Corona und was DER KUNDE mit dem KZ Dachau zu tun hatte
Heinrich Peuckmann wurde 1949 in Kamen geboren, wo er heute noch lebt. Er wuchs in einer Bergmannsfamilie auf, machte sein Abitur in Unna und studierte anschließend Germanistik, ev. Theologie und Geschichte an der Ruhr-Universität in Bochum. Seine literarische Arbeit ist vielfältig: Neben Romanen, Erzählungen und Lyrik schreibt er Hörspiele, Essays, Theaterstücke, Glossen, pädagogische Artikel und kleinere Arbeiten für das Fernsehen. Dieses Jahr ist seine Novelle Der Schimmer in der Schwärze erschienen. Das Buch spielt während der Corona-Pandemie und handelt von Volker, der bei seinen nächtlichen Spaziergängen die Welt von einer anderen Seite kennenlernt. Eine Rezension von Wolfsmehl.
*
Von Heinrich Peuckmann, dem Bergmannssohn aus Kamen und langjährigen Generalsekretär des PEN-Zentrum Deutschland, erschien im August die Novelle Der Schimmer in der Schwärze.
Ein Schatten liegt über dem Land. Erinnerungslose Tage, abgespeichert im Vergessen. Corona dringt in das Leben der Menschen, in die kleinsten Ritzen und Gewohnheiten, treibt sie alleine aus dem Haus in die Nacht, so auch Volker.
Auf seinen Wanderungen will er die Stille hören, die Orte seiner Kindheit sehen, die sich in der Finsternis unter verschiedenen Arten von Schwärze verwandeln, mit einem Schimmer, als ob sich die Sonne schon mal vortastet, ein Schimmer, den Volker vor Corona nicht kannte. Aber vor allem will er etwas Lebendiges treffen, das ihm zeigt: nein, du bist nicht alleine auf der Welt. Und tatsächlich: ein Lumpenbündel, Strandgut der Stadt, ohne Arme, Beine und Kopf, sagt:
Jetzt sind alle so einsam wie ich.
Und da sind auch noch Jugendliche mit ihren Tieren, die nicht eingesperrt sein wollen in ihren dunklen Zimmern. Bei ihnen sitzt Volker um eine Kiste Bier herum und hört zu. Alles ist besser als durch die Nacht nachhause zu laufen und allein zu sein.
Ein Junge kennt ihn aus der Konfirmantengruppe. „Macht doch mal einen Gottesdienst für Tiere“, schlägt der vor, „die haben auch eine Seele, dann gehe ich in deine Kirche, die war schon vor Corona leer.“
Volker nickt. Er spricht mit dem Pfarrer, verschickt Nachrichten. Und wirklich: am Sonntag steht ein kleiner Altar auf dem Grünstreifen vor der Kirche. Niemand lässt sich blicken. Corona tobt in der Stadt. Plötzlich aber kommen Jugendliche und Erwachsene von allen Seiten mit ihren Hunden und Katzen. Sogar ein Mann mit einem Pony, auf dem ein kleiner Junge reitet. Selbst die Tiere schauen überrascht zu dem Pferd hinauf, das auch Platz finden muss in der Welt.
Trotz dieses kleinen Sieges über die Seuche nagt die Einsamkeit an Volker. Die Dunkelheit treibt ihn in die Nacht. Überraschend hat er eine Kiste erhalten; deren dünne, verstaubte Hefte bestimmen ebenso den Rhythmus seines Laufens wie die Zeitschrift DER KUNDE und Reiseberichte auf handgeschriebenem Papier, alles beschriftet und bedruckt mit den Erlebnissen und Gedanken seines Großvaters.
Der Großvater ist nämlich, was Volker zuvor nicht wusste, als Trippelbruder bis zum Balkan gelaufen. Und DER KUNDE war die erste Zeit- und Streitschrift der Vagabunden, vielleicht ähnlich der Zeitschrift BISS, die heutzutage vor allem in den Großstädten von Bürgern in sozialen Schwierigkeiten herausgegeben und verkauft wird.
Volker stellt fest, dass DER KUNDE für seine Leser vor allem eines bedeutete: Freiheit, weg von den Kleingeistern, der spießigen, bürgerlichen Gesellschaft, die immer nur den eigenen Vorteil im Herzen trägt, hin zu einem selbstbestimmten Leben. Über DER KUNDE hieß es mit Hochachtung Anfang der dreißiger Jahre:
Eine der originellsten Zeitschriften, die je erschienen sind. Eine Zeitschrift von seltsam geistigem Format! Von Kunden (Vagabunden) geschrieben und herausgegeben, ganz im Sinne jener großen Wanderer und vagabundierenden Dichter: Villon, Rimbaud, Jack Kerouac, Peter Hille, Jack London, Walt Whitman.
