Zum 100. Todestag: Mori Ôgais Aufenthalt in München (8)
Am 9. Juli 1922, vor genau 100 Jahren, starb in Tôkyô in seinem Anwesen mit dem Namen Meerblick der Schriftsteller, Übersetzer, Arzt, Militär, Herausgeber, Generaldirektor der Kaiserlichen Museen und der Bibliothek sowie Vorsitzender der Japanischen Akademie der Künste Mori Rintarô. Rintarô (im Japanischen folgt der Vorname dem Nachnamen) ist besser bekannt unter seinem Dichternamen Ôgai, zu Deutsch „Möwenfern“.
In München hielt sich Mori Ôgai in den Jahren 1886 bis 1887 auf, während dieser Zeit konnte er sich der Oberaufsicht und Kontrolle der japanischen Botschaft entziehen. Er führte ein recht freies Studentenleben und kam zugleich in Kontakt mit Malern und Studenten der hiesigen Akademie der Künste. „Möwenfern in München“ – unter diesem Titel soll in den nächsten Wochen Ôgais Aufenthalt in der bayerischen Landeshauptstadt näher beleuchtet werden: Was hat er unternommen, und wo genau war er? Eine Reihe von Friedrich Ulf Röhrer-Ertl.
*
Gnadenreiche Stelle
Auch in dieser Woche hatte unser Herr Möwenfern viel zuviel zu tun, um ordentlich Tagebuch zu führen, aber wenigstens am Sonntag gab es was zu berichten: „Gemeinsam mit neun Medizinstudenten fuhr ich nach Andechs. Um 6 Uhr früh verließ ich das Haus. Mit dem Zug ging es dann nach Starnberg. [...] Von hier aus wanderten wir nach Andechs und kamen dabei durch vier oder fünf Dörfer. Am Straßenrand standen viele Christenkreuze.“
Eine fidele Gruppe muss es gewesen sein – und gut zu Fuß, denn auch Google Maps gibt für die Strecke rund drei Stunden an. Zwar ist der Ort Starnberg gewaltig gewachsen, aber nicht so sehr nach Westen hin, man durchquert immer noch einige Dörfer, bis man in Andechs angelangt ist. Freilich, der moderne Mensch ist bequemer geworden und nimmt lieber den kürzeren Weg von Herrsching aus – Bahnhof und Strecke wurden allerdings erst 1904 eröffnet, rund 18 Jahre nach Mori Ôgais Wanderung.
Dann endlich erreicht unsere Gruppe das Kloster, das von Ôgai, der es eigentlich besser wusste, als „Tempel“ bezeichnet wird, vielleicht um die Analogie zwischen dem eng bebauten Klosterberg und den oft genauso eng bebauten buddhistischen Tempelkomplexen seiner japanischen Heimat zu betonen. „Auf unseren Wunsch hin hat uns der Priester seine Schätze gezeigt. Danach haben wir im Bräustübel im Tempelinneren etwas getrunken. Der Priester heißt Jacob und leitet die Bräustube. Er ist wohlbeleibt und schwerfällig und hat Ähnlichkeit mit einem Schwein. [...] Ich [...] musste einfach darüber lachen.“
Dieser Bruder Jakob war durchaus eine Berühmtheit in Andechs. Frater Jakobus, eigentlich Jakobus Josephus Neubauer (1823-1886) war seit seiner Profess 1859 Mönch im Kloster Sankt Bonifaz, zu dem das Kloster Andechs seit der Gründung 1850 als Priorat gehört. In Andechs versah er lange das Amt des Braumeisters und das so eindrucksvoll, dass es auch schon Wilhelm Busch auffiel, der in seiner Frommen Helene bereits 1872 dichtete:
Hoch von gnadenreicher Stelle
Winkt die Schenke und Kapelle. –
Aus dem Tale zu der Höhe,
In dem seligen Gedränge
Andachtsvoller Christenmenge
Fühlt man froh des andern Nähe;
Denn hervor aus Herz und Munde,
Aus der Seele tiefstem Grunde
Haucht sich warm und innig an
Pilgerin und Pilgersmann. –
[...]
Gott sei Dank, jetzt ist man oben!
