Kerstin Preiwuß: Auszug aus „Heute ist mitten in der Nacht“
Kerstin Preiwuß (*1980 in Lübz) ist eine vielfach ausgezeichnete Autorin von Romanen, Gedichten und Essays. 2020 erhielt sie den Lyrikpreis der Deutschen Schillerstiftung. Seit 2021 hat sie den Lehrstuhl für „Literarische Ästhetik“ am Deutschen Literaturinstitut Leipzig inne. Mit Heute ist mitten in der Nacht (Berlin Verlag) legt sie einen Text vor, der Selbstvergewisserung und Sprachkraft auf eindrucksvolle Weise zusammenführt und unser gegenwärtiges Zeitempfinden in den Blick nimmt. In diesem vorab publizierten Auszug nimmt sie Bezug auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine.
*
Dieses Rumgeeiere bisher, dieses Lavieren bis hierher, dieses Balzen mit der Sprache, was man gemeinhin als Vorahnung ansieht, ist hinfällig geworden. Du erkennst die Angst nicht mehr. Aber du erkennst Panik, denn ab jetzt gibt es nur das Wort sofort. Sofort nach dem Aufwachen war klar, dass die Würfel gefallen waren, sie streckten sich in der Luft und nahmen eine waagerechte Haltung an und wurden zu Bomben, die auf das ganze Land zielten. Seitdem nehmen die Wörter andere Bedeutung an. Stille ist nicht das, was du spürst, während du im Bett liegend kaum atmen kannst, weil die Krankheit dich im Griff hat. Stille ist der fehlende Ton zwischen den Sirenen. Warten ist nicht das, als was du es wahrnimmst, bis die Krankheit vorübergegangen ist, während du im Bett liegend den Baum anstarrst. Warten ist der Zeitraum bis zum Eintreffen der Nachrichten. Der Raum verschiebt sich, weil das, wofür man nicht aufmerksam war, plötzlich angegriffen wird und man sich fragen muss, ob man nicht aufmerksam genug war. Deine Bezüge lösen sich auf in den Tönen der Sirenen, die feinen Systeme, in denen du zu denken gewohnt bist, vereinfachen sich brutal. Die Sicherheit deines etablierten Denkens löst sich auf mit jedem Bombeneinschlag, als würde ein Bild zerfetzt, unklar, an welcher Stelle das nächste Loch kommt. Die Bedeutung deiner Erfahrungen verdreht sich unmittelbar, und müsste man dich zeichnen, funktionierten die Gliedmaßen an deinem Körper plötzlich falsch herum: Die Augen sähen immer nur nach innen, die Füße bewegten sich im Kreis, die Hände griffen ins Leere. Die Panik lässt dich Kreise ziehen in Gedanken, während du gefühlt mit den Händen nach Luft schnappst. Dein Frühwarnsystem hat nicht funktioniert, obwohl der Schwellenwert überhandnahm, sich an der Grenze anstaute und man doch dabei zuschauen konnte, wie der Angriff seinen Lauf nahm.
Noch im Sommer zwischen zwei Coronajahren wart ihr in Berlin irgendwie zusammengekommen, hattet euch immerhin halb getroffen. Eigentlich wärt ihr alle zusammen in Iwano-Frankiwsk gewesen, aber die Pandemie ließ die Reise nicht zu, also erzeugtet ihr aus zwei über das Internet übertragenen Sicheln einen Kreis zwischen Berlin und dort und hörtet euch von fern zu. Es gelang nur halb, denn es kam zu einer technischen Verzögerung in der Übertragung, sodass ihr euch immer um etwa eine halbe Minute verfehltet. Die Bewegungen wurden beim Lesen zwar synchron übertragen, aber man hörte sich nicht, sondern war auf ihren Nachklang angewiesen. Der Moment der Aussage und ihr Sinn verzogen sich wie in einem Spiegelkabinett. Es war keine Verständigung möglich, und du wartetest auf die Sirenen, die zum Test für den Tag angesagt waren, damit wir wieder lernten, auf Unvorhersehbares zu reagieren. Du erwartetest es mit einer gewissen Ungeduld, denn ihr Ton war dir noch aus der Kindheit bekannt, jenes lang gezogene Heulen, das alles unterbrach und einen innehalten ließ und das, was in der Luft lag, zerriss. Aber nicht einmal die Sirenen sprangen an am Katastrophentag, der Moment, der einen hätte warnen sollen, verging unbemerkt auf dem Weg zum Holocaust-Denkmal. Und während du auf Zeichen gewartet hast, die dir etwas vorhersagen sollten, damit du dich orientieren konntest in diesem Sommer zwischen zwei Wellen, übersahst du die Drohkulisse, die sich Zeichen für Zeichen aufbaute. Der Krieg war da schon da, doch er drang nicht über die Schwelle. Dafür sammelte er sich an, und das musst du so sagen, denn du hast in den letzten Jahren vieles von dem Wissen angesammelt, das ihn erwartbar machte. Trotzdem kannst du nicht sagen, wie sich dieser Moment beschreiben lässt, der auf einmal die Welt verändert, obwohl nur eintritt, wovon man weiß, dass es geschehen kann. Als setzte ein mörderisch wildes Tier zum Sprung an und würde die Szenerie zugleich grell erhellt, außen über die Nachrichten und innen über das Wissen, das sich plötzlich bewahrheitete. In diesem Moment sprang die Gewissheit über die Schwelle und zerriss alles Vermeintliche. Das ist der erste Krieg, der dich trifft, und mit jeder Bombe erschüttert er dich, jede Bombe ist falsch, unsagbar falsch, wie soll das weitergehen, denkst du stoisch liegend im Bett, während du kaum atmen kannst. Das ist gefühlt dein erster Kriegsausbruch, alle anderen hast du ignoriert. Das ist der, der nun in dir regiert, der dein Erleben auflöst und dich dem Zeitgeist zuschlägt. Er begann nachts, als alle schliefen, und kam nach dem Aufwachen an.