Freiheit? Ein selbstbestimmtes Leben? Das passte den Nationalsozialisten natürlich überhaupt nicht in deren menschenverachtende Ideologie. Sie bezeichneten die Trippelbrüder als ‚Volksschädlinge‘, die in einem ‚gesunden Volkskörper‘ ausgemerzt gehören. Schon kurz nach der Machtergreifung führten sie eine Bettlerrazzia durch. Viele der Trippelbrüder landeten im KZ Dachau und wurden als Übungsobjekte für Foltermethoden bestialisch gequält.
Nicht nur wegen der Verfolgung der Trippelbrüder im Nationalsozialismus überwältigt Volker ein Gefühl der Hochachtung für seinen Großvater, sondern auch, weil er in einem von dessen Reiseberichten las, dass dieser auf seiner Wanderschaft einmal vor der Tür einer verhungernden Familie stand, nach der der Tod bereits seine Hände ausstreckte. Die Eltern wollten Großvater in ihrer Not die eigene Tochter verkaufen, um die Geschwister des Mädchens und sich selbst zu retten. In dieser Situation, in der er selbst einen Riesenhunger hatte, griff Großvater in seine Hosentasche und holte die Geldbörse raus, um die Hälfte des wenigen Geldes, das er besaß, zu teilen. Es gehörte damals zu einem selbstbestimmten Leben dazu: niemanden im Stich zu lassen.
Kurze, geheimnisvolle Sätze, die in der Schwärze von Corona zu schimmern beginnen, die treffen und stechen, das kennzeichnet die Atmosphäre und den Stil von Heinrich Peuckmann, dem mit seiner Novelle ein großer Wurf gelang.
Prädikat: wertvoll
Heinrich Peuckmann: Der Schimmer in der Schwärze. Novelle. Kulturmaschinen Verlag, Freiburg 2022, kart., 106 S., € 12,00, ISBN 978-3967632293
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Heinrich Peuckmann wurde 1949 in Kamen geboren, wo er heute noch lebt. Er wuchs in einer Bergmannsfamilie auf, machte sein Abitur in Unna und studierte anschließend Germanistik, ev. Theologie und Geschichte an der Ruhr-Universität in Bochum. Seine literarische Arbeit ist vielfältig: Neben Romanen, Erzählungen und Lyrik schreibt er Hörspiele, Essays, Theaterstücke, Glossen, pädagogische Artikel und kleinere Arbeiten für das Fernsehen. Dieses Jahr ist seine Novelle Der Schimmer in der Schwärze erschienen. Das Buch spielt während der Corona-Pandemie und handelt von Volker, der bei seinen nächtlichen Spaziergängen die Welt von einer anderen Seite kennenlernt. Eine Rezension von Wolfsmehl.
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Von Heinrich Peuckmann, dem Bergmannssohn aus Kamen und langjährigen Generalsekretär des PEN-Zentrum Deutschland, erschien im August die Novelle Der Schimmer in der Schwärze.
Ein Schatten liegt über dem Land. Erinnerungslose Tage, abgespeichert im Vergessen. Corona dringt in das Leben der Menschen, in die kleinsten Ritzen und Gewohnheiten, treibt sie alleine aus dem Haus in die Nacht, so auch Volker.
Auf seinen Wanderungen will er die Stille hören, die Orte seiner Kindheit sehen, die sich in der Finsternis unter verschiedenen Arten von Schwärze verwandeln, mit einem Schimmer, als ob sich die Sonne schon mal vortastet, ein Schimmer, den Volker vor Corona nicht kannte. Aber vor allem will er etwas Lebendiges treffen, das ihm zeigt: nein, du bist nicht alleine auf der Welt. Und tatsächlich: ein Lumpenbündel, Strandgut der Stadt, ohne Arme, Beine und Kopf, sagt:
Jetzt sind alle so einsam wie ich.
Und da sind auch noch Jugendliche mit ihren Tieren, die nicht eingesperrt sein wollen in ihren dunklen Zimmern. Bei ihnen sitzt Volker um eine Kiste Bier herum und hört zu. Alles ist besser als durch die Nacht nachhause zu laufen und allein zu sein.