Und mit Preisen und mit Loben
Und mit Eifer und Bedacht
Wird das Nötige vollbracht.
Freudig eilt man nun zur Schenke,
Freudig greift man zum Getränke,
Welches schon seit langer Zeit
In des Klosters Einsamkeit
Ernstbesonnen, stillvertraut,
Bruder Jakob öfters braut.
Nicht zuletzt kennen viele das Antlitz Bruder Jakobs, hat es doch der mit ihm befreundete Genremaler Eduard von Grützner (1846-1925) oft gemalt, sei es als direktes Portrait oder als Vorbild für seine zahllosen Bilder, die idyllische, wohlberanzte Mönche beim romantischen Mönchsleben zeigen, je nach Geschmack als Zisterzienser, Benediktiner oder Franziskaner erhältlich.
Eduard von Grützner: Eine leichte Mahlzeit, Öl auf Holz, 1897
Unser Herr Möwenfern ahnt natürlich nichts von alledem, auch sein Vergleich des Frater Jakob mit einem Schwein wollen wir einmal überlesen. Denn sein Lachen hat auch einen anderen, sehr irdischen Grund.
Wir waren alle ziemlich betrunken. Auf dem Rückweg mieteten wir eine Droschke, einen sogenannten Leitwagen. Emmerich schlang sich eine Decke um den Leib, setzte einen spitzen Hut auf, stülpte einen alten [Hut] auf eine lange spitze Stange, stellte diese im Wagen auf und nahm auf dem Kutschbock Platz. Verrückte Lieder singend und uns dabei köstlich amüsierend kehrten wir wieder nach München zurück.
Emmerich, das war Rudolf Emmerich (1852-1914), ein Bakteriologe und späterer Assistent Pettenkofers. Die Situation auf dem Leit[er?]wagen, wenn sich neun betrunkene Studenten und ein (prospektiver) Assi nach Hause kutschieren lassen, die dürfte nicht so viel anders gewesen sein als heute noch abends in der S-Bahn, auf dem Weg von Herrsching nach München, im Anschluss an eine Exkursion rein wissenschaftlichen Charakters.
Zum 100. Todestag: Mori Ôgais Aufenthalt in München (8)>
Am 9. Juli 1922, vor genau 100 Jahren, starb in Tôkyô in seinem Anwesen mit dem Namen Meerblick der Schriftsteller, Übersetzer, Arzt, Militär, Herausgeber, Generaldirektor der Kaiserlichen Museen und der Bibliothek sowie Vorsitzender der Japanischen Akademie der Künste Mori Rintarô. Rintarô (im Japanischen folgt der Vorname dem Nachnamen) ist besser bekannt unter seinem Dichternamen Ôgai, zu Deutsch „Möwenfern“.
In München hielt sich Mori Ôgai in den Jahren 1886 bis 1887 auf, während dieser Zeit konnte er sich der Oberaufsicht und Kontrolle der japanischen Botschaft entziehen. Er führte ein recht freies Studentenleben und kam zugleich in Kontakt mit Malern und Studenten der hiesigen Akademie der Künste. „Möwenfern in München“ – unter diesem Titel soll in den nächsten Wochen Ôgais Aufenthalt in der bayerischen Landeshauptstadt näher beleuchtet werden: Was hat er unternommen, und wo genau war er? Eine Reihe von Friedrich Ulf Röhrer-Ertl.
*
Gnadenreiche Stelle
Auch in dieser Woche hatte unser Herr Möwenfern viel zuviel zu tun, um ordentlich Tagebuch zu führen, aber wenigstens am Sonntag gab es was zu berichten: „Gemeinsam mit neun Medizinstudenten fuhr ich nach Andechs. Um 6 Uhr früh verließ ich das Haus. Mit dem Zug ging es dann nach Starnberg. [...] Von hier aus wanderten wir nach Andechs und kamen dabei durch vier oder fünf Dörfer. Am Straßenrand standen viele Christenkreuze.“
Eine fidele Gruppe muss es gewesen sein – und gut zu Fuß, denn auch Google Maps gibt für die Strecke rund drei Stunden an. Zwar ist der Ort Starnberg gewaltig gewachsen, aber nicht so sehr nach Westen hin, man durchquert immer noch einige Dörfer, bis man in Andechs angelangt ist. Freilich, der moderne Mensch ist bequemer geworden und nimmt lieber den kürzeren Weg von Herrsching aus – Bahnhof und Strecke wurden allerdings erst 1904 eröffnet, rund 18 Jahre nach Mori Ôgais Wanderung.