Und was tut die Angst jetzt, wenn man als Zuschauer mit ihr zusammensitzt? Man fasst am Morgen danach zusammen, was in der Nacht geschah, sagen die Experten. Keine Erwartungsgewissheit, kein So-schlimm-wird's-schon-nicht-werden, keine neue Normalität, keine Rückkehr ins Vertraute, kein Es-kommen-auch-wieder-andere-Zeiten, keine Spekulation darauf. Nur ein Starren auf die Bilder und ein jähes Wissen um die Kriege, die noch kommen werden. Sezier lieber die Angst. Die einen haben eine Fluchttasche neben der Tür. Die sind noch nicht lange hier. Die anderen nicht. Das ist der Unterschied.
So geht das schon wochenlang, der Moment hält an wie der Ton der Sirene und zwingt mich, zu begreifen, was wie aus einem Film entsprungen wirkt. Das ist doch Vergangenheit, aus der wir uns längst gelöst haben, wie kann es sein, dass es uns jetzt so überholt erscheinen lässt. Ab jetzt werden wieder Museen gesprengt, Theater zerstört, Ortsnamen ersetzt, seilt der Feind sich über der Hauptstadt ab und ersetzt den Agentenfilm. Ab jetzt geschieht alles zeitgleich. Ab jetzt ist, wie es vorher war, vorbei.
Und wie die Bomben fallen. Sie fallen, wenn die Menschen im Kino sind. Wenn sie in den Supermarkt gehen. Oder bei der Büroarbeit. Sie kommen von oben und fallen, als sie sich zu verstecken beginnen in den Theatern, statt sich abzulenken mit Theaterstücken, und ihre Situation schon nicht mehr als Teil eines Films wahrnehmen. Sie schlagen in Menschenmengen auf Bahnhöfen. Sie streichen über die Köpfe der Kinder, zerfetzen sie oder trennen ihnen Gliedmaßen ab. Sie bringen die Menschen dazu, sich Kochtöpfe aufzusetzen und in Badewannen zu hocken, sie lassen Erwachsene in Supermarktkostümen die Waisen zu den Zügen begleiten, die sie aus der Stadt bringen sollen, sie lassen Frauen mit Kindern tagelang zu Fuß bis über Grenzen gehen. Sie sind noch nicht auf flüchtende Züge gefallen, sie sind noch nicht in andere Länder eingefallen. Ich kann das kaum schreiben. Sie zerstören alles, auch die Bücher, auch die, die noch nicht geschrieben sind. Woran knüpfen wir dann an?
