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15.12.2022, 08:00 Uhr
Peter Winkler
Text & Debatte
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Prof. Dr. Peter Winkler, Foto: 2016 (c) privat

Il ritorno della memoria, oder: Die Reise zu W. G. Sebalds Grab (3)

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Ordensburg von Sonthofen vor alpinem Hintergrund (Bildmontage)

Die 148. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunkt Freundschaft. Im folgenden Beitrag beschäftigt sich der ehemalige Ärztliche Direktor des Radiologischen Instituts im Olgahospital Stuttgart Prof. Dr. Peter Winkler mit dem in Wertach geborenen und in Norwich (UK) bei einem Autounfall verunglückten Schriftsteller und Literaturwissenschaftler W. G. Sebald (1944-2001). Gestern, am 14. Dezember, jährte sich dessen Todestag zum 21. Mal. Das Literaturportal Bayern präsentiert Winklers Erzählung in einer Langfassung in drei Folgen

 

III.

 

An Sebalds Grab

In Cambridge berichtete Magnus seinem Freund von der Zugreise und dem Bedürfnis, sich mit Gebirgsenzian zu erlösen, obwohl er wisse, dass eine einfache Erlösung von allem Übel ganz und gar unmöglich sei. Trotzdem beschlossen sie, nun gemeinsam auf die bevorstehende Pilgerfahrt anzustoßen. Magnus fasste in seinen Rucksack. Wäsche feucht. Geruch nach Schnaps. Der Edel-Gebirgs-Enzian war, wie Magnus feststellte, durch einen Haarriss ausgelaufen. Was war die Ursache dieses Malheurs? Manfred äußerte mit schelmischem Gesichtsausdruck die Vermutung, dass sich im Rahmen der AfD-Gespräche eine bestehende Materialschwäche des Tongefäßes durch erzwungene resonante Eigenschwingung in einen Sprung verwandelt habe.

Magnus, der gerade aus dem Fenster auf den Hof schaute, warf ein, dass solche Resonanzkatastrophen, die ja Brücken zum Einsturz bringen könnten, auch für Glas oder ein Tongefäß denkbar seien. Experimente hätten aber gezeigt, dass die Intensität der menschlichen Stimme dafür nicht ausreiche. Deshalb sei die glaszersingende Resonanz bei Oskar Matzerath als ein rein literarisches und nicht als ein mit der menschlichen Stimme reproduzierbares physikalisches Experiment zu betrachten. Außerdem sei ihm Oskar, um die Frage von Manfred gleich vorwegzunehmenden, weder im IC Allgäu noch im TGV begegnet.

Am nächsten Tag fuhren Manfred und Magnus bei grauem Himmel und Nieselregen um 9.09 Uhr vom Bahnhof Cambridge in Richtung Norwich. Halt in Ely. Hier waren am 16. Oktober 1555 während einer kurzen katholischen Periode der Polizist William Wolsey und der Maler Robert Pygot vor der Kathedrale wegen Ketzerei verbrannt worden, weil sie als Protestanten leugneten, dass Brot in den Körper Christi und Wein in das Blut Christi verwandelt werden könnten.

Manfred sagte: „Bei solchen Vorstellungen denke ich unwillkürlich an die zutiefst menschlichen Szenen in dem Film Das Gespenst von Herbert Achternbusch, der sich wie Sebald für das Skurrile des menschlichen Charakters in seiner Auseinandersetzung mit dem Leben und seinen grundlegenden Fragen interessiert hat.“ Magnus schaute vor sich hin und sprach wie in Gedanken: „Es ist für uns ganz unmöglich, die Urmaterie oder den Urgrund zu erklären oder herzuleiten. Ich verstehe, dass diese Unmöglichkeit bei uns Gott genannt wird. Ich begreife jedoch nicht, wie eine so bezeichnete Unmöglichkeit noch heute Kriege und Brutalitäten hervorrufen und rechtfertigen kann.“

„Da fällt mir auch nichts ein“, sagte Manfred, „abgesehen von einem schwarzen Loch, das auch noch die klarsten Gedanken, die sich ihm nähern, an sich reißen und hinterm Ereignishorizont – zumindest klassisch – für immer verschwinden lassen würde.“ Magnus starrte weiter einen fernen unsichtbaren Punkt an und fragte: „Ist nicht die Odyssee mit der Szene, in der mit göttlicher Hilfe sämtliche Freier abgeschlachtet werden, eine der Grundlagen unserer westlichen Kultur?“ Manfred erwiderte: „Sicher ist Pallas Athene inzwischen bei einer der großen Rüstungskonzerne aktiv. Es hat mir sehr zu denken gegeben, dass, wie ich aus den Nachrichten erfahren habe, genau ein Mitglied des Bereichsvorstands Defence der Rheinmetall AG eine Frau ist.“

