Info
21.11.2022, 22:29 Uhr
Sophia Klink
Text & Debatte

Bayerisch-tschechisches Netzwerktreffen 2022: „Niemandsland“. Von Sophia Klink

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/instblog/2022/klein/CZ_Treffen_LASuRo3_500.jpg
V.l.n.r.: Sophia Klink, Markéta Pilátová, Julia Miesenböck, Ulrike Anna Bleier © Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg

Unter dem Motto „Grenzen, Nachbarschaften, neue Stimmen“ setzte sich im Juni 2022 der Austausch zwischen tschechischen und bayerischen Autorinnen und Autoren fort, der 2011 auf gemeinsame Initiative des Literaturhauses Oberpfalz und des Prager Literaturhauses begann und sich Themen wie „Heimat“ und „Gewalt und Gedächtnis“ widmete. Das Treffen fand erstmals als Kooperationsveranstaltung des Adalbert Stifter Vereins (München), des Ceské Literarní Centrum (CLC) / Tschechischen Literaturzentrums (Prag) und des Literaturhauses Oberpfalz statt. In Sulzbach-Rosenberg trafen sich Ulrike Anna Bleier, Dora Kaprálová, Sophia Klink, Markus Ostermair, Markéta Pilátová, Jan Štifter und Jonáš Zbořil, unterstützt von den Übersetzerinnen und Dolmetscherinnen Julia Miesenböck und Lenka Hošová.

Im Zentrum des dreitägigen Treffens standen Gespräche über aktuelle Schreibprojekte und Veröffentlichungen. Sophia Klink, Biologin, Lyrikerin und Stifter-Stipendiatin 2022, und Jonáš Zbořil, Lyriker und Journalist, trafen sich in ihrem Anliegen, über die Verbindung von Mensch und Natur zu schreiben, mit kritischem Blick für die zerstörerischen Auswirkungen des Anthropozän. Wir veröffentlichen im Folgenden den Kurzessay von Sophia Klink.

*

Niemandsland

Dort hinten verläuft die Grenze. Sie ist waagrecht in die Luft geritzt. Eine Wunde, die nicht blutet, aber doch nur langsam verheilt. Die Störche machen hier halt, erschauern kurz in der Luft und fliegen dann über die Wunde hinweg. Sogar die Katzen bleiben stehen auf ihrem Weg, schauen sich um und setzen die Pfoten in gerader Linie voreinander, als müssten sie einen schmalen Grat passieren.

Ihre Mutter und Großmutter erzählten ihr viel von diesem Ort. Die Katzenmutter erzählte ihren Kindern von diesem Ort, an dem es besonders viele Mäuse gab, aber man sich in Acht nehmen musste. Wovor sagten sie nicht. Vielleicht erinnerten sich die Katzen, wie die Rehe sich erinnerten. Die Rehe sparten die Grenze aus, als würde hier noch immer Stacheldraht stehen, als würden Bluthunde die Wege entlangpatrouillieren, Männer mit scharfen Gewehren. In ihren Ohren knallen noch immer die Schüsse. Für ein Reh ist ein Warnschuss wie ein echter Schuss, nur stirbt es nicht.

Viele Menschen starben hier. Viele Tiere starben hier. Man sah es an den Schneckenhäusern, den Steinen, dem Gras, das hier länger und struppiger wuchs, weil sich niemand darum kümmerte. Sie glaubte, die Angst in den Gräsern zu spüren, die Achtsamkeit der Bäume. Das Holz gehörte den Würmern und das Gras den Schnecken. An der Grenze war immer Abend. An der Grenze regnete es nie. Nur die Wunde nässte noch immer.

Als Kind kam sie oft hierher, mit ihrer Mutter und Großmutter, um Geschichten zu erzählen und nach dem Wundrand zu sehen. Sie gingen zu dritt den Weg entlang, die Mutter voraus, die Großmutter meistens ein Stück hinterher, während sie als Kind immer ein Stück in die Wiesen lief. Ihre Mutter setzte die Füße in einer geraden Linie voreinander, als läge etwas Scharfes auf dem Weg. Ihre Großmutter machte kleine Schritte und ballte die Fäuste dabei, aber sie schaute so wachsam wie die Katzen. Sie hatten eine Botanisiertrommel dabei, weil ihre Mutter die Grenze genau studieren wollte, die Grenztiere und Zwischenpflanzen. Sie zählten die Schnecken auf dem Weg, die sie aussparten und auch jene, die sie aus Versehen zertraten. Es war unmöglich, keine Schnecken zu zertreten.

Sie gingen nur spazieren. Aber sie wusste, dass es am Ende darum ging, den Spalt in der Luft zu finden, aus dem die Tiere kamen, aus dem sich das Niemandsland in beide Richtungen ergoss. Wie sonst sollte man es sich erklären, dass die Schnecken sich so sehr vermehrten, dass man es kaum vermeiden konnte, auf sie zu treten. Sogar die Eidechsen hatten neue Arten gebildet, weil sie seit vielen Generationen in ihrem eigenen Land gelebt hatten, weil die Populationen sich nicht über die Länder hinweg vermischt hatten. Ihre Mutter sprach von Ökosystemen, Flaschenhalseffekt, viele Begriffe, die sie als Kind nicht richtig verstand. Aber sie verstand, dass es eine innere Grenze geben musste.

Der Spalt würde auf Augenhöhe sein, vielleicht auch auf Kniehöhe, wie eine kaum sichtbare Falte in der Luft. Aus dieser Falte würden ihr Schnecken entgegenkriechen und Rehe springen, die verstört auf ihren Hufen landen würden. Bisher hatte sie diese Grenze nur übertreten, ohne es zu merken, war vom einen Land in das andere geschlüpft. Dabei war sie sich sicher, dass es diese Falte geben musste, dass sie mit der Ferse im einen und mit den Zehen im anderen Land stehen konnte. Obwohl es eine scharfe Grenze nicht mehr gab, wie ihre Mutter sagte, musste es diese Falte ja trotzdem geben. Sie musste irgendwo verlaufen. Im Zickzack zwischen den Schneckenhäusern hindurch.

Jede Nacht zogen die Schnecken auf dem Grenzweg hin und her, als wollte sie Wundränder vernähen. Manchmal nahmen ihre Mutter, die Großmutter und sie eine Schnecke an ihrem Haus und trugen sie ein Stück mit, bis sie glaubten, ganz sicher im anderen Land zu sein. Dann setzten sie die Schnecke ab und nahmen eine andere mit zurück. Über die Jahre vermischten sie die Populationen, trugen Eidechsen und Insekten weite Strecken mit, trugen sie hin und her. Eine Naht aus Kreuzstichen, die unsichtbar und quer zur unsichtbaren Grenze durch die Luft verlief.

Verwandte Inhalte