Wie konntest du nur dabei zusehen, wie konntest du nur dabei zusehen, wie sich über Jahre hinweg eine Welle aufbaute, fast nur als Erinnerung an einen Sommer, an einen weiteren Augenblick auf der Autobahn, um die Kinder aus den Ferien zu holen oder sie zu bringen, als das Radio von einem Einfall in Georgien sprach und sich zwei neue Namen auf einmal als Republiken ausgaben. Das kurze Gefühl, das geht doch nicht, das aber schnell vorüberging und deine Aufmerksamkeit nicht weiter beanspruchte. Dann das völlig zerbombte Aleppo, der Basar, den es nicht mehr gibt, aber das war nicht dein Gebiet, und schließlich die Krim und der wilde Donbass, der dir mit seiner Armut, seinem Mangel an Ästhetik, seiner Menge an Bergwerken doch im Grunde gleichgültig war. Das abgeschossene niederländische Flugzeug mit all seinen Toten reichte auch nicht, um den Blick zu richten auf das, was kommt. Vielleicht noch deine Emphase angesichts der Ästhetik des Aufbegehrens in Belarus, so schön, so wahr und so echt, aber erst dann brach plötzlich etwas los, und nun sieh an, du erkennst dich auf einmal nicht wieder. Siehst die Lunte brennen, kannst sie rückverfolgen bis zur Explosion, Kultur und Explosion, liest du bei Juri Lotman über ein an Explosionen orientiertes Denken und die Überwindung der fatalen Entscheidung zwischen Stillstand und Katastrophe. Wenn die Vorwärtsbewegung – und die Alternative dazu ist nur die Katastrophe, deren Ausmaß schwer einzuschätzen ist – trotzdem die Grenze überwindet, auf der wir uns befinden, dann wird die entstandene Ordnung kaum eine einfache Kopie der westlichen Ordnung sein. [...] Die grundlegende Veränderung in den Beziehungen zwischen West- und Osteuropa, die sich vor unseren Augen vollzieht, bietet vielleicht die Möglichkeit, zu einem gesamteuropäischen ternären System überzugehen und abzugehen von dem Ideal, die alte Welt bis auf die Grundfesten zu zerstören, um danach auf ihren Ruinen eine neue zu bauen. Diese Möglichkeit zu versäumen, wäre eine historische Katastrophe.
Es gab diesen Moment, erinnerst du dich, als der Krieg in der Luft zu liegen begann und man öffentlich davor warnte, ihn herbeizureden, indem man über ihn sprach. Ruhig Blut, bis jetzt ist der Angriff nur vorhersehbar, stattgefunden hat er noch nicht. Und dann genügte eine Nacht, um zu zeigen, dass der Gang der Ereignisse nicht unberechenbar war und der Krieg nicht einfach ausbrach. Da brannte die Lunte längst.
Aber warte nur, mit der Zeit gewöhnst du dich daran, dann sind die Informationen nicht mehr so unmittelbar. Schon jetzt erkennt man Bilder wieder und kann sie einordnen.
Nach genug Zeit verwandelt sich noch jedes Entsetzen in Gleichgültigkeit. Sezier besser deine Angst. Die Menschen leiden auch so. Etwas, was sie gar nicht erleben, wird wahr. Das wirkt mitunter Wunder.
Die Angst sprang in die Badewanne. Schaumköpfe las deine Mutter dir immer als Kinderbuch vor, ein älteres Mädchen wäscht seinem jüngeren Bruder den Kopf, aber hier warst du es, die in der Badewanne saß und deine Mutter, während du Schaum beiseiteschobst, fragte, ob denn jemand eine Bombe auf uns werfen könne, und sie dich nur beruhigen konnte mit dem Satz, nein, das gehe nicht, denn jemand anderes passe mit seiner Bombe auf uns auf. Und wie die Angst nun wieder in der Badewanne in den Kindern steckt, vor dem Schlafengehen fragt dich deine Tochter, aber uns erreicht der Böse doch nicht, er soll nicht so vielen Menschen Böses tun. Und du antwortest deinem Kind, nein, uns geschieht hier nichts, und weißt, wie sehr du lügst.
Die Angst steckt also in den Stimmen der Mütter, sie hat sich verborgen unter Gutenachtgeschichten und hält sich hinter lächelnden Gesichtern versteckt, sie springt mit hoch, wenn Mütter ihre Kinder in die Luft werfen und ihnen immer, immer versichern, dass ihnen nie etwas geschehen wird, wenn sie plötzlich mit ihnen aufbrechen müssen und ihnen noch, während sie sagen, nimm deinen Rucksack und dein Kuscheltier mit, versprechen, dass es spannend, ein Abenteuer wird. Sie kennt sich aus mit den Lügen der Eltern und speist sich aus den Vorstellungen der Kinder, ein neues Spiel, was packst du in deinen Koffer, wenn der Koffer nur ein Rucksack ist und es keine Zeit für Überlegungen gibt. Nimm dein Kuscheltier, dein Haustier mit, und warme Kleidung. Was nimmst du denn mit, fragt dich dein Kind, und alle Nervenenden richten sich auf, dieses Gefühl ist vertraut, schon wieder. Es schleudert einen in den Moment zurück, da man handeln muss, mit schneller Hand die Dinge ordnen, greifen, packen für den Moment, da einem alles aus der Hand fallen wird. Jetzt weißt du es, weil deine Tochter fragt, du weißt also, dass man für andere bereits in sich beginnt, sie zu verwandeln in etwas, das man erzählen kann.
