Förderstipendium Neustart-Paket Freie Kunst an Sebastian Seidel
Lyrik, Comics und Romane: Am 28. September 2022 wurden in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 22 Schriftstellerinnen und Schriftsteller von Kunstminister Markus Blume mit den Förder- und Arbeitsstipendien des Freistaates Bayern ausgezeichnet. Unter den geförderten Publikationsvorhaben finden sich Lyrik-, Erzähl- und Comicbände ebenso wie die Geschichte einer potenziellen Amour fou sowie eine im 19. Jahrhundert angesiedelte gesellschaftskritische „biofiction“. Das Literaturportal Bayern stellt in den kommenden 11 Wochen jeweils zwei der Preisträgerinnen und Preisträger mit einem Porträt und einem Textauszug vor.
*
Dr. Sebastian Seidel, 1971 in Ulm geboren, promovierte über Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil an der Universität Augsburg und der State University of NY. Er arbeitet als Dramatiker, Regisseur und Theaterleiter, außerdem als Lehrbeauftragter der Universität Augsburg, als Theaterberater des Bezirks Schwaben und als Bundes-Delegierter des Verbandes „Freie Darstellende Künste in Bayern“. Zusammen mit seiner Frau Anne Schuester leitet er das 1996 von ihm gegründete Sensemble Theater Augsburg, eine freie Bühne für zeitgenössische Dramatik. Er erhielt mehrere Auszeichnungen, u.a. das Paul-Maar-Stipendium sowie den Kunstförderpreis, die Ehrenmedaille und den Zukunftspreis der Stadt Augsburg. Seine Theaterstücke werden international gespielt (u.a. USA, Türkei, Ukraine, Kroatien, Schweiz, Österreich, Italien). 2022 wurde er mit Wandernde Dämonen zum Irseer Pegasus eingeladen. Zuletzt erschienen sind Klavierkind (MaroVerlag, 2017), Heute Hiasl (MaroVerlag, 2019) und Ruiniert Euch! (Starfruit Publications, 2021).
Auszug aus Wandernde Dämonen (Romanvorhaben)
HELLE LEBT
I.
Diese Geschichte könnte viele Anfänge haben. Helle starb am Freitag, 4. Juni 1937, morgens um 5 Uhr durch das Fallbeil. Mit einundzwanzig Jahren. Im Namen des deutschen Volkes. Immer Euer Helmut. Das wäre ein Aufmerksamkeit erregender Beginn. Ein möglicher von vielen. Strafanstalt Plötzensee. Davon habe ich geträumt. Schon oft. Ohne mich gegen diese nächtlichen Bilder wehren zu können. Einmal roch es entsetzlich. Am Morgen bekam ich den Geruch nicht aus der Nase. Die Hinrichtung eines noch jungen Menschen. Dazu nicht irgendeines Studenten, sondern eines bündisch motivierten Widerstandskämpfers, eines sogenannten Hochverräters, der einen Bombenanschlag auf das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg am 24. Dezember 1936 ausführen sollte. Ohne aber dabei jemanden verletzen zu wollen. Das ist bewiesen. Eine von vielen Tatsachen. Aber ansonsten? Fast alles um diese oder jene Fakten herum ist Fiktion. Halb Wahrheit, halb Legende. In meinem Denken, in meinen Träumen, in meinem gesamten Bewusstsein, früh ausgelöst durch mündliche Erzählungen. Manches auch wortwörtlich nachzulesen. In vielerlei authentischen Quellen, mit durchaus unterschiedlichen Sichtweisen, vielfältigen Streitpunkten. Eine schwierige Geschichte, deren tausend mögliche Anfänge bislang kein Ende gefunden haben, wahrscheinlich nie ein Abschluss finden werden, die immer gegenwärtig bleibt, mich seit Kindheitstagen bedrängt.
Helle lebt. Wie alles, worüber wir schreiben. Meine Träume zeigen es, sind zu real. Trotzdem unwirklich. Grausam. Bedrückend. Traumatisch. Faszinierend. Allerkleinste Details in Nahaufnahme. Ein Schweißtropfen, der langsam das Gesicht herunterrinnt, dann ins Bodenlose fällt. Wie von einer Kamera gefilmt. In Zeitlupe. Mein Gehirn sucht nach Möglichkeiten der Verarbeitung. Läuft heiß. Bekommt Fieber. Möchte diese nicht zu bewältigende Geschichte loswerden. Doch die Erfindung hört niemals auf, hält Vergangenes am Leben, prägt die Gegenwart. Meine nachts sehr oft. Bin jetzt ich an der Reihe? Ich schrecke auf. Das Bettlaken ist feucht, die mit bunten Blumen übersäte Schlafanzughose von Urin getränkt. Mein Kindergeschrei erschallt im Reihenhaus, in die Schlafzimmer der Geschwister, durch die dünnen Wände zu den Nachbarn rechts und links. Alle können es hören. Mein Körper wehrt sich, treibt eitle Spielchen mit mir. Heute mit anderen Mitteln als damals, als ich noch nicht wusste, dass ich in einer anderen Zeit lebte, ohne den Mut zu einem Anschlag zu benötigen, ohne der Gefahr einer Hinrichtung ausgesetzt zu sein.