Dann endlich erreicht unsere Gruppe das Kloster, das von Ôgai, der es eigentlich besser wusste, als „Tempel“ bezeichnet wird, vielleicht um die Analogie zwischen dem eng bebauten Klosterberg und den oft genauso eng bebauten buddhistischen Tempelkomplexen seiner japanischen Heimat zu betonen. „Auf unseren Wunsch hin hat uns der Priester seine Schätze gezeigt. Danach haben wir im Bräustübel im Tempelinneren etwas getrunken. Der Priester heißt Jacob und leitet die Bräustube. Er ist wohlbeleibt und schwerfällig und hat Ähnlichkeit mit einem Schwein. [...] Ich [...] musste einfach darüber lachen.“
Dieser Bruder Jakob war durchaus eine Berühmtheit in Andechs. Frater Jakobus, eigentlich Jakobus Josephus Neubauer (1823-1886) war seit seiner Profess 1859 Mönch im Kloster Sankt Bonifaz, zu dem das Kloster Andechs seit der Gründung 1850 als Priorat gehört. In Andechs versah er lange das Amt des Braumeisters und das so eindrucksvoll, dass es auch schon Wilhelm Busch auffiel, der in seiner Frommen Helene bereits 1872 dichtete:
Hoch von gnadenreicher Stelle
Winkt die Schenke und Kapelle. –
Aus dem Tale zu der Höhe,
In dem seligen Gedränge
Andachtsvoller Christenmenge
Fühlt man froh des andern Nähe;
Denn hervor aus Herz und Munde,
Aus der Seele tiefstem Grunde
Haucht sich warm und innig an
Pilgerin und Pilgersmann. –
[...]
Gott sei Dank, jetzt ist man oben!
Und mit Preisen und mit Loben
Und mit Eifer und Bedacht
Wird das Nötige vollbracht.
Freudig eilt man nun zur Schenke,
Freudig greift man zum Getränke,
Welches schon seit langer Zeit
In des Klosters Einsamkeit
Ernstbesonnen, stillvertraut,
Bruder Jakob öfters braut.
Nicht zuletzt kennen viele das Antlitz Bruder Jakobs, hat es doch der mit ihm befreundete Genremaler Eduard von Grützner (1846-1925) oft gemalt, sei es als direktes Portrait oder als Vorbild für seine zahllosen Bilder, die idyllische, wohlberanzte Mönche beim romantischen Mönchsleben zeigen, je nach Geschmack als Zisterzienser, Benediktiner oder Franziskaner erhältlich.
Eduard von Grützner: Eine leichte Mahlzeit, Öl auf Holz, 1897
Unser Herr Möwenfern ahnt natürlich nichts von alledem, auch sein Vergleich des Frater Jakob mit einem Schwein wollen wir einmal überlesen. Denn sein Lachen hat auch einen anderen, sehr irdischen Grund.
Wir waren alle ziemlich betrunken. Auf dem Rückweg mieteten wir eine Droschke, einen sogenannten Leitwagen. Emmerich schlang sich eine Decke um den Leib, setzte einen spitzen Hut auf, stülpte einen alten [Hut] auf eine lange spitze Stange, stellte diese im Wagen auf und nahm auf dem Kutschbock Platz. Verrückte Lieder singend und uns dabei köstlich amüsierend kehrten wir wieder nach München zurück.
Emmerich, das war Rudolf Emmerich (1852-1914), ein Bakteriologe und späterer Assistent Pettenkofers. Die Situation auf dem Leit[er?]wagen, wenn sich neun betrunkene Studenten und ein (prospektiver) Assi nach Hause kutschieren lassen, die dürfte nicht so viel anders gewesen sein als heute noch abends in der S-Bahn, auf dem Weg von Herrsching nach München, im Anschluss an eine Exkursion rein wissenschaftlichen Charakters.