Die Angst ging um in deinem Heimatkundebuch von früher, dort gab es Bilder von ausgelöschten Dörfern und den toten Dorfbewohnern daneben, du hast dir das immer wieder angeschaut und dir das Foto gemerkt, tote Menschen angeordnet auf einem Feld neben ihrem abgebrannten Dorf, ein Begleitumstand in Schwarz-Weiß. Die Angst ordnete das ein und der Bildung und Erziehung unter.
Die Angst nahm dich huckepack in Gestalt des Soldaten, der ein Kind im Krieg gerettet hatte, lieber das Kind als er, und dieses Kind hättest du gewesen sein können, erzählte man dir, erzählte man sich untereinander wieder, so ging die Geschichte reihum und war jedem bekannt, so stand es an dem Denkmal, ein verewigter Soldat mit einem Kind auf dem Arm. Die Angst sehnte sich als Kind danach, einmal einem echten sowjetischen Soldaten zu begegnen, weil jeder von ihnen der war, der dich womöglich hochgehoben hätte. Das machte, dass du den einzigen sowjetischen Soldaten, den du jemals am Bahnhof stehen sahst, von vornherein umarmen wolltest.
Sie verhielt sich launig in der Erzählstunde am Pioniernachmittag, in Geschichten über eingesperrte Helden, lauter Gefängnisgeschichten, in denen Töchter ihre Väter bis zur Hinrichtung besuchen durften und ihnen in der Umarmung Nachrichten von draußen zuschoben. Das machte, dass man sich diese Töchter als Vorbild nahm.
Die Angst wurde dir seitenlang spannend erzählt in Büchern, die in Reihe erschienen und von denen du etliche gelesen hast: Gefangene der Pantherschlucht, Magellans Reise um die Welt, Das Grab der Legionen, Unter Korsaren verschollen, Die vier Pfeile der Cheyenne, Späher der Witbooi-Krieger, Die Verbannten von Neukaledonien, Strom ohne Brücke, Oberhäuptling der Herero, Fieber am Amazonas, Temudschin, Herniu und mit ihm Armin, der Cherusker, und wie er die Legionen des Varus im Teutoburger Wald aufrieb. Und weiter, Hundertfünfzig Escudos, wie man Amerikaner mit Armut rührt, Die Söhne der großen Bärin, wie man sich verhält, wenn man ausgestoßen und verfolgt wird, Vierbeinige Freunde, wie man Zootieren im Krieg hilft, Silberhuf zieht in den Krieg, wie man dem Vietcong hilft, Ede und Unku, wie man seiner Freundin hilft. Neben den Entdeckungen unbekannter Reiserouten gern die Grausamkeiten während der Eroberung anderer Völker und deren Kampf dagegen. Dafür nie Karl May, weil der gelogen hat, stattdessen ein Vortrag über dein Lieblingsbuch in der dritten Klasse Vom Freiheitskampf des Roten Mannes, in dem stand, wer wen in Nord- und Südamerika abgeschlachtet, gevierteilt, verbrannt hat.
Die Angst war fester Bestand des Lexikons, mit dem man dir ab Schuleintritt die Welt erklärte. Von Anton bis Zylinder, das Lexikon für Kinder war schön illustriert und kindgerecht. Erst später, als du es dir wieder vornahmst, um zu erfahren, was sonst noch drinstand, stellte sie sich dar, die Bilder der Jahreszeiten täuschten nicht über die militärischen Orden, Rangabzeichen, Organisationen und nationalen Feiertage hinweg.
Das Amphibienfahrzeug
Der Atomeisbrecher
Die Brennstoffe
Das Erdgas
Das Ferienlager
Der Frieden
Das Gaswerk
Das Gedicht
Die Gezeiten
Die Großplattenbauweise
Der Ingenieur
Die Insekten
Die Jahreszeiten
Die Kampfgruppen
Die Kantate
Die Koexistenz
Der Kompaß
Das Kraftwerk
Das Licht
Die Märchen
Die Maschinen
Die Nationalhymne
Der Nebel
Die Oase
Die Oktoberrevolution
Die Pferde
Die Pflanzen
Die Pipeline
Das Radargerät
Die Rakete
Die Schlacke
Das Schmelzen
Die Schmetterlinge
Die Schnecken
Der Schnee
Die Seuchen
Die Solidarität
Staatliche Auszeichnungen
Der Stahl
Die Steppe
Tag der Befreiung
Tag der Republik
Tagebau
Das Turnen
Das U-Boot
Das Uran
Die Volkspolizei
Das Wasser
Die Wiese
Die Zeit
Kerstin Preiwuß: Heute ist mitten in der Nacht. Berlin Verlag, ISBN 978-3-8270-1465-8, erscheint am 6. Januar 2023.