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Lyrik, Comics und Romane: Am 28. September 2022 wurden in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 22 Schriftstellerinnen und Schriftsteller von Kunstminister Markus Blume mit den Förder- und Arbeitsstipendien des Freistaates Bayern ausgezeichnet. Unter den geförderten Publikationsvorhaben finden sich Lyrik-, Erzähl- und Comicbände ebenso wie die Geschichte einer potenziellen Amour fou sowie eine im 19. Jahrhundert angesiedelte gesellschaftskritische „biofiction“. Das Literaturportal Bayern stellt in den kommenden 11 Wochen jeweils zwei der Preisträgerinnen und Preisträger mit einem Porträt und einem Textauszug vor.
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Dr. Sebastian Seidel, 1971 in Ulm geboren, promovierte über Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil an der Universität Augsburg und der State University of NY. Er arbeitet als Dramatiker, Regisseur und Theaterleiter, außerdem als Lehrbeauftragter der Universität Augsburg, als Theaterberater des Bezirks Schwaben und als Bundes-Delegierter des Verbandes „Freie Darstellende Künste in Bayern“. Zusammen mit seiner Frau Anne Schuester leitet er das 1996 von ihm gegründete Sensemble Theater Augsburg, eine freie Bühne für zeitgenössische Dramatik. Er erhielt mehrere Auszeichnungen, u.a. das Paul-Maar-Stipendium sowie den Kunstförderpreis, die Ehrenmedaille und den Zukunftspreis der Stadt Augsburg. Seine Theaterstücke werden international gespielt (u.a. USA, Türkei, Ukraine, Kroatien, Schweiz, Österreich, Italien). 2022 wurde er mit Wandernde Dämonen zum Irseer Pegasus eingeladen. Zuletzt erschienen sind Klavierkind (MaroVerlag, 2017), Heute Hiasl (MaroVerlag, 2019) und Ruiniert Euch! (Starfruit Publications, 2021).
Auszug aus Wandernde Dämonen (Romanvorhaben)
HELLE LEBT
I.
Diese Geschichte könnte viele Anfänge haben. Helle starb am Freitag, 4. Juni 1937, morgens um 5 Uhr durch das Fallbeil. Mit einundzwanzig Jahren. Im Namen des deutschen Volkes. Immer Euer Helmut. Das wäre ein Aufmerksamkeit erregender Beginn. Ein möglicher von vielen. Strafanstalt Plötzensee. Davon habe ich geträumt. Schon oft. Ohne mich gegen diese nächtlichen Bilder wehren zu können. Einmal roch es entsetzlich. Am Morgen bekam ich den Geruch nicht aus der Nase. Die Hinrichtung eines noch jungen Menschen. Dazu nicht irgendeines Studenten, sondern eines bündisch motivierten Widerstandskämpfers, eines sogenannten Hochverräters, der einen Bombenanschlag auf das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg am 24. Dezember 1936 ausführen sollte. Ohne aber dabei jemanden verletzen zu wollen. Das ist bewiesen. Eine von vielen Tatsachen. Aber ansonsten? Fast alles um diese oder jene Fakten herum ist Fiktion. Halb Wahrheit, halb Legende. In meinem Denken, in meinen Träumen, in meinem gesamten Bewusstsein, früh ausgelöst durch mündliche Erzählungen. Manches auch wortwörtlich nachzulesen. In vielerlei authentischen Quellen, mit durchaus unterschiedlichen Sichtweisen, vielfältigen Streitpunkten. Eine schwierige Geschichte, deren tausend mögliche Anfänge bislang kein Ende gefunden haben, wahrscheinlich nie ein Abschluss finden werden, die immer gegenwärtig bleibt, mich seit Kindheitstagen bedrängt.
Helle lebt. Wie alles, worüber wir schreiben. Meine Träume zeigen es, sind zu real. Trotzdem unwirklich. Grausam. Bedrückend. Traumatisch. Faszinierend. Allerkleinste Details in Nahaufnahme. Ein Schweißtropfen, der langsam das Gesicht herunterrinnt, dann ins Bodenlose fällt. Wie von einer Kamera gefilmt. In Zeitlupe. Mein Gehirn sucht nach Möglichkeiten der Verarbeitung. Läuft heiß. Bekommt Fieber. Möchte diese nicht zu bewältigende Geschichte loswerden. Doch die Erfindung hört niemals auf, hält Vergangenes am Leben, prägt die Gegenwart. Meine nachts sehr oft. Bin jetzt ich an der Reihe? Ich schrecke auf. Das Bettlaken ist feucht, die mit bunten Blumen übersäte Schlafanzughose von Urin getränkt. Mein Kindergeschrei erschallt im Reihenhaus, in die Schlafzimmer der Geschwister, durch die dünnen Wände zu den Nachbarn rechts und links. Alle können es hören. Mein Körper wehrt sich, treibt eitle Spielchen mit mir. Heute mit anderen Mitteln als damals, als ich noch nicht wusste, dass ich in einer anderen Zeit lebte, ohne den Mut zu einem Anschlag zu benötigen, ohne der Gefahr einer Hinrichtung ausgesetzt zu sein.