß der Leser im Genuß dieser Reize eine privilegierte ästhetische Erfahrung vervollkommne“, so zitiert Baßler Eco und übersetzt: „sprich: an KUNST im emphatischen Sinne partizipiere, der tatsächlich eine leicht lesbare und daher gut verkäufliche Unterhaltungsliteratur rezipiert, die weit hinter den poetischen Möglichkeiten wahrer Kunst zurückbleibt.“ Hieran lässt sich ablesen, dass der alte Gegensatz von künstlerisch-kultureller Bedeutsamkeit und Verkäuflichkeit in den Überlegungen zum „populären Realismus“ weiterhin virulent ist. Die Frage wäre: Wem diente diese Bedeutsamkeit, wenn sie denn vorhanden wäre? Die gesellschaftliche Wertschätzung künstlerisch avancierter Literatur ist vielleicht einmal sehr hoch, aber nie sehr breit gewesen. In einer Zeit, in der jede Form von Elitismus sich nicht auf Konsum bezieht, gewissermaßen auf die pekuniären Möglichkeiten, die beruflicher Erfolg mit sich bringen kann, ist kein Raum mehr, so scheint es, für sog. hochwertige Kunst oder hohe Literatur. Das Feuilleton als Hallraum für diese Literatur verschwindet selbst schneller als das ewige Eis.
So ist denn ein weiterer Vortrag der von Baßler ebenfalls beäugtem Rezeption gewidmet. Das bisschen, was ich über Literatur lese, schreibe ich mir selbst, könnte man einen Topos literarischer Salongespräche paraphrasieren, oder besser gesagt doch: das viele. Denn im Netz blüht eine besondere Form des Midcults: die Vermittlungskultur. Von der Amazon-Rezension über literarische Blogs bis zum bildorientierten Instagram-Post scheint das Urteilen über Lektüre, das Empfehlen oder auch Warnen recht beliebt zu sein. Fabienne Imlinger stellt in ihrer Auseinandersetzung mit Baßlers Buch fest, dass die Bücher, die jener unter die Lupe nimmt, im Online-Medium nicht oder nur am Rande vorkommen. Sie bemängelt eine fehlende Breite der Wahrnehmung bei Baßler, was Buchbesprechungen und ähnliches im Internet betrifft. Seinen Thesen von einer normierenden Stilgemeinschaft stellt sie ihre Bedenken und gegenläufige Beispiele entgegen. Baßler fasst diesen Begriff etwa so: „Beim synchronen Werk, beim populären Produkt von Konsumindustrie, Markt und Medien kommt der Erfolg, das Gutfinden denn auch systematisch vor dem Verstehen, der gemeinsame Kult der Stilgemeinschaft vor der Analyse des Spektakulären als Text – und dieser Kult richtet sich auf die Feier des Erwartbaren ...“ Meinung statt Analyse, Gemeinschaftsgefühl statt individuelles Nachdenken, so könnte man das paraphrasieren.
Ein Impuls der Avantgarden war schließlich das konsequente Herausstellen von Individualität und Gemeinschaftsverweigerung, wie sie etwa beim jungen Benn u.a. in der Rönne-Prosa aus der Zeit der Ersten Weltkriegs ebenso zu finden ist wie ein konsequent elitäres Literaturbewusstsein (Kunst sei etwas für zwanzig Leute, so erinnere ich mich). Auch die gute alte Hermeneutik, die „schwierige“ Texte durch gründliches, verstehendes Lesen aufschließen will, hat es in diesem Zusammenhang schwer, so der Münsteraner Literaturwissenschaftler: „Gutfinden ist in der Attraktionskultur das A und O, so wie die Kaufentscheidung in der marktförmigen Populärkultur. Alle weiteren Bestimmungen, die für die Beurteilung von Literatur noch primär waren – ästhetische Qualität, ethische Qualität, handwerkliche Qualität, Aussage, Sinn im weitesten Sinne –, sind demgegenüber sekundär; sie spielen immer noch eine Rolle, rücken aber ins zweite Glied.“
Auch Georg Oswald sieht manche These in Baßlers Buch kritisch. Der Münchner Autor, selbst zweitweise Verleger und gegenwärtig Lektor beim Hanser Verlag, außerdem Jurist, kennt die Literatur und den sog. „Betrieb“ von mehreren Seiten. Er weist darauf hin, dass man nicht vergessen dürfe, woher die Erzählmittel stammen, die heute etwa an Serien bekannter Streamingdienste bemängelt werden. So habe Balzac den Cliffhanger erfunden und nicht die Drehbuchautoren von Netflix. Auch auf der Seite der Produktion widerspricht er dem Literaturwissenschaftler bzw. bemängelt, dass jener die Verflechtung der Ökonomie mit der Frage, was gute Literatur sei, nicht berücksichtige. Aus seiner verlegerischen Erfahrung kann Oswald berichten, dass gut verkäufliche Bücher schwer herzustellen und praktisch nicht zu klonen seien. Damit greift er zurück auf das Fitzek-Argument vom Beginn und entkräftet eines der häufigsten Argumente im Zusammenhang mit am Markt erfolgreicher Literatur: dass sie nicht originell, sondern quasi industriell sei, zusammengerührt wie ein süßer Kuchen. Danach gefragt stellt Oswald außerdem fest, dass man auf die Verfilmbarkeit eines Buches beim Schreiben nicht schielen könne, sondern nur darauf, dass der Text gelinge. Auf diese Weise erfährt der zwischenzeitlich doch etwas wissenschaftlich abgehobene Diskurs eine angenehm an der Praxis orientierte Erdung.
Bei aller geäußerten Kritik an seinen Thesen lässt sich sagen, dass dem Autor Moritz Baßler Ehre erweisen wird. Mindestens eines zeigt die Debatte über den „Populären Realismus“: Es lohnt die Mühe, sich mit den Argumenten des Literaturwissenschaftlers auseinanderzusetzen. Ein Gespräch über Literatur – was kann sie und was soll sie, um mit Sartre zu sprechen – scheint nach wie vor möglich zu sein. Wünschenswert wäre, wenn solche Gespräche sich etwas enger an eine vermutlich vorhandene externe Lebensrealität anschlössen, wenn der Blick draußen nicht über Blickhöhe auf die Beine der Passanten ginge, sondern geradeaus in die Gesichter der Menschen. Eine Literatur für alle wird es nicht geben, schon weil es so viele Analphabeten gibt, darüber hinaus eine Menge Menschen, die nicht lesen wollen – auch das wäre mal Realismus. Aber dasselbe gilt letztendlich ja genauso für den Fußball.