Kerstin Preiwuß: Auszug aus „Heute ist mitten in der Nacht“>
Kerstin Preiwuß (*1980 in Lübz) ist eine vielfach ausgezeichnete Autorin von Romanen, Gedichten und Essays. 2020 erhielt sie den Lyrikpreis der Deutschen Schillerstiftung. Seit 2021 hat sie den Lehrstuhl für „Literarische Ästhetik“ am Deutschen Literaturinstitut Leipzig inne. Mit Heute ist mitten in der Nacht (Berlin Verlag) legt sie einen Text vor, der Selbstvergewisserung und Sprachkraft auf eindrucksvolle Weise zusammenführt und unser gegenwärtiges Zeitempfinden in den Blick nimmt. In diesem vorab publizierten Auszug nimmt sie Bezug auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine.
*
Dieses Rumgeeiere bisher, dieses Lavieren bis hierher, dieses Balzen mit der Sprache, was man gemeinhin als Vorahnung ansieht, ist hinfällig geworden. Du erkennst die Angst nicht mehr. Aber du erkennst Panik, denn ab jetzt gibt es nur das Wort sofort. Sofort nach dem Aufwachen war klar, dass die Würfel gefallen waren, sie streckten sich in der Luft und nahmen eine waagerechte Haltung an und wurden zu Bomben, die auf das ganze Land zielten. Seitdem nehmen die Wörter andere Bedeutung an. Stille ist nicht das, was du spürst, während du im Bett liegend kaum atmen kannst, weil die Krankheit dich im Griff hat. Stille ist der fehlende Ton zwischen den Sirenen. Warten ist nicht das, als was du es wahrnimmst, bis die Krankheit vorübergegangen ist, während du im Bett liegend den Baum anstarrst. Warten ist der Zeitraum bis zum Eintreffen der Nachrichten. Der Raum verschiebt sich, weil das, wofür man nicht aufmerksam war, plötzlich angegriffen wird und man sich fragen muss, ob man nicht aufmerksam genug war. Deine Bezüge lösen sich auf in den Tönen der Sirenen, die feinen Systeme, in denen du zu denken gewohnt bist, vereinfachen sich brutal. Die Sicherheit deines etablierten Denkens löst sich auf mit jedem Bombeneinschlag, als würde ein Bild zerfetzt, unklar, an welcher Stelle das nächste Loch kommt. Die Bedeutung deiner Erfahrungen verdreht sich unmittelbar, und müsste man dich zeichnen, funktionierten die Gliedmaßen an deinem Körper plötzlich falsch herum: Die Augen sähen immer nur nach innen, die Füße bewegten sich im Kreis, die Hände griffen ins Leere. Die Panik lässt dich Kreise ziehen in Gedanken, während du gefühlt mit den Händen nach Luft schnappst. Dein Frühwarnsystem hat nicht funktioniert, obwohl der Schwellenwert überhandnahm, sich an der Grenze anstaute und man doch dabei zuschauen konnte, wie der Angriff seinen Lauf nahm.
Noch im Sommer zwischen zwei Coronajahren wart ihr in Berlin irgendwie zusammengekommen, hattet euch immerhin halb getroffen. Eigentlich wärt ihr alle zusammen in Iwano-Frankiwsk gewesen, aber die Pandemie ließ die Reise nicht zu, also erzeugtet ihr aus zwei über das Internet übertragenen Sicheln einen Kreis zwischen Berlin und dort und hörtet euch von fern zu. Es gelang nur halb, denn es kam zu einer technischen Verzögerung in der Übertragung, sodass ihr euch immer um etwa eine halbe Minute verfehltet. Die Bewegungen wurden beim Lesen zwar synchron übertragen, aber man hörte sich nicht, sondern war auf ihren Nachklang angewiesen. Der Moment der Aussage und ihr Sinn verzogen sich wie in einem Spiegelkabinett. Es war keine Verständigung möglich, und du wartetest auf die Sirenen, die zum Test für den Tag angesagt waren, damit wir wieder lernten, auf Unvorhersehbares zu reagieren. Du erwartetest es mit einer gewissen Ungeduld, denn ihr Ton war dir noch aus der Kindheit bekannt, jenes lang gezogene Heulen, das alles unterbrach und einen innehalten ließ und das, was in der Luft lag, zerriss. Aber nicht einmal die Sirenen sprangen an am Katastrophentag, der Moment, der einen hätte warnen sollen, verging unbemerkt auf dem Weg zum Holocaust-Denkmal. Und während du auf Zeichen gewartet hast, die dir etwas vorhersagen sollten, damit du dich orientieren konntest in diesem Sommer zwischen zwei Wellen, übersahst du die Drohkulisse, die sich Zeichen für Zeichen aufbaute. Der Krieg war da schon da, doch er drang nicht über die Schwelle. Dafür sammelte er sich an, und das musst du so sagen, denn du hast in den letzten Jahren vieles von dem Wissen angesammelt, das ihn erwartbar machte. Trotzdem kannst du nicht sagen, wie sich dieser Moment beschreiben lässt, der auf einmal die Welt verändert, obwohl nur eintritt, wovon man weiß, dass es geschehen kann. Als setzte ein mörderisch wildes Tier zum Sprung an und würde die Szenerie zugleich grell erhellt, außen über die Nachrichten und innen über das Wissen, das sich plötzlich bewahrheitete. In diesem Moment sprang die Gewissheit über die Schwelle und zerriss alles Vermeintliche. Das ist der erste Krieg, der dich trifft, und mit jeder Bombe erschüttert er dich, jede Bombe ist falsch, unsagbar falsch, wie soll das weitergehen, denkst du stoisch liegend im Bett, während du kaum atmen kannst. Das ist gefühlt dein erster Kriegsausbruch, alle anderen hast du ignoriert. Das ist der, der nun in dir regiert, der dein Erleben auflöst und dich dem Zeitgeist zuschlägt. Er begann nachts, als alle schliefen, und kam nach dem Aufwachen an.