Draußen flogen fast ununterbrochen Hecken und kleine Laubbäume in Waggonhöhe vorbei, die nur ab und zu die Sicht auf flache und gewellte Äcker zuließen, die ihrerseits von Hecken oder Baumreihen begrenzt waren und einen angenehmen Kontrast zu flurbereinigten kahlen Acker- und Lebenswüsten bildeten. Es hatte angefangen zu regnen. Manfred war ganz versunken in der Betrachtung der an der Fensterscheibe herablaufenden Tropfen und deren spielerischen Bahnen. Eine leise Melancholie breitete sich in ihm aus. Als er gerade anfing, sich an einige Absurditäten seines Lebens zu erinnern, wurde er von einer lauten Stimme unterbrochen: „We will shortly be arriving at Thetford. Please remember to collect all your personal belongings when leaving the train.“

Die Bahnstation machte mit ihren grazilen Eisenpfeilern, zahlreichen bordürenartigen Metallverzierungen und einer wohltuenden Ziegelwand einen harmonisch-unauffälligen Eindruck. Sie war 1845 im Neorenaissance-Stil erbaut und später erweitert und bis heute erhalten worden. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Strommasten, flache grüne Wiesen, Hecken- und Baumstreifen flogen die Strecke entlang bis Norwich vorbei.

Hier nahmen die Freunde den Bus bis zum Kreisel in Poringland und gingen bei wolkenverhangenem Himmel, aber im Trockenen das letzte zugewachsene Stück an den beiden markanten Wassertürmen vorbei und die Long Lane hinunter nach Framingham Earl und den St. Andrew Churchyard, wo Sebalds Grabstein in seiner glatt-eleganten, durchaus zeitgemäßen Monotonie stand. Diese wurde durch einige Kiesel aufgelockert, die auf dem Stein lagen. Magnus zog die leere Enzianflasche aus seinem Rucksack und sah Manfred an, der fast unmerklich nickte. Schon stand die heimatliche Flasche auf dem Grab. Die Freunde setzten sich schweigend auf eine verwitterte Holzbank mit Blick auf den Grabstein.

Nach einigen Minuten zog Manfred, der ebenfalls einen kleinen Rucksack mitgenommen hatte, Schwindel. Gefühle. heraus und zitierte: „Im Fernseher zitterte leise das Testbild. Einzig die Maschinen haben begriffen, daß man nicht mehr schlafen darf, dachte ich mir, als ich hinaufstieg zu meinem Zimmer, wo auch mich die Müdigkeit bald übermannte“. In das Buch hatte Manfred noch den ersten Teil von Sebalds „Walzertraum“ als Randnotiz eingefügt:

An der Grenzstation 
angelangt ist jetzt 
endlich der Reisende

Ein Zöllner hat ihm 
die Schuhbänder gelöst 
die Schuhe ausgezogen

Auf den gehobelten Brettern 
des Bodens herrenlos 
steht das Gepäck

Das schweinslederne Köfferchen 
ist aufgegangen, die arme 
Seele entflogen

Manfred fragte, ob das nicht eine schöne und tröstliche Grabsteininschrift wäre – auch mit der nur zu denkenden und erst im nachfolgenden zweiten Teil des Gedichts enthaltenen malerisch-lyrischen Brücke zu den Ringen des Saturn. Noch mehr Wolken und ein paar Regentropfen als Vorboten eines stärkeren Regens veranlassten die Freunde, sich von diesem schönen und melancholischen Ort zu trennen und die Rückreise anzutreten.