Ein Junge kennt ihn aus der Konfirmantengruppe. „Macht doch mal einen Gottesdienst für Tiere“, schlägt der vor, „die haben auch eine Seele, dann gehe ich in deine Kirche, die war schon vor Corona leer.“
Volker nickt. Er spricht mit dem Pfarrer, verschickt Nachrichten. Und wirklich: am Sonntag steht ein kleiner Altar auf dem Grünstreifen vor der Kirche. Niemand lässt sich blicken. Corona tobt in der Stadt. Plötzlich aber kommen Jugendliche und Erwachsene von allen Seiten mit ihren Hunden und Katzen. Sogar ein Mann mit einem Pony, auf dem ein kleiner Junge reitet. Selbst die Tiere schauen überrascht zu dem Pferd hinauf, das auch Platz finden muss in der Welt.
Trotz dieses kleinen Sieges über die Seuche nagt die Einsamkeit an Volker. Die Dunkelheit treibt ihn in die Nacht. Überraschend hat er eine Kiste erhalten; deren dünne, verstaubte Hefte bestimmen ebenso den Rhythmus seines Laufens wie die Zeitschrift DER KUNDE und Reiseberichte auf handgeschriebenem Papier, alles beschriftet und bedruckt mit den Erlebnissen und Gedanken seines Großvaters.
Der Großvater ist nämlich, was Volker zuvor nicht wusste, als Trippelbruder bis zum Balkan gelaufen. Und DER KUNDE war die erste Zeit- und Streitschrift der Vagabunden, vielleicht ähnlich der Zeitschrift BISS, die heutzutage vor allem in den Großstädten von Bürgern in sozialen Schwierigkeiten herausgegeben und verkauft wird.
Volker stellt fest, dass DER KUNDE für seine Leser vor allem eines bedeutete: Freiheit, weg von den Kleingeistern, der spießigen, bürgerlichen Gesellschaft, die immer nur den eigenen Vorteil im Herzen trägt, hin zu einem selbstbestimmten Leben. Über DER KUNDE hieß es mit Hochachtung Anfang der dreißiger Jahre:
Eine der originellsten Zeitschriften, die je erschienen sind. Eine Zeitschrift von seltsam geistigem Format! Von Kunden (Vagabunden) geschrieben und herausgegeben, ganz im Sinne jener großen Wanderer und vagabundierenden Dichter: Villon, Rimbaud, Jack Kerouac, Peter Hille, Jack London, Walt Whitman.
Freiheit? Ein selbstbestimmtes Leben? Das passte den Nationalsozialisten natürlich überhaupt nicht in deren menschenverachtende Ideologie. Sie bezeichneten die Trippelbrüder als ‚Volksschädlinge‘, die in einem ‚gesunden Volkskörper‘ ausgemerzt gehören. Schon kurz nach der Machtergreifung führten sie eine Bettlerrazzia durch. Viele der Trippelbrüder landeten im KZ Dachau und wurden als Übungsobjekte für Foltermethoden bestialisch gequält.
Nicht nur wegen der Verfolgung der Trippelbrüder im Nationalsozialismus überwältigt Volker ein Gefühl der Hochachtung für seinen Großvater, sondern auch, weil er in einem von dessen Reiseberichten las, dass dieser auf seiner Wanderschaft einmal vor der Tür einer verhungernden Familie stand, nach der der Tod bereits seine Hände ausstreckte. Die Eltern wollten Großvater in ihrer Not die eigene Tochter verkaufen, um die Geschwister des Mädchens und sich selbst zu retten. In dieser Situation, in der er selbst einen Riesenhunger hatte, griff Großvater in seine Hosentasche und holte die Geldbörse raus, um die Hälfte des wenigen Geldes, das er besaß, zu teilen. Es gehörte damals zu einem selbstbestimmten Leben dazu: niemanden im Stich zu lassen.
Kurze, geheimnisvolle Sätze, die in der Schwärze von Corona zu schimmern beginnen, die treffen und stechen, das kennzeichnet die Atmosphäre und den Stil von Heinrich Peuckmann, dem mit seiner Novelle ein großer Wurf gelang.
Prädikat: wertvoll
Heinrich Peuckmann: Der Schimmer in der Schwärze. Novelle. Kulturmaschinen Verlag, Freiburg 2022, kart., 106 S., € 12,00, ISBN 978-3967632293