Und was tut die Angst jetzt, wenn man als Zuschauer mit ihr zusammensitzt? Man fasst am Morgen danach zusammen, was in der Nacht geschah, sagen die Experten. Keine Erwartungsgewissheit, kein So-schlimm-wird's-schon-nicht-werden, keine neue Normalität, keine Rückkehr ins Vertraute, kein Es-kommen-auch-wieder-andere-Zeiten, keine Spekulation darauf. Nur ein Starren auf die Bilder und ein jähes Wissen um die Kriege, die noch kommen werden. Sezier lieber die Angst. Die einen haben eine Fluchttasche neben der Tür. Die sind noch nicht lange hier. Die anderen nicht. Das ist der Unterschied.
So geht das schon wochenlang, der Moment hält an wie der Ton der Sirene und zwingt mich, zu begreifen, was wie aus einem Film entsprungen wirkt. Das ist doch Vergangenheit, aus der wir uns längst gelöst haben, wie kann es sein, dass es uns jetzt so überholt erscheinen lässt. Ab jetzt werden wieder Museen gesprengt, Theater zerstört, Ortsnamen ersetzt, seilt der Feind sich über der Hauptstadt ab und ersetzt den Agentenfilm. Ab jetzt geschieht alles zeitgleich. Ab jetzt ist, wie es vorher war, vorbei.
Und wie die Bomben fallen. Sie fallen, wenn die Menschen im Kino sind. Wenn sie in den Supermarkt gehen. Oder bei der Büroarbeit. Sie kommen von oben und fallen, als sie sich zu verstecken beginnen in den Theatern, statt sich abzulenken mit Theaterstücken, und ihre Situation schon nicht mehr als Teil eines Films wahrnehmen. Sie schlagen in Menschenmengen auf Bahnhöfen. Sie streichen über die Köpfe der Kinder, zerfetzen sie oder trennen ihnen Gliedmaßen ab. Sie bringen die Menschen dazu, sich Kochtöpfe aufzusetzen und in Badewannen zu hocken, sie lassen Erwachsene in Supermarktkostümen die Waisen zu den Zügen begleiten, die sie aus der Stadt bringen sollen, sie lassen Frauen mit Kindern tagelang zu Fuß bis über Grenzen gehen. Sie sind noch nicht auf flüchtende Züge gefallen, sie sind noch nicht in andere Länder eingefallen. Ich kann das kaum schreiben. Sie zerstören alles, auch die Bücher, auch die, die noch nicht geschrieben sind. Woran knüpfen wir dann an?
Wie konntest du nur dabei zusehen, wie konntest du nur dabei zusehen, wie sich über Jahre hinweg eine Welle aufbaute, fast nur als Erinnerung an einen Sommer, an einen weiteren Augenblick auf der Autobahn, um die Kinder aus den Ferien zu holen oder sie zu bringen, als das Radio von einem Einfall in Georgien sprach und sich zwei neue Namen auf einmal als Republiken ausgaben. Das kurze Gefühl, das geht doch nicht, das aber schnell vorüberging und deine Aufmerksamkeit nicht weiter beanspruchte. Dann das völlig zerbombte Aleppo, der Basar, den es nicht mehr gibt, aber das war nicht dein Gebiet, und schließlich die Krim und der wilde Donbass, der dir mit seiner Armut, seinem Mangel an Ästhetik, seiner Menge an Bergwerken doch im Grunde gleichgültig war. Das abgeschossene niederländische Flugzeug mit all seinen Toten reichte auch nicht, um den Blick zu richten auf das, was kommt. Vielleicht noch deine Emphase angesichts der Ästhetik des Aufbegehrens in Belarus, so schön, so wahr und so echt, aber erst dann brach plötzlich etwas los, und nun sieh an, du erkennst dich auf einmal nicht wieder. Siehst die Lunte brennen, kannst sie rückverfolgen bis zur Explosion, Kultur und Explosion, liest du bei Juri Lotman über ein an Explosionen orientiertes Denken und die Überwindung der fatalen Entscheidung zwischen Stillstand und Katastrophe. Wenn die Vorwärtsbewegung – und die Alternative dazu ist nur die Katastrophe, deren Ausmaß schwer einzuschätzen ist – trotzdem die Grenze überwindet, auf der wir uns befinden, dann wird die entstandene Ordnung kaum eine einfache Kopie der westlichen Ordnung sein. [...] Die grundlegende Veränderung in den Beziehungen zwischen West- und Osteuropa, die sich vor unseren Augen vollzieht, bietet vielleicht die Möglichkeit, zu einem gesamteuropäischen ternären System überzugehen und abzugehen von dem Ideal, die alte Welt bis auf die Grundfesten zu zerstören, um danach auf ihren Ruinen eine neue zu bauen. Diese Möglichkeit zu versäumen, wäre eine historische Katastrophe.
Es gab diesen Moment, erinnerst du dich, als der Krieg in der Luft zu liegen begann und man öffentlich davor warnte, ihn herbeizureden, indem man über ihn sprach. Ruhig Blut, bis jetzt ist der Angriff nur vorhersehbar, stattgefunden hat er noch nicht. Und dann genügte eine Nacht, um zu zeigen, dass der Gang der Ereignisse nicht unberechenbar war und der Krieg nicht einfach ausbrach. Da brannte die Lunte längst.
Aber warte nur, mit der Zeit gewöhnst du dich daran, dann sind die Informationen nicht mehr so unmittelbar. Schon jetzt erkennt man Bilder wieder und kann sie einordnen.
Nach genug Zeit verwandelt sich noch jedes Entsetzen in Gleichgültigkeit. Sezier besser deine Angst. Die Menschen leiden auch so. Etwas, was sie gar nicht erleben, wird wahr. Das wirkt mitunter Wunder.
Die Angst sprang in die Badewanne. Schaumköpfe las deine Mutter dir immer als Kinderbuch vor, ein älteres Mädchen wäscht seinem jüngeren Bruder den Kopf, aber hier warst du es, die in der Badewanne saß und deine Mutter, während du Schaum beiseiteschobst, fragte, ob denn jemand eine Bombe auf uns werfen könne, und sie dich nur beruhigen konnte mit dem Satz, nein, das gehe nicht, denn jemand anderes passe mit seiner Bombe auf uns auf. Und wie die Angst nun wieder in der Badewanne in den Kindern steckt, vor dem Schlafengehen fragt dich deine Tochter, aber uns erreicht der Böse doch nicht, er soll nicht so vielen Menschen Böses tun. Und du antwortest deinem Kind, nein, uns geschieht hier nichts, und weißt, wie sehr du lügst.
Die Angst steckt also in den Stimmen der Mütter, sie hat sich verborgen unter Gutenachtgeschichten und hält sich hinter lächelnden Gesichtern versteckt, sie springt mit hoch, wenn Mütter ihre Kinder in die Luft werfen und ihnen immer, immer versichern, dass ihnen nie etwas geschehen wird, wenn sie plötzlich mit ihnen aufbrechen müssen und ihnen noch, während sie sagen, nimm deinen Rucksack und dein Kuscheltier mit, versprechen, dass es spannend, ein Abenteuer wird. Sie kennt sich aus mit den Lügen der Eltern und speist sich aus den Vorstellungen der Kinder, ein neues Spiel, was packst du in deinen Koffer, wenn der Koffer nur ein Rucksack ist und es keine Zeit für Überlegungen gibt. Nimm dein Kuscheltier, dein Haustier mit, und warme Kleidung. Was nimmst du denn mit, fragt dich dein Kind, und alle Nervenenden richten sich auf, dieses Gefühl ist vertraut, schon wieder. Es schleudert einen in den Moment zurück, da man handeln muss, mit schneller Hand die Dinge ordnen, greifen, packen für den Moment, da einem alles aus der Hand fallen wird. Jetzt weißt du es, weil deine Tochter fragt, du weißt also, dass man für andere bereits in sich beginnt, sie zu verwandeln in etwas, das man erzählen kann.
Die Angst ging um in deinem Heimatkundebuch von früher, dort gab es Bilder von ausgelöschten Dörfern und den toten Dorfbewohnern daneben, du hast dir das immer wieder angeschaut und dir das Foto gemerkt, tote Menschen angeordnet auf einem Feld neben ihrem abgebrannten Dorf, ein Begleitumstand in Schwarz-Weiß. Die Angst ordnete das ein und der Bildung und Erziehung unter.
Die Angst nahm dich huckepack in Gestalt des Soldaten, der ein Kind im Krieg gerettet hatte, lieber das Kind als er, und dieses Kind hättest du gewesen sein können, erzählte man dir, erzählte man sich untereinander wieder, so ging die Geschichte reihum und war jedem bekannt, so stand es an dem Denkmal, ein verewigter Soldat mit einem Kind auf dem Arm. Die Angst sehnte sich als Kind danach, einmal einem echten sowjetischen Soldaten zu begegnen, weil jeder von ihnen der war, der dich womöglich hochgehoben hätte. Das machte, dass du den einzigen sowjetischen Soldaten, den du jemals am Bahnhof stehen sahst, von vornherein umarmen wolltest.
Sie verhielt sich launig in der Erzählstunde am Pioniernachmittag, in Geschichten über eingesperrte Helden, lauter Gefängnisgeschichten, in denen Töchter ihre Väter bis zur Hinrichtung besuchen durften und ihnen in der Umarmung Nachrichten von draußen zuschoben. Das machte, dass man sich diese Töchter als Vorbild nahm.
Die Angst wurde dir seitenlang spannend erzählt in Büchern, die in Reihe erschienen und von denen du etliche gelesen hast: Gefangene der Pantherschlucht, Magellans Reise um die Welt, Das Grab der Legionen, Unter Korsaren verschollen, Die vier Pfeile der Cheyenne, Späher der Witbooi-Krieger, Die Verbannten von Neukaledonien, Strom ohne Brücke, Oberhäuptling der Herero, Fieber am Amazonas, Temudschin, Herniu und mit ihm Armin, der Cherusker, und wie er die Legionen des Varus im Teutoburger Wald aufrieb. Und weiter, Hundertfünfzig Escudos, wie man Amerikaner mit Armut rührt, Die Söhne der großen Bärin, wie man sich verhält, wenn man ausgestoßen und verfolgt wird, Vierbeinige Freunde, wie man Zootieren im Krieg hilft, Silberhuf zieht in den Krieg, wie man dem Vietcong hilft, Ede und Unku, wie man seiner Freundin hilft. Neben den Entdeckungen unbekannter Reiserouten gern die Grausamkeiten während der Eroberung anderer Völker und deren Kampf dagegen. Dafür nie Karl May, weil der gelogen hat, stattdessen ein Vortrag über dein Lieblingsbuch in der dritten Klasse Vom Freiheitskampf des Roten Mannes, in dem stand, wer wen in Nord- und Südamerika abgeschlachtet, gevierteilt, verbrannt hat.
Die Angst war fester Bestand des Lexikons, mit dem man dir ab Schuleintritt die Welt erklärte. Von Anton bis Zylinder, das Lexikon für Kinder war schön illustriert und kindgerecht. Erst später, als du es dir wieder vornahmst, um zu erfahren, was sonst noch drinstand, stellte sie sich dar, die Bilder der Jahreszeiten täuschten nicht über die militärischen Orden, Rangabzeichen, Organisationen und nationalen Feiertage hinweg.
Das Amphibienfahrzeug
Der Atomeisbrecher
Die Brennstoffe
Das Erdgas
Das Ferienlager
Der Frieden
Das Gaswerk
Das Gedicht
Die Gezeiten
Die Großplattenbauweise
Der Ingenieur
Die Insekten
Die Jahreszeiten
Die Kampfgruppen
Die Kantate
Die Koexistenz
Der Kompaß
Das Kraftwerk
Das Licht
Die Märchen
Die Maschinen
Die Nationalhymne
Der Nebel
Die Oase
Die Oktoberrevolution
Die Pferde
Die Pflanzen
Die Pipeline
Das Radargerät
Die Rakete
Die Schlacke
Das Schmelzen
Die Schmetterlinge
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Der Schnee
Die Seuchen
Die Solidarität
Staatliche Auszeichnungen
Der Stahl
Die Steppe
Tag der Befreiung
Tag der Republik
Tagebau
Das Turnen
Das U-Boot
Das Uran
Die Volkspolizei
Das Wasser
Die Wiese
Die Zeit
Kerstin Preiwuß: Heute ist mitten in der Nacht. Berlin Verlag, ISBN 978-3-8270-1465-8, erscheint am 6. Januar 2023.