Das Stillleben

Magnus war am Ende seiner Erzählung angekommen. Ich fühlte mich unglaublich leicht. Der ganze Ballast der Angst und Verwirrung war von mir abgefallen und ich erinnerte mich mit einem Mal an einen Artikel, den ich in der FAZ über das Grab von W. G. Sebald gelesen hatte. Magnus suchte und fand den Artikel „Magisch zieht des Dichters Grab Gedenkartikel an“ auf den Online-Feuilletonseiten der FAZ. Patrick Bahners hatte, aktualisiert am 26.9.2008, aus Norwich geschrieben: „Am Grabstein lehnt eine kleine braune Flasche. Gordon Turner nimmt sie in die Hand und entziffert das Etikett: „Gebirgsenzian“ aus dem Alpenland, der Heimat von W. G. Sebald.“

Turner und Sebald waren jahrzehntelang Kollegen in der Germanistik an der University of East Anglia in Norwich. Ihre Vorstellungsgespräche fielen 1970 auf denselben Tag. Turner kümmert sich heute um das Sebald-Tonarchiv und steht Sebald-Forschern für biographische Auskünfte zur Verfügung. Wie er deutlich macht, sieht er seine Aufgabe darin, irreführende Tatsachenbehauptungen zu korrigieren. Er will nicht die boomende Sebald-Deutungsindustrie füttern, obwohl er deren jüngste Leistungsschau mitorganisiert hat, eine dreitägige Konferenz an Sebalds akademischer Wirkungsstätte. Vom Flaschenfund ist Turner sichtlich irritiert. Aber er überwindet seine Verwunderung und rügt es nicht als Geschmacklosigkeit, dass jemand Abfall auf der Grabstätte deponiert hat.

Ein anderer Kollege, der Romanist Clive Scott, deutet im Abschlussvortrag Sebalds Werk vom Stillleben her. Das Stillleben vernichte das Menschliche, setze es aber voraus. Die einmontierten Fotografien seien Stillleben, die sich die Macht von Porträts angeeignet hätten. Sie zeigten die Verschlossenheit der Dinge, seien selbst wie jene verschlossenen Türen, die an prägnanten Stellen auf ihnen zu sehen sind – in Austerlitz beim Besuch in Theresienstadt. An diese verschlossenen Türen kann der Grabstein aus dem von Sebald selbst für diesen Zweck bestimmten Schiefer aus Cornwall erinnern.

Aber ist es schicklich, dass ein Pilger das Grab durch Beifügung eines mitgebrachten Requisits zum Stillleben arrangiert? Es ist wohl der Respekt vor der Bedeutung des objet trouvé für Sebalds Arbeit und vor Sebalds Neugier auf das Kuriose, das rührend und manchmal auch jämmerlich Disparate menschlicher Gedenkanstrengungen, der Turner davon absehen lässt, die unerbetene Grabbeigabe zu entfernen. Diskret, mit trockenstem Humor, macht Turner auf die Inkongruenz der Collage des Anonymus aufmerksam: „Sebald hat in den letzten zehn Jahren seines Lebens keinen Alkohol mehr getrunken.“

Magnus sah mich aufmerksam an und rief mir zu, als sympathisiere er mit meiner aufkeimenden Erinnerung: „Dazu habe ich doch erst neulich was in den Ausgewanderten gelesen!“ Er nahm das Buch zur Hand, blätterte und las und blätterte erneut. Ich machte nach einiger Zeit die Augen zu und fing an, schwerelos durch das Niemandsland zwischen Wachen und Schlaf zu wandern, als ich durch ein kratzendes Rücken des Stuhles, auf dem Magnus saß, in den wachen Zustand zurückgeholt wurde. Er las: „Am zweiten Tag meines Aufenthaltes in Cedar Glen West ging ich nach dem Morgenkaffee zum Onkel Kasimir hinüber. Es war gegen halb elf Uhr, als ich mich mit ihm an den Küchentisch setzte. Die Lina wirtschaftete bereits am Herd herum. Der Onkel hatte zwei Gläser herausgeholt und schenkte den Enzian ein, den ich mitgebracht hatte.“

Epilog: sub specie aeternitatis

Ich sehe vor mir, wie W. G. Sebald und sein ehemaliger Kunstlehrer, der inzwischen verstorbene Maler Franz Meier, einige gut gefüllte Kartons durchstöbern, die unter vielem anderen auch Unterlagen über die Ordensburg von S. enthalten. Ich höre sie über Texte, Bilder, Alltägliches sprechen, aber auch über schwer Fassbares wie die an Zauberei grenzenden Wirkungen des Föhnwinds, entgleitende Erinnerungen oder das „Gruuschdln“. Dabei schweben ihre Gedanken wie Vögel im Flug, lassen sich auf einer Blätterwiese nieder, um einige Worte aufzupicken, nehmen hier einen Satz und dort ein Bild als Baumaterial zur späteren Verwendung auf und fliegen dann hoch in die Luft, um alles aus der Perspektive des ungebundenen Fluges und von weit oben zu betrachten.